Leseprobe

A u f d e r a n d e r e n S e i t e d e r B r ü c k e K y l l i k k i Z a c h a r i a s 26 Am 26. August 1931 erwachte der Wortführer der Surrealisten André Breton um drei Uhr nachts aus einem Traum, mit dessen Niederschrift er sofort begann: »Eine alte Frau im Zustand heftiger Erregung hält lauernd Ausschau, nicht weit von der Metrostation Villiers (die eher der Station Rome ähnelt).«1 Was folgt, ist eine klassische, erotisch konnotierte Traumgeschichte, deren Bestandteile Breton wenig später unter anderem mit Hilfe der Traumdeutung von Sigmund Freud interpretiert. Wer hier am Eingang zur städtischen Unterwelt steht, ist Bretons frühere Geliebte Nadja, die er im Stich gelassen hatte, als sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.2 So nimmt es nicht Wunder, dass wenig später auch die Eltern als höhere moralische Instanz auftreten, gegen die sich der Träumende wehrt. Doch dann nimmt der Traum eine überraschende Wendung: Plötzlich tritt ein Kind auf, das ihm in einem Laden Krawatten zeigt. Breton findet eine »›Nosferatu‹-Krawatte«, die er folgendermaßen beschreibt: »Sie ist granatrot, an ihren Enden ist in Weiß das Gesicht Nosferatus zu sehen, wenn sie gebunden ist, sogar zweimal. Dies Gesicht ist zugleich der einfache Umriß der Karte Frankreichs, wobei die Ostgrenze, die, nur andeutungsweise mit grünen und blauen Strichen gezogen, mich eher an Flüsse denken läßt, überraschenderweise die geschminkten Züge des Vampirs ergibt.«3 Dass die Krawatte im Sinne Freuds den Penis symbolisiert, bemerkt Breton natürlich als erstes,4 doch wie kommt er auf Nosferatu und wieso hat dessen Gesicht die Umrisse von Frankreich? Kurz zuvor, erinnert sich Breton, hatte er einen Herrn »mit völlig erloschenem Blick«5 gesehen, der mit ihm im selben Speisesaal zu Abend aß. Das Gesicht dieser Nosferatu ähnlichen Gestalt habe wie eine »verwischte Zeichnung« (Hervorhebung Bretons) gewirkt, und ähnlich verwischt sind auch die weiteren Assoziationen, mit denen er sich die Entstehung seines Traumbildes zu erklären sucht. Die Erinnerung an einen »typisch reaktionären« Philosophieprofessor wird wach, die »blasse« Figur des Chefs eines Laboratoriums im Institut Pasteur, die behaarten Hörner einer Giraffe, von denen er auf der Rückseite eines Schulheftes gelesen hatte und die ihn an die Ohren des Vampirs erinnern, oder der Anblick »gewisser Landschaften der Basses Alpes« – Reminiszenzen, die schließlich in einem gern von ihm zitierten Zwischentitel aus Murnaus Nosferatu kulminieren, den er »niemals ohne eine Mischung aus Freude und Entsetzen« auf der Leinwand habe aufleuchten sehen: »Als er auf der anderen Seite der Brücke war, kamen die Gespenster ihm entgegen.«6 Wobei für Breton die Brücke – ähnlich wie zuvor die Krawatte – eines der »eindeutigsten Sexualsymbole« ist.7 Dass es sich bei dieser im zweiten Teil des Traumes erscheinenden Figur des Nosferatu, die Breton der weiblichen Hauptfigur im ersten Traumteil entgegensetzt, letztendlich um eine Art Selbstporträt handelt, wird im darauffolgenden Interpretationsschritt deutlich: Um zu erklären, warum das auf der Krawatte zweifach erscheinende Gesicht Nosferatus den Umrissen der Karte Frankreichs ähnelt (hinter dessen Ostgrenze, die ihn an Flüsse denken lässt, Deutschland liegt), besinnt Breton sich einer weiteren Begegnung, diesmal mit einer im Stil deutscher Trachten gekleideten Frau. Als sie an der Biegung einer kleinen Brücke (!) aus seinem Gesichtsfeld verschwindet, nachdem er mit dem Gedanken gespielt hatte, sie anzusprechen, ist er erleichtert. Womöglich wäre er in die Verlegenheit geraten, sich auf Deutsch mit ihr zu unterhalten, einer Sprache, die er, anders als die auf seinem Tisch liegenden Bücher suggerierten, nur zu lesen, aber schlecht zu sprechen wisse. So gesehen, folgert Breton, habe der Traum ihm den Wunsch erfüllt, »jeden Anlaß zu patriotisch interpretierbaren Mißverständnissen zu vermeiden, zwischen Frankreich, wo ich lebe, und jenem wunderbaren Land, eitel Denken und Licht, das in einem Jahrhundert Kant, Hegel, Feuerbach und Marx hervorgebracht hat«. Denn: »Die Karte mit ihrer ausgesprochen undeutlichen Markierung der Flüsse an der Ostgrenze kann hier als erneute Aufforderung angesehen werden, über die Brücke zu gehen [Hervorhebung Bretons].«8 Nun möchte man meinen, dass der Kopf dieser Murnau’schen Filmgestalt, die Breton mit einer im Stil deutscher Trachten gekleideten Frau und deutschen Philosophen wie Kant, Hegel oder Marx assoziiert, auch die Umrisse einer Karte Deutschlands haben sollte. Stattdessen erhielt sie die Umrisse des Landes, in dem er selbst lebte. Getreu dem Prinzip der »kommunizierenden Röhren«, demzufolge sich das, was scheinbar getrennt voneinander existiert, dennoch aufeinander auswirkt, verbinden sich in der Gestalt Nosferatus Eigenschaften, die der Surrealist Breton auch für sich und den Surrealismus in Anspruch nahm, nämlich als fortwährende Brückengänger zwischen den Welten zu wechseln und somit die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen (was nicht zuletzt auch Bretons Deutung der Brücke als Sexualsymbol entspricht).9 In einem kurz zuvor entstandenen Exlibris, von Salvador Dalí mit Hilfe der von ihm entwickelten »paranoisch-kritischen Methode« für André Breton geschaffen, verdichten sich die Elemente eines vergleichbaren Brückengangs zu einem weiteren surrealistischen (Selbst)Porträt, an das sich Breton ebenfalls im Zusammenhang mit Nosferatu erinnert.10 Die nur 4×6,5 cm messende Grafik stellt Breton, der wie Dalí unter Myrmecophobie litt,11 als Ameisenbären dar. Mit seiner länglichen, überallhin gelangenden Schnauze und seiner klebrigen Zunge vermag das ansonsten gutmütige Tier die verhassten Insekten zu vertilgen. Zugleich ähnelt es dem rüsselartigen Wesen, als das Albin Grau in seiner Werbekampagne für Nosferatu den blutsau-

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