Leseprobe

159 reite Tore, hohe Türen führen in die wie ein Himmelszelt gewölbten Gemächer des Grafen Orlok. In diesem neuen, dunklen Kosmos wird Hutter mit einem üppigen Mahl empfangen, über das er sich freudig beugt – während eine Standuhr im Hintergrund, auf der ein Gerippe an die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins gemahnt, die Mitternacht ankündigt. Am nächsten Morgen wacht Hutter in einer sonderbaren Pose auf. Halb tot, halb lebendig – in der Nacht hat der Vampir erstmals sein Blut gesaugt – hängt er diagonal auf einem Stuhl. Diese Einstellung erinnert an ein Blatt aus Francisco de Goyas Caprichos von 1799, das die »Tantalus-Qualen« eines alternden Mannes angesichts seiner ohnmächtig dahingestreckten jungen Frau zeigt. Ähnlich schräg, zwischen Schlafen und Wachen, rückt wenig später auch der in seinem Sarg liegende Graf Orlok (Nosferatu) ins Bild, den Hutter im Keller des Schlosses findet. Eine Zeit der »Schlafzustände« (der Begriff stammt aus der Frühzeit des Surrealismus und bezeichnet die hypnotischen Experimente, mit denen das Unterbewusstsein zutage gefördert werden sollte) erlebt auch Hutters Frau Ellen, nachtwandelnd im fernen Wisborg. »Der erotisch-okkultistisch-spiritistisch-metaphysische Film«, wie es in einer zeitgenössischen Rezension heißt, erklärt Nosferatu und den später dem Wahn verfallenden Häusermakler Knock zu den Gegenspielern einer scheinbar intakten Welt. Anders als Hutter und seine Frau kommunizieren sie nicht durch Ahnung und Empathie, sondern durch geheimnisvolle schriftliche Zeichen. Manche davon erinnern an die Kabbala, auch ein Swastika ist kurz zu erkennen. B

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