Leseprobe

N o s f e r a t u s S c h a t t e n F r a n k S c h m i d t 58 In den vergangenen 100 Jahren haben sich Vampire als dominante Akteure des Horrorkinos etabliert. Ihr Siegeszug begann 1922 mit Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, jener ersten, noch unautorisierten Adaption von Bram Stokers Roman Dracula.1 Seitdem ist es keinem anderen Filmmonster gelungen, es mit der Popularität der Blutsauger aufzunehmen und das Böse in gleichermaßen anziehender Weise zu verkörpern. Als ein Erfolgsgarant des Vampirfilms kann die Behauptung des Rationalen im Irrationalen gelten. Insbesondere das Talent der Kreaturen zum Gestaltwandel ist zum Zeichen ihrer komplexen Identität geworden. Erlaubt er den Wesen einerseits, sich unerkannt unter den Menschen zu bewegen, bildet er andererseits die Voraussetzung einer Animalität, die in Raubtieren und parasitären Lebensformen eine Entsprechung findet. Mit der Anpassungsfähigkeit der Geschöpfe haben auch die filmischen Beiträge kontinuierlich mit dem Zeitgeist Schritt gehalten. Die vielfach variierte Anordnung, in der Vampire als anachronistische Eindringlinge auf eine zunächst ahnungslose Umwelt treffen, hat dazu beigetragen, dass sich Vampirfilme in zahlreichen Fällen als Kommentar zur eigenen Entstehungszeit lesen lassen. Mobilisierte der von Max Schreck gespielte Graf Orlok in Nosferatu noch primär xenophobe Ängste,2 setzte sich mit den Dracula-Darstellern Bela Lugosi und Christopher Lee das Bild vordergründig eleganter Verführer durch, die ihre weiblichen Opfer mit hypnotischen Praktiken gefügig machen.3 Die damit verbundenen Rollenzuweisungen sind längst einem breiten Spektrum an Handlungsoptionen gewichen. Folgerichtig können Vampire heute kapitalismuskritischen Positionen ebenso wie Coming-ofAge-Phantasien Ausdruck verleihen, leiden einige von ihnen, wie ihre Opfer, an Neurosen, Depressionen oder Schuldgefühlen, was sie zu Moralisten und ›Vegetariern‹ werden lässt.4 All diese Veränderungen finden vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Referenzialität statt, ohne die das Subgenre nicht zu denken ist. Im Sinne ewiger Wiederkehr bieten der vertraute Motivkomplex und feststehende Regeln dabei stets eine gewisse Orientierung. Murnaus Film stellt zweifelsohne den Ausgangspunkt dieser Entwicklung dar. Exemplarisch hierfür steht die Erfindung des zersetzenden Sonnenlichts, das erst seit Nosferatu eine existenzielle Bedrohung für die Nachtschwärmer darstellt, fortan aber zur verlässlichen Größe geworden ist. In zahlreichen Fällen haben Filmschaffende dem Horrorfilmklassiker Tribut gezollt oder von dessen innovativer Bildlichkeit profitiert. Nicht in allen Fällen orientieren sich die betreffenden Werke so nachvollziehbar am Original wie Werner Herzogs 1979 entstandene Hommage oder die alternative Entstehungsgeschichte Shadow of the Vampire.5 Die folgenden Beobachtungen haben das Ziel, der anhaltenden Faszination von Nosferatu anhand ausgewählter Beispiele nachzuspüren und hierüber zugleich Entwicklungen, Konstanten und Brüche innerhalb der Geschichte des Vampirfilms aufzuzeigen. ONCE UPON A TIME INBERLIN Zunächst jedoch schien Nosferatu, wie seinen Schöpfern, kein langes Nachleben beschieden zu sein. Noch am 19. März 1922, wenige Tage nach der Uraufführung des Films in Berlin, kündigte die Zeitschrift Der Kinematograph das nächste Projekt der verantwortlichen PranaFilmgesellschaft an: Non mortuus sollte auf Edward Bulwer-Lyttons spirituellem Entwicklungsroman Zanoni basieren, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ein Wiedergänger steht.6 Für die Ausstattung war erneut der »Maler-Architekt«7 Albin Grau vorgesehen. Zur Ausführung kam es indes nicht mehr. Die unverhältnismäßige Werbekampagne und der nicht wie erhofft eingetretene finanzielle Erfolg von Nosferatu führten schon im Juli 1922 zum Konkurs der Produktionsfirma.8 Kurze Zeit später geriet auch die Unsterblichkeit des einzigen Prana-Sprosses in Gefahr. Ein von der Witwe Bram Stokers angestrengter Urheberrechtsprozess endete 1925 mit dem Urteil, alle im Umlauf befindlichen Kopien zu vernichten.9 Dazu kam es glücklicherweise nicht, und bereits 1930 erlebte Graf Orlok eine Auferstehung: Als Die zwölfte Stunde – Eine Nacht des Grauens brachte Waldemar Roger den Film nachvertont, umgeschnitten und um zusätzliche Szenen ergänzt wieder in Umlauf. Der Vampir hörte darin auf den Namen Wolkoff.10 Ein Jahr zuvor war Nosferatu in amerikanische Kinos gelangt. Eine zeitgenössische Kritik legt nahe, dass das stumme Werk dort, nach der Einführung des Tonfilms, keine Hutters (Gustav von Wangenheim) Gang auf die ›andere Seite‹, Filmstill, 1. Akt, 00:22:23

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