Leseprobe

37 lichkeiten bemächtigen. Als der Vampir zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint, kommt er aus der Dunkelheit eines Torbogens hervor. Langsam wie eine Spinne schreitet er voran und hält seine krallenartigen Hände verborgen. Eine Kopfbedeckung verdeckt seine Fledermausohren. Er verheimlicht seine wahre Identität. Doch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erahnen wir die Gefahr, die von ihm ausgeht. Dergestalt wird im Film ein Wechsel zwischen der Person des Grafen Orlok und einer gleichsam transpersonalen, kollektiven Identität des Bösen entworfen. Mehrfach sehen wir Nosferatu und anschließend Ratten, die aus dem Inneren des Schiffes hervorkommen und ans Ufer laufen, um den Ekel des Betrachters zu provozieren. Einmal wird er gar zur Hyäne, die nachts durch die Wälder streift.20 Nosferatu ist aber auch eine filmische Gestalt. Um seine geisterhafte Identität zu kennzeichnen, wird bei einer Szene im Inneren des Schiffes eine Doppelbelichtung genutzt, schemenhaft tritt er in Erscheinung, und die Gefahr für den erkrankten Seemann wird offenbar. Nosferatus Auftreten kann aber auch mit einem Wechsel der Geschwindigkeit verbunden sein. Im Film wird daher die Möglichkeit des Zeitraffers gezielt genutzt, um diesen Eindruck zu erwecken. Der Vampir bewegt sich rasend schnell oder provozierend langsam.21 Er ist körperlich und doch nur Schatten – eine filmische Gestalt, deren Erscheinung an die Kinoprojektion gebunden ist und die so zur Allegorie des Kinos avanciert. HYPNOTISCHE BILDER Doch welcher ästhetischen Mittel der Inszenierung haben sich Galeen, Grau und Murnau zusätzlich bedient, um eine derart intensive visuelle Prägnanz zu erzielen? Wieso wirken die Filmbilder auf uns heute noch hypnotisch? Zunächst einmal ist es dem Filmteam gelungen, die Einstellungen mit dem Vampir so zu gestalten, dass er zu einer flächenhaften Erscheinung wird. Mit seiner Anwesenheit geht die Negation des Raumes einher, und die Bilder gewinnen eine klaustrophobische Wirkung. In zahlreichen Szenen steht Nosferatu vor Türen und Toren (vgl. S. 158ff).22 Er versperrt den Weg hinaus. Der zur Flucht nötige Raum wird dem Zuschauer vorenthalten: Wir gelangen nicht an dem Vampir vorbei. Es ist, als wäre er omnipräsent, wie in einem Traum ist er immer schon da. Bereits in einer der ersten Szenen findet sich eine Andeutung auf das kalkulierte Spiel von Raum und Fläche. Als Hutter zu Ellen kommt und ihr Blumen mitbringt, umfasst sie zunächst zärtlich den Strauß, um den jungen Mann dann jedoch zu tadeln, wenn es im Zwischentitel heißt: »Die schönen Blumen. Warum hast Du sie getötet?« Da der Innenraum der Szene durch zahlreiche Bilder und Scherenschnitte bestimmt wird, erscheinen diese nun wie eine Negation des Lebendigen. Die Überführung des Raumes in die Fläche und die Stillstellung des Lebendigen im Schatten werden zur Todesmetapher. Dass dem Schatten eine lebensverneinende Eigenschaft zukommt, macht auch die anonyme Pestchronik deutlich, mit der der Film beginnt: »Nosferatu. Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtliche Ruf eines Totenvogels. Hüte dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten [Hervorhebung J. M.] [...].« Noch in einem späteren Zwischentitel ist von Nosferatus »Schatten« die Rede, der uns wie ein Alb mit grausigen Träumen beschwere. Folgerichtig ist in zahlreichen Sequenzen die Schattenwerdung einer Person, ihre Transformation von der Drei- in die Zweidimensionalität von zentraler Bedeutung und erzählt von der Gefahr, die vom Bösen ausgeht. Als Hutter nach dem ersten nächtlichen Treffen mit dem Vampir am nächsten Morgen auftritt, löst sich sein Schatten bedrohlich, als begänne er ein Eigenleben zu führen. Und als der junge Mann durch den sonnendurchfluteten Garten des Schlosses läuft und ein Tor erreicht, wird er plötzlich zu einer schwarzen Silhouette, so als hätte das Böse von ihm Besitz ergriffen. Der Kampf zwischen Gut und Böse findet im Gegensatz von Licht und Schatten eine Entsprechung. Immer wieder werden die Orte des Bösen im Gegenlicht dargestellt, und als der Vampir das Schiff in Besitz genommen hat, hebt es sich dunkel und unheilvoll vom Horizont ab. Dass das frühe Kino den Eindruck erwecken konnte, eine lebensverneinende Kraft zu sein, zeigt ein Text von Maxim Gorki aus dem Jahr 1896. Er spricht vom Film als einem »Reich der Schatten«, einer Welt des Grafischen und Gespenstischen. Sein kurzer Text enthält die Feststellung, dass die Welt im Kino wie durch einen Fluch zum Schweigen gebracht und ihr alle Farben des Lebens genommen würden.23 Für die Bildwirkung von Nosferatu sei sodann der magische Rhythmus des Werkes betont, der sich dem permanenten Öffnen und Schließen der Irisblende verdankt, wie bereits im Drehbuch vermerkt wurde.24 Auf diese Weise gewinnt die Erzählung eine traumhafte, wenn nicht gar somnambule Qualität.25 Es ist, als schliefen wir ein, um im Traum zu erwachen. Mit dem permanenten Wechsel von Auf- und Abblenden geht eine Qualität einher, die uns einen Dämmerzustand suggeriert. Diese traumhafte Qualität der Filmbilder findet im Wechsel von Tag- und Nachtszenen sogar noch eine Steigerung.

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