Leseprobe

36 S p i n n e n n e t z u n d S c h a t t e n b i l d J ü r g e n M ü l l e r hebung J. M.], die ihr Opfer aussaugte.« In seinem Artikel weist Grau dem Drehbuchautor Galeen eine zentrale Bedeutung zu, wenn er schreibt, die Film-Gesellschaft habe ihm freie Hand gelassen, einen phantastischen Roman entsprechend den Anforderungen des Films umzuarbeiten. Mehr noch, der Drehbuchautor habe gemeinsam mit dem Regisseur die Vorarbeiten besprochen und den Filmaufnahmen zum großen Teil beigewohnt. Doch ebenso wichtig wie die genannten Sachinformationen, die die Crew und ihre Zusammenarbeit betreffen, ist der Hinweis auf die Spinne. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird gelenkt. Er wird angeleitet, nach diesem Motiv zu suchen. Bei dem nicht genannten phantastischen Roman handelt es sich um keinen geringeren als den 1897 erschienenen Briefroman Dracula des irischen Schriftstellers Bram Stoker.15 Im Text ist das Voranschreiten der Handlung an übermittelte Nachrichten, eingehende Telegramme, Briefe und Tagebucheintragungen gebunden, die bei den handelnden Personen ein- und ausgehen. Der Leser erfährt nie mehr als die Romanfiguren selbst. Diese Form der Rahmenerzählung übernahm Galeen für den Einsatz der Zwischentitel des Films, die fast durchweg aus Passagen aus Chroniken, Seiten alter Folianten, Logbüchern, Briefen oder Zeitungsmeldungen bestehen. Dem Zuschauer wird durch die Zwischentitel die Rolle eines Historikers zugewiesen, haben wir uns doch zu fragen, wie sich all das hat ereignen können. In eindringlichen Bildern erzählt Stokers Vampirroman Dracula von der Krise der Moderne und den Ängsten, die mit der Säkularisierung der Welt einhergehen. Aufschlussreich sind denn auch die wirkungsvoll eingesetzten christlichen Motive. Immer wieder erwähnt der Autor Rosenkränze, Weihwasser und Hostien, die von den handelnden Personen genutzt werden, um den Vampir zu bekämpfen. Der Kampf gegen das Monstrum gestaltet sich geradezu als Exorzismus. Als Dracula die zentrale weibliche Figur zur Vampirin macht, zwingt er sie, sein Blut zu trinken. Dabei werden in Stokers Erzählung Symbole einer katholischen Messfeier geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Triumphierend ruft der Vampir aus: »Du aber, [...] bist nun mein Eigen, Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut, bist meines gleichen, bist eine Zeitlang meine vortreffliche Weinkelter [...].«16 Nach dieser Bluthochzeit mit Dracula wird der jungen Frau schließlich von den Freunden eine Hostie auf die Stirn gelegt, die sich tief in ihr Fleisch brennt. Und letztlich sind es Pfähle und Jagdmesser, die den Vampiren brachial ins Herz gerammt werden und deren Ende bedeuten. Mag Stoker für das 19. Jahrhundert auch technisch avancierte Medien in Form von Schreibmaschinen oder Telegrammen inszenieren, die Abwehr des Bösen lässt sich nicht durch technischen Fortschritt lösen, vielmehr bedarf es für den Autor des christlichen Glaubens. Stokers Romanfigur Dracula wird für den Film traditionsbildend. Der Vampir stellt eine Inversionsfigur dar, die nach dem Prinzip der Umkehrung funktioniert, ist er doch tot und zugleich lebendig, flieht vor der Sonne und schläft tagsüber in Särgen, um nachts sein unheilvolles Treiben zu beginnen. Vor allem aber zeichnet er sich durch den Fluch negativer Unsterblichkeit aus. Weil Dracula nicht sterben kann, wird er auch nicht der Erlösung teilhaftig. Er ist heilsunfähig. Mehr noch, er beraubt seine Opfer ebenfalls des Heils. Seine Aversion gegen christliche Symbole und Sakramente spricht eine deutliche Sprache. In seiner negativen Unsterblichkeit, aber auch im Motiv der daraus resultierenden Ruhelosigkeit und Heilsunfähigkeit gleicht Dracula der Figur des Ewigen Juden Ahasver.17 Auch die weiblichen Vampire werden im Roman ins Negative gespiegelt. Sie ernähren sich von Kindern und rufen das Klischee vom Ritualmord wach. Die massive Umkehrung christlicher Überzeugungen erinnert daran, dass sich Stokers Vampirismus-Konzeption einem religiösen, antijüdischen Kontext verdankt.18 Auch für den Film Nosferatu spielt der Konflikt von Christentum und Vampirismus eine bedeutende Rolle. Schon mit einer der ersten Einstellungen wird dies deutlich, sehen wir doch über den Dachreiter einer Kirche hinweg auf das verträumte Städtchen Wisborg.19 Im Unterschied zu Stokers Roman, der mit einer spannenden Verfolgungsjagd und zahlreichen Kämpfen endet, hat Galeen seine Geschichte weitaus statischer entworfen. Aus dem technisch avancierten viktorianischen England werden wir in das gemütliche Deutschland der Biedermeierzeit verbracht. Zugleich änderte der Drehbuchautor nicht nur den Plot und die Figurenkonstellation, sondern auch die Gestalt des Blutsaugers. Aus dem virilen Dracula wird eine geisterhafte Figur. Mit dem Vampir Nosferatu ist es Galeen gelungen, eine hypnotische Gestalt zu entwerfen, deren Anblick uns lähmt und hilflos macht. Ist Dracula im Roman ein gerissenes Individuum, das seinen Opfern Blut aussaugt, wird Nosferatu im Film zum Überträger der Pest. In jeder Hafenstadt, in der das Schiff auf seiner Fahrt ankert, bricht die todbringende Seuche aus. Wenn der Vampir das Schiff nach seiner Ankunft in Wisborg verlässt, gehen zugleich Heerscharen von Ratten an Land. Als Nosferatu das deutsche Hafenstädtchen betritt, geht er an einem öffentlichen Brunnen vorbei, den er im gleichen Moment zu vergiften scheint. Der Vampir wird zum Sinnbild der Epidemie. Er ist eine Figur aus dem Jenseits, und seine Macht geht nicht von seinen physischen Kräften aus, ist er doch extrem hager, ja beinah zerbrechlich. Umso geheimnisvoller und unheimlicher erscheint die Kraft, mit der er den Willen der Menschen zu brechen vermag. Zudem hat Nosferatu keine feststehende Gestalt. Er kann die Identität zahlreicher Tiere auf sich vereinen und sich ihrer Mög-

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