Leseprobe

S p i n n e n n e t z u n d S c h a t t e n b i l d J ü r g e n M ü l l e r 34 Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Wolken und auf der glatten Oberfläche des Meeres. Nur noch wenige Augenblicke, dann ist es dunkel. Schnitt. Der Vampir Nosferatu, hager, kahlköpfig und mit fledermausartigen Ohren, lauert am Fenster und blickt stier in unsere Richtung. Das Mondlicht beleuchtet sein fahles Gesicht. Mit seinen krallenartigen Händen hält er die Sprossen des Fensters umklammert. Der Mund ist geöffnet und bringt spitze Schneidezähne zum Vorschein. Im Fenstergitter ähnelt der Vampir einer Spinne, die geduldig ihr Opfer beobachtet, bis es sich im Netz verfangen hat. Mit dieser Sequenz beginnt das Finale von Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirfilm Nosferatu, der am 4. März 1922 im Marmorsaal des Berliner Zoologischen Gartens uraufgeführt wurde. Murnaus Werk ist nicht nur ein Vampirfilm, sondern auch die Geschichte einer Verschworung, die über ein unschuldiges Liebespaar und eine kleine deutsche Hafenstadt hereinbricht. Trotz der Bedenken seiner Frau lässt sich der junge Angestellte Hutter von seinem dubiosen Chef, dem Häusermakler Knock, zu einer Geschäftsreise überreden, welche die Pest in seinen Heimatort Wisborg bringen und seine Ehefrau Ellen das Leben kosten wird. Ohne zu ahnen, welch böses Schicksal ihn erwartet, macht er sich auf den Weg nach Transsilvanien, wo er dem Grafen Orlok ein Haus in Wisborg verkaufen soll. Nach der Ankunft auf dessen Schloss ziert sich der unheimliche Gastgeber zunächst, den Vertrag zu unterzeichnen, willigt aber sofort ein, nachdem er ein Medaillon mit dem Porträt Ellens erblickt hat. Zu spät entdeckt Hutter, dass es sich bei Orlok um einen Vampir handelt, und wird zu dessen Opfer. So kann er die Abreise Nosferatus nicht mehr verhindern, der mit Sargen voll pestverseuchter Erde nach Wisborg aufbricht. Schon während der Schiffspassage erkrankt ein Seemann nach dem anderen, bis schließlich nur noch der todgeweihte Kapitän das Schiff auf Kurs hält. Nach der Ankunft des Schiffes breitet sich die Seuche unaufhaltsam in der Stadt aus. Am Ende ist es Ellen, die durch ihr Selbstopfer den Spuk beendet, indem sie den Vampir in ihr Schlafgemach lockt und ihn dazu bringt, bis zum Morgengrauen zu bleiben. Die Sonne vernichtet das Monstrum, und das Böse ist besiegt. Seit langem kommt Murnaus Nosferatu der Status eines Kultfilms zu, der zahlreiche Deutungen er- fahren hat.1 Dabei stand vor allem die Figur des Vampirs im Zentrum. Mit Blick auf den heraufziehenden Nationalsozialismus hat Siegfried Kracauer in Nosferatu eine tyrannische Figur und eine Antizipation Hitlers erblicken wollen.2 Zahlreiche Interpreten sind dieser Deutung ge- folgt. Von Anton Kaes stammt eine psychologisierende Deutung, wobei er den Film als Antwort auf das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkriegs verstehen wollte.3 Der Verfasser hat eine politische Lesart geliefert und auf die antisemitischen Klischees verwiesen, die mit der Gestalt des Vampirs einhergehen und auf die Figur des Ewigen Juden hingewiesen.4 Dass es eine Strukturanalogie zwischen dem Vampir und der literarischen Figur des Ahasver gibt, ist eine der literaturwissenschaftlichen Forschung seit langem vertraute These.5 Darüber hinaus sei auf die Typhusepidemien während und nach dem ersten Weltkrieg verwiesen, die im Osten Europas zum Teil mehr Opfer forderten als der Krieg selbst und welche das Zerrbild des Blutsaugers aus Transsylvanien als Krankheitsüberträger erklären können.6 Im Folgenden sollen die bereits gewonnenen Erkenntnisse jedoch nicht wiederholt, sondern der Bildpoetik des Films besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, wohnt Murnaus Werk doch eine besondere visuelle Prägnanz inne.7 Auch 100 Jahre nach seiner Entstehung wirkt der Film immer noch albtraumhaft, und seine Einstellungen sind von geradezu hypnotischer Qualität. Für Murnau begann mit dem Projekt die zehnte Regiearbeit. Sein in der Pariser Cinémathèque aufbewahrtes Arbeitsdrehbuch enthält handschriftliche Annotationen, die seinen kreativen und kritischen Umgang mit dem Filmstoff verdeutlichen. Mehrfach verzichtete er auf vorgesehene Szenen, stellte um, verwarf alte oder ergänzte neue Ideen. Gleichwohl ging die Filmidee nicht auf den Regisseur zurück. Er trat einem bereits bestehenden Team bei, das durch den Filmarchitekten Albin Grau und den Drehbuchautor Henrik Galeen gebildet wurde.8 Für die Produktion von Nosferatu hatte Grau gemeinsam mit dem Geschäftsmann Enrico Dieckmann im Jahr 1921 die Prana-Filmgesellschaft gegründet. So war das Skript zu Nosferatu schon vor dem Eintritt Murnaus fertiggestellt, und noch vor Beginn der Filmarbeit hatte Grau zahlreiche Skizzen für die Innenausstattung der Räume gezeichnet. Seine Arbeiten erweisen ihn als ausgebildeten Künstler.9 Die für Grau geltende Professionalität gilt es ebenso für den Autor Galeen hervorzuheben, der Assistent von Max Reinhardt am Deutschen Theater war.10 Er hatte gemeinsam mit Paul Wegener bei dem Film Der Golem (1914) Regie geführt sowie zahlreiche andere Filmskripte verfasst, die Bezug auf die jüdische Überlieferung nehmen, was auch seine mehrfache Bearbeitung des Golem-Sujets deutlich macht. Mit dem Kameramann Fritz Arno Wagner kam schließlich ein weiterer ausgewiesener Spezialist ins Team, mit dem Murnau bereits für seinen Film Schloss Vogelöd (1921) zusammengearbeitet und der zuvor Fritz Langs Film Der müde Tod (1921) abgedreht hatte. Wagner war bestens vorbereitet, mit seinen Kamerabildern unheimliche Wirkungen zu erzielen. Zieht man den Entstehungskontext in Betracht, so erscheint es unangebracht, die Qualität des Films allein dem Regisseur zuzuschreiben. Vielmehr bildete das von Galeen erstellte Drehbuch die Voraussetzung und das ästhetische Zentrum der gemeinsamen Anstrengung aller Akteure.

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