Leseprobe

Für die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Jürgen Müller, Frank Schmidt und Kyllikki Zacharias

14 VORWORT KYLLIKKI ZACHARIAS KLAUS BIESENBACH 25 AUF DER ANDEREN SEITE DERBRÜCKE NOSFERATU UND DER SURREALISMUS KYLLIKKI ZACHARIAS 33 SPINNENNETZ UND SCHATTENBILD NOSFERATU ODER VOM SCHLAF DER VERNUNFT JÜRGEN MÜLLER 47 ZURPSYCHODYNAMIK DES VAMPIRISMUS VON DEN VAMPIREN ZUM VAMPIRISMUS: ENTSTEHUNG EINES MODERNEN MYTHOS HARTMUT BÖHME 57 NOSFERATUS SCHATTEN ZUR UNSTERBLICHKEIT EINES PHANTOMS FRANK SCHMIDT 69 BLU T, BISS UND BEGIERDE VAMPIRINNEN IM FILM KRISTINA JASPERS 81 ZEICHNERISCH DANKBAR NOSFERATU IN DER GRAPHIC NOVEL PAOLO CANEPPELE GÜNTER KRENN 91 T ITELLISTE (NOSFERATU)

98 BERLIN, 4. MÄRZ 1922 126 T RAUTE HEIMAT – IDYLL UND SEHNSUCHT 140 DIE UNHEIMLICHE REISE 158 DAS TOR 180 DER TOD KOMMT INDIE STADT 206 MORGENGRAUEN KATALOG KYLLIKKI ZACHARIAS 230 AUTOREN 231 IMPRESSUM BILDNACHWEIS

Albin Grau, Phantom Omega – Raum Sagittaris, o. J., Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Schweiz

25 K Y L L I K K I Z A C H A R I A S AUF DER ANDEREN SEITE DER BRÜCKE NOSFERATU UND DER SURREALISMUS

A u f d e r a n d e r e n S e i t e d e r B r ü c k e K y l l i k k i Z a c h a r i a s 26 Am 26. August 1931 erwachte der Wortführer der Surrealisten André Breton um drei Uhr nachts aus einem Traum, mit dessen Niederschrift er sofort begann: »Eine alte Frau im Zustand heftiger Erregung hält lauernd Ausschau, nicht weit von der Metrostation Villiers (die eher der Station Rome ähnelt).«1 Was folgt, ist eine klassische, erotisch konnotierte Traumgeschichte, deren Bestandteile Breton wenig später unter anderem mit Hilfe der Traumdeutung von Sigmund Freud interpretiert. Wer hier am Eingang zur städtischen Unterwelt steht, ist Bretons frühere Geliebte Nadja, die er im Stich gelassen hatte, als sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.2 So nimmt es nicht Wunder, dass wenig später auch die Eltern als höhere moralische Instanz auftreten, gegen die sich der Träumende wehrt. Doch dann nimmt der Traum eine überraschende Wendung: Plötzlich tritt ein Kind auf, das ihm in einem Laden Krawatten zeigt. Breton findet eine »›Nosferatu‹-Krawatte«, die er folgendermaßen beschreibt: »Sie ist granatrot, an ihren Enden ist in Weiß das Gesicht Nosferatus zu sehen, wenn sie gebunden ist, sogar zweimal. Dies Gesicht ist zugleich der einfache Umriß der Karte Frankreichs, wobei die Ostgrenze, die, nur andeutungsweise mit grünen und blauen Strichen gezogen, mich eher an Flüsse denken läßt, überraschenderweise die geschminkten Züge des Vampirs ergibt.«3 Dass die Krawatte im Sinne Freuds den Penis symbolisiert, bemerkt Breton natürlich als erstes,4 doch wie kommt er auf Nosferatu und wieso hat dessen Gesicht die Umrisse von Frankreich? Kurz zuvor, erinnert sich Breton, hatte er einen Herrn »mit völlig erloschenem Blick«5 gesehen, der mit ihm im selben Speisesaal zu Abend aß. Das Gesicht dieser Nosferatu ähnlichen Gestalt habe wie eine »verwischte Zeichnung« (Hervorhebung Bretons) gewirkt, und ähnlich verwischt sind auch die weiteren Assoziationen, mit denen er sich die Entstehung seines Traumbildes zu erklären sucht. Die Erinnerung an einen »typisch reaktionären« Philosophieprofessor wird wach, die »blasse« Figur des Chefs eines Laboratoriums im Institut Pasteur, die behaarten Hörner einer Giraffe, von denen er auf der Rückseite eines Schulheftes gelesen hatte und die ihn an die Ohren des Vampirs erinnern, oder der Anblick »gewisser Landschaften der Basses Alpes« – Reminiszenzen, die schließlich in einem gern von ihm zitierten Zwischentitel aus Murnaus Nosferatu kulminieren, den er »niemals ohne eine Mischung aus Freude und Entsetzen« auf der Leinwand habe aufleuchten sehen: »Als er auf der anderen Seite der Brücke war, kamen die Gespenster ihm entgegen.«6 Wobei für Breton die Brücke – ähnlich wie zuvor die Krawatte – eines der »eindeutigsten Sexualsymbole« ist.7 Dass es sich bei dieser im zweiten Teil des Traumes erscheinenden Figur des Nosferatu, die Breton der weiblichen Hauptfigur im ersten Traumteil entgegensetzt, letztendlich um eine Art Selbstporträt handelt, wird im darauffolgenden Interpretationsschritt deutlich: Um zu erklären, warum das auf der Krawatte zweifach erscheinende Gesicht Nosferatus den Umrissen der Karte Frankreichs ähnelt (hinter dessen Ostgrenze, die ihn an Flüsse denken lässt, Deutschland liegt), besinnt Breton sich einer weiteren Begegnung, diesmal mit einer im Stil deutscher Trachten gekleideten Frau. Als sie an der Biegung einer kleinen Brücke (!) aus seinem Gesichtsfeld verschwindet, nachdem er mit dem Gedanken gespielt hatte, sie anzusprechen, ist er erleichtert. Womöglich wäre er in die Verlegenheit geraten, sich auf Deutsch mit ihr zu unterhalten, einer Sprache, die er, anders als die auf seinem Tisch liegenden Bücher suggerierten, nur zu lesen, aber schlecht zu sprechen wisse. So gesehen, folgert Breton, habe der Traum ihm den Wunsch erfüllt, »jeden Anlaß zu patriotisch interpretierbaren Mißverständnissen zu vermeiden, zwischen Frankreich, wo ich lebe, und jenem wunderbaren Land, eitel Denken und Licht, das in einem Jahrhundert Kant, Hegel, Feuerbach und Marx hervorgebracht hat«. Denn: »Die Karte mit ihrer ausgesprochen undeutlichen Markierung der Flüsse an der Ostgrenze kann hier als erneute Aufforderung angesehen werden, über die Brücke zu gehen [Hervorhebung Bretons].«8 Nun möchte man meinen, dass der Kopf dieser Murnau’schen Filmgestalt, die Breton mit einer im Stil deutscher Trachten gekleideten Frau und deutschen Philosophen wie Kant, Hegel oder Marx assoziiert, auch die Umrisse einer Karte Deutschlands haben sollte. Stattdessen erhielt sie die Umrisse des Landes, in dem er selbst lebte. Getreu dem Prinzip der »kommunizierenden Röhren«, demzufolge sich das, was scheinbar getrennt voneinander existiert, dennoch aufeinander auswirkt, verbinden sich in der Gestalt Nosferatus Eigenschaften, die der Surrealist Breton auch für sich und den Surrealismus in Anspruch nahm, nämlich als fortwährende Brückengänger zwischen den Welten zu wechseln und somit die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen (was nicht zuletzt auch Bretons Deutung der Brücke als Sexualsymbol entspricht).9 In einem kurz zuvor entstandenen Exlibris, von Salvador Dalí mit Hilfe der von ihm entwickelten »paranoisch-kritischen Methode« für André Breton geschaffen, verdichten sich die Elemente eines vergleichbaren Brückengangs zu einem weiteren surrealistischen (Selbst)Porträt, an das sich Breton ebenfalls im Zusammenhang mit Nosferatu erinnert.10 Die nur 4×6,5 cm messende Grafik stellt Breton, der wie Dalí unter Myrmecophobie litt,11 als Ameisenbären dar. Mit seiner länglichen, überallhin gelangenden Schnauze und seiner klebrigen Zunge vermag das ansonsten gutmütige Tier die verhassten Insekten zu vertilgen. Zugleich ähnelt es dem rüsselartigen Wesen, als das Albin Grau in seiner Werbekampagne für Nosferatu den blutsau-

27 genden Vampir auch dargestellt hatte (und das seinerseits auf die langnasigen »Marsbewohner« von Alfred Kubin anspielt, Abb. S. 210 und 211) – ein weiterer, typisch surrealistischer Zufall? Kippt man die Darstellung Bretons als Ameisenbär um 90 Grad nach rechts, so nimmt sie, ähnlich wie bei Bretons Nosferatu-Krawatte, die Konturen eines Gesichts an, dessen gespitzter Mund eher in einen dünnen Schlauch als in eine Zunge überzugehen scheint. Im weiteren Verlauf wickelt er sich mehrmals um die Nase des Ameisenbären, und an seinem Ende – rund um eine schlitzartige Öffnung in Höhe der Augen des Ameisenbären – tummeln sich die Ameisen. Es entsteht der Eindruck eines sich selbst generierenden Kreislaufs, auch wenn nicht mit Sicherheit zu sagen ist, in welcher Richtung er sich bewegt. Einer (erotisch gesehen) selbstreferenziellen Logik folgt auch das bereits 1929 entstandene Gemälde Der große Masturbator von Salvador Dalí, das Breton explizit an die Umrisse der Nosferatu-Krawatte erinnert12 und worauf sich auch sein Exlibris bezieht, wobei sich im Falle des Gemäldes das liegende Gesicht nicht in einen Ameisenbären verwandelt, sondern mit anderen Details auf Dalís frisch begonnene Liebesgeschichte mit seiner künftigen Ehefrau Gala Bezug nimmt. Breton nahm eine Abbildung dieses Gemäldes in sein Buch Die kommunizierenden Röhren auf, ebenso wie eine Darstellung Nosferatus, dessen Umrisse sich am Ende des Films verwischen und schließlich auflösen (vgl. Abb. S. 228/229). Salvador Dalí Der große Ameisenbär (Exlibris für André Breton), um 1930 Privatsammlung. Courtesy Heinz Joachim Kummer-Stiftung Salvador Dalí Visage du Grand Masturbateur, 1929 Museo nacional centro de arte Reina Sofia, Madrid

28 A u f d e r a n d e r e n S e i t e d e r B r ü c k e K y l l i k k i Z a c h a r i a s bezeichnet: »oubli« (Vergessen), darunter »angoisse« (Bangen) und weiter, im Uhrzeigersinn, »duvet« (Daunenflaum), »impacience« (Ungeduld), »desir« (Verlangen), »peur« (Angst), »crainte« (Furcht), »c [der Rest ist verdeckt]«, »oiseaux« (Vögel) und »caresses« (Zärtlichkeiten). Nahezu alle Begriffe bezeichnen in verschiedenen Varianten die Angst, die Erotik und das Unbewusste (die Vergessenheit). Sie benennen die Einfallstore, durch die sich, wie im Film Nosferatu, die Welt »auf der anderen Seite der Brücke« in die diesseitige drängt. Als ein typisch surrealistischer Spaß mag dabei gelten, dass sich Tanguys Schaufensterpuppenhand von der »anderen« Seite ins Diesseits krallt, während die krakenartigen Nosferatu-Finger diesseitig greifen. In Erinnerung an Bretons Nosferatu-Traum könnte man auch von einer typisch surrealistischen »Verwischung« der Bereiche sprechen. Yves Tanguy De l’autre côté du pont, 1936 Ehemals Sammlung Morten G. Neumann, New York Yves Tanguy De l’autre côté du pont, 1936 Historische Aufnahme aus dem Dictionnaire abrégé du Surréalisme, Paris 1938 1936, vier Jahre nach Erscheinen der Kommunizierenden Röhren, ist ein (ausgestopfter) Ameisenbär das einzige Tier, das in der Galerie Charles Ratton auf der »Exposition surréaliste d’objets« gezeigt wird.13 Neben »natürlichen Objekten« (wie dem Ameisenbären), »störenden«, »gefundenen«, »amerikanischen« oder »mathematischen Objekten« werden rund 70 »surrealistische Objekte« gezeigt,14 darunter ein De l’autre côté du pont (Auf der anderen Seite der Brücke) betiteltes Werk von Yves Tanguy, das sich zweifellos auf den Breton’schen Lieblingssatz aus dem Nosferatu-Film bezieht. Das Objekt besteht aus einer Art achteckigem Schaumlöffel, der allerdings platt und aus Holz ist, durch den von vorne eine weiche dreifingrige Stoffhand greift, mit seltsam langen Gliedern, die an die Arme einer Krake oder an die bleichen Hände Nosferatus erinnern. Von der anderen, rückwärtigen Seite her sind es hingegen die festen vier Finger einer Frau (beziehungsweise einer Schaufensterpuppe) mit rot lackierten Fingernägeln, die, wie historische Aufnahmen belegen, durch die Löcher greifen, als würden sie sich an ein Gefängnisgitter krallen.15 Das wie die Stoffhand in zarten Fleischfarben gehaltene Holzobjekt, dessen linke Partie grau schattiert ist, während der Griff wie die mit Rouge gepuderten Wangen einer Frau rosafarben abgetönt ist, funktioniert als Membran zwischen zwei Welten, die dank ihrer Perforation durchlässig ist. 37 kleine Löcher ermöglichen den Übergang von der einen zur anderen Seite. Zehn von ihnen haben einen Namen. Oben beginnend, sind sie in Versalbuchstaben folgendermaßen

29 1 Les vases communiquants, Paris 1932, dt. Die kommunizierenden Röhren, übers. v. Elisabeth Lenk und Fritz Meyer, München 1973, S. 24. 2 Breton hat diese Begegnung in einem Roman verarbeitet: André Breton, Nadja, Paris 1928, dt. 1974 im Suhrkamp-Verlag erschienen, übers. v. Max Hölzer. 3 Die kommunizierenden Röhren (wie Anm. 1), S. 26. 4 Ebd., S. 35. 5 Alle Zitate dieses Absatzes ebd., S. 35 –37. 6 »Quand il fut du l’autre côté du pont les fantômes virent à sa rencontre.« Ebd., S. 37; der Zwischentitel im deutschen Original lautet abweichend: »Kaum hatte Hutter die Brücke überschritten, da ergriffen ihn die unheimlichen Gesichte [...]«. Breton verwendet das Nosferatu-­ Zitat erstmals im dritten Fortsetzungsteil seiner 1926 erschienenen Schrift »Le surréalisme et la peinture« in: La Revolution surréaliste, Nr. 7, Juni 1926, S. 4 – 6, hier S. 4 (und zwei Jahre später erweitert in »Le Surréalisme et la peinture en 1928«, dt. Der Surrealismus und die Malerei, Berlin 1967, S. 19), im Zusammenhang mit der frühen Malerei Giorgio de Chiricos, die er im Unterschied zur darauf folgenden künstlerischen Entwicklung des Malers hoch schätzte. 7 Die kommunizierenden Röhren (wie Anm. 1), S. 38 8 Ebd. (beide Zitate). 9 Ebd., S. 37. 10 Ebd., S. 38. 11 S. Dictionnaire de l’objet surréaliste (Katalog zur Ausstellung Le Surréalisme et l’objet, Centre Pompidou), Paris 2013, S. 260 s. v. Tamanoir (Ameisenbär). 12 Die kommunizierenden Röhren (wie Anm. 1), S. 38. 13 Die Ausstellung wurde vom 22. bis 29. Mai 1936 in der Galerie Charles Ratton, Rue de Marignan 14 in Paris gezeigt, begleitet von einem kleinen Katalog mit einer Einführung von André Breton. 14 Der Katalog verzeichnet insgesamt elf verschiedene Objekttypen: Objets naturels (darunter der Ameisenbär), objets naturels interpretés, objets pertubés, objets trouvés, objets trouvés interpretés, objets américains, objets océaniens, objets mathematiques, ready made et ready mades aidé sowie objets surréalistes. 15 Tanguys NosferatuHand wurde zwei Jahre später im Dictionnaire abrégé du surréalisme abgebildet (S. 47), der anlässlich der Exposition internationale du Surréalisme in der Galerie des Beaux-Arts 1938 in Paris erschien. Eine größere, ebenfalls schwarzweiße Abbildung findet sich im Katalog zur Ausstellung Yves Tanguy von James Thrall Soby, Museum of Modern Art, New York, 1955, auf S. 17. Ob es sich bei dem gleichnamigen Objekt in der ehemaligen Sammlung Morten G. Newman, New York, um eine restaurierte Fassung oder gar eine Replik handelt, konnte nicht geklärt werden. Zumindest scheinen die Finger der Schaufensterpuppe auf den späteren bekannten Fotografien weniger gekrümmt und zeigen in eine andere Richtung. 16 Siehe hierzu auch den 50 Jahre später erschienenen Beitrag von Ralf Höller »Augenblick mal. Ein Ameisenbär in der Metro«, begleitet von einer Fotostrecke mit dem verniedlichenden Titel »Jedem Tierchen sein Pläsierchen«, https://www. spiegel.de/geschichte/salvadordali-1969-in-paris-pr-coup-mitameisenbaer-in-der-metroa-1293926.html (abgerufen am 10. 9. 2022). 17 In der Verbindung von Metro (von altgriechisch »μήτηρ« für »Mutter«) und Bastille (französisch für »kleine Bastion«) wird das Reich der Mütter zur städtischen Festungsanlage. Patrice Habans »Salvador Dalí, dem Keller des Unterbewusstseins entsteigend, an der Leine einen romantischen Ameisenbären, das Tier, das André Breton als Exlibris ausgewählt hat.« Fotografie für Paris Match, April 1969 Heinz Joachim Kummer-Stiftung Wenn nun, drei Jahre nach dem Tod von André Breton und 47 Jahre nach dem Erstauftritt Nosferatus im Berliner Zoopalast, nicht mehr eine alte Frau am Eingang der Pariser Metro lauert, sondern Salvador Dalí am 26. Juli 1969 für Paris Match mit einem lebendigen Ameisenbären aus dem »Keller des Unterbewusstseins« steigt, so ist dies keineswegs nur als Schrulle eines publicitysüchtigen Exzentrikers abzutun.16 Wer hier aus der sicherlich mit Bedacht gewählten Metrostation Bastille steigt,17 verkündet auf ebenso intelligente wie ironische Weise die Vollendung eines mit dem Film Nosferatu einsetzenden und von André Breton und den Surrealisten vehement verfochtenen Projekts einer »Verwischung« der Welten. Die Schleusen des Unterbewussten wurden geöffnet, durch die Löcher des Tanguy’schen Schaumlöffels sind das Vergessen, die Ängste und das Verlangen getropft. In den kommunizierenden Röhren werden die Stände von Albtraum und Wunschtraum, Kunst und Werbung, Verlangen und Pädagogik, Wahn und Therapie gleich hoch angezeigt.

Filmstill, 5. Akt, 01:26:27

33 J Ü R G E N M Ü L L E R SPINNEN- NETZ UND SCHATTEN- BILD NOSFERATU ODER VOM SCHLAF DER VERNUNFT

S p i n n e n n e t z u n d S c h a t t e n b i l d J ü r g e n M ü l l e r 34 Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Wolken und auf der glatten Oberfläche des Meeres. Nur noch wenige Augenblicke, dann ist es dunkel. Schnitt. Der Vampir Nosferatu, hager, kahlköpfig und mit fledermausartigen Ohren, lauert am Fenster und blickt stier in unsere Richtung. Das Mondlicht beleuchtet sein fahles Gesicht. Mit seinen krallenartigen Händen hält er die Sprossen des Fensters umklammert. Der Mund ist geöffnet und bringt spitze Schneidezähne zum Vorschein. Im Fenstergitter ähnelt der Vampir einer Spinne, die geduldig ihr Opfer beobachtet, bis es sich im Netz verfangen hat. Mit dieser Sequenz beginnt das Finale von Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirfilm Nosferatu, der am 4. März 1922 im Marmorsaal des Berliner Zoologischen Gartens uraufgeführt wurde. Murnaus Werk ist nicht nur ein Vampirfilm, sondern auch die Geschichte einer Verschworung, die über ein unschuldiges Liebespaar und eine kleine deutsche Hafenstadt hereinbricht. Trotz der Bedenken seiner Frau lässt sich der junge Angestellte Hutter von seinem dubiosen Chef, dem Häusermakler Knock, zu einer Geschäftsreise überreden, welche die Pest in seinen Heimatort Wisborg bringen und seine Ehefrau Ellen das Leben kosten wird. Ohne zu ahnen, welch böses Schicksal ihn erwartet, macht er sich auf den Weg nach Transsilvanien, wo er dem Grafen Orlok ein Haus in Wisborg verkaufen soll. Nach der Ankunft auf dessen Schloss ziert sich der unheimliche Gastgeber zunächst, den Vertrag zu unterzeichnen, willigt aber sofort ein, nachdem er ein Medaillon mit dem Porträt Ellens erblickt hat. Zu spät entdeckt Hutter, dass es sich bei Orlok um einen Vampir handelt, und wird zu dessen Opfer. So kann er die Abreise Nosferatus nicht mehr verhindern, der mit Sargen voll pestverseuchter Erde nach Wisborg aufbricht. Schon während der Schiffspassage erkrankt ein Seemann nach dem anderen, bis schließlich nur noch der todgeweihte Kapitän das Schiff auf Kurs hält. Nach der Ankunft des Schiffes breitet sich die Seuche unaufhaltsam in der Stadt aus. Am Ende ist es Ellen, die durch ihr Selbstopfer den Spuk beendet, indem sie den Vampir in ihr Schlafgemach lockt und ihn dazu bringt, bis zum Morgengrauen zu bleiben. Die Sonne vernichtet das Monstrum, und das Böse ist besiegt. Seit langem kommt Murnaus Nosferatu der Status eines Kultfilms zu, der zahlreiche Deutungen er- fahren hat.1 Dabei stand vor allem die Figur des Vampirs im Zentrum. Mit Blick auf den heraufziehenden Nationalsozialismus hat Siegfried Kracauer in Nosferatu eine tyrannische Figur und eine Antizipation Hitlers erblicken wollen.2 Zahlreiche Interpreten sind dieser Deutung ge- folgt. Von Anton Kaes stammt eine psychologisierende Deutung, wobei er den Film als Antwort auf das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkriegs verstehen wollte.3 Der Verfasser hat eine politische Lesart geliefert und auf die antisemitischen Klischees verwiesen, die mit der Gestalt des Vampirs einhergehen und auf die Figur des Ewigen Juden hingewiesen.4 Dass es eine Strukturanalogie zwischen dem Vampir und der literarischen Figur des Ahasver gibt, ist eine der literaturwissenschaftlichen Forschung seit langem vertraute These.5 Darüber hinaus sei auf die Typhusepidemien während und nach dem ersten Weltkrieg verwiesen, die im Osten Europas zum Teil mehr Opfer forderten als der Krieg selbst und welche das Zerrbild des Blutsaugers aus Transsylvanien als Krankheitsüberträger erklären können.6 Im Folgenden sollen die bereits gewonnenen Erkenntnisse jedoch nicht wiederholt, sondern der Bildpoetik des Films besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, wohnt Murnaus Werk doch eine besondere visuelle Prägnanz inne.7 Auch 100 Jahre nach seiner Entstehung wirkt der Film immer noch albtraumhaft, und seine Einstellungen sind von geradezu hypnotischer Qualität. Für Murnau begann mit dem Projekt die zehnte Regiearbeit. Sein in der Pariser Cinémathèque aufbewahrtes Arbeitsdrehbuch enthält handschriftliche Annotationen, die seinen kreativen und kritischen Umgang mit dem Filmstoff verdeutlichen. Mehrfach verzichtete er auf vorgesehene Szenen, stellte um, verwarf alte oder ergänzte neue Ideen. Gleichwohl ging die Filmidee nicht auf den Regisseur zurück. Er trat einem bereits bestehenden Team bei, das durch den Filmarchitekten Albin Grau und den Drehbuchautor Henrik Galeen gebildet wurde.8 Für die Produktion von Nosferatu hatte Grau gemeinsam mit dem Geschäftsmann Enrico Dieckmann im Jahr 1921 die Prana-Filmgesellschaft gegründet. So war das Skript zu Nosferatu schon vor dem Eintritt Murnaus fertiggestellt, und noch vor Beginn der Filmarbeit hatte Grau zahlreiche Skizzen für die Innenausstattung der Räume gezeichnet. Seine Arbeiten erweisen ihn als ausgebildeten Künstler.9 Die für Grau geltende Professionalität gilt es ebenso für den Autor Galeen hervorzuheben, der Assistent von Max Reinhardt am Deutschen Theater war.10 Er hatte gemeinsam mit Paul Wegener bei dem Film Der Golem (1914) Regie geführt sowie zahlreiche andere Filmskripte verfasst, die Bezug auf die jüdische Überlieferung nehmen, was auch seine mehrfache Bearbeitung des Golem-Sujets deutlich macht. Mit dem Kameramann Fritz Arno Wagner kam schließlich ein weiterer ausgewiesener Spezialist ins Team, mit dem Murnau bereits für seinen Film Schloss Vogelöd (1921) zusammengearbeitet und der zuvor Fritz Langs Film Der müde Tod (1921) abgedreht hatte. Wagner war bestens vorbereitet, mit seinen Kamerabildern unheimliche Wirkungen zu erzielen. Zieht man den Entstehungskontext in Betracht, so erscheint es unangebracht, die Qualität des Films allein dem Regisseur zuzuschreiben. Vielmehr bildete das von Galeen erstellte Drehbuch die Voraussetzung und das ästhetische Zentrum der gemeinsamen Anstrengung aller Akteure.

35 Lotte Eisner hat in diesem Kontext die bildlich-evokative Sprache des Textes hervorgehoben und von dessen Poesie gesprochen.11 Die eingangs beschriebene Fensterszene findet sich im Skript genauestens vorgebildet. Indes gilt es nicht nur die ästhetische Qualität des Drehbuchs zu betonen, ging mit dem Filmprojekt doch auch der Versuch einher, einen Kassenschlager und finanziellen Coup zu landen. Dabei muss man sich in Erinnerung rufen, dass Grau in Personalunion als ausführender Produzent und Filmarchitekt verantwortlich zeichnete. Er stellte das Filmteam zusammen, war für die Werbekampagne zuständig und schuf selbst zahlreiche Plakatentwürfe, deren Bestimmungsorte in Berlin darauf genauestens notiert wurden. Zudem lancierte er Berichte vom Dreh, schrieb über die Ideen des Films, die verpflichteten Künstler wie auch über seine filmischkünstlerischen Ideale. Der von ihm in Gang gesetzte Werbefeldzug geriet jedoch derart aus den Fugen, dass er die Prana-Filmgesellschaft in den Konkurs trieb. Graus übersteigerte Ambition ist nur zu erklären, wenn man sich vor Augen führt, dass er nicht nur an Filmprojekten mitarbeitete, sondern auch Werbegrafiken und Firmensignets entwarf – also mit Techniken der Vermarktung bestens vertraut war und sich augenscheinlich der Aufgabe gewachsen fühlte. Vor allem orientierte er sich mit seiner Verkaufsstrategie für Nosferatu an einem der großen Marketingerfolge jener Zeit. Mit Gustav Meyrinks phantastischem Roman Der Golem aus dem Jahr 1915 ging eine großangelegte Kampagne einher, die das Buch zu einem Bestseller machte.12 Noch bevor der Text in Buchform erschienen war, wurde er als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die weißen Blätter veröffentlicht. Zudem weckten Anzeigen und Artikel das Interesse für den Text. Mit der Golem-­ Kampagne wurde eine extreme Spannung und Erwartungshaltung des Publikums erzeugt, die Meyrinks Werk befriedigte.13 Vor dem Hintergrund dieses literarischen und kinematografischen Erfolgs schien es Grau möglich, selbst einen Film durch Werbung erfolgreich zu lancieren. Dabei war die Werbekampagne nicht nur ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, vielmehr streute sie auch mysteriöse Details und lieferte geheimnisvolle Perspektiven auf die Gestalt des Vampirs, über die sich sowohl Fragen als auch Deutungsoptionen eröffnen ließen.14 In der Dezemberausgabe der Zeitschrift Filmecho von 1921 äußerte sich Grau zur Entstehung des Films mit folgenden Worten: »Die Prana-FilmGesellschaft, unter deren leitenden Persönlichkeiten sich einige seit langem mit okkulten Studien beschäftigt hatten, kamen nun auf die Idee, den Vampirismus einmal zur Grundlage eines Filmmanuskripts zu machen. Der äußere Anlaß war ein geringfügiger, kam den Betreffenden ungefähr ein, als sie eine Spinne beobachteten [HervorAlbin Grau Filmplakat-Entwurf für den Alexanderplatz, Berlin, 1921 Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Schweiz

36 S p i n n e n n e t z u n d S c h a t t e n b i l d J ü r g e n M ü l l e r hebung J. M.], die ihr Opfer aussaugte.« In seinem Artikel weist Grau dem Drehbuchautor Galeen eine zentrale Bedeutung zu, wenn er schreibt, die Film-Gesellschaft habe ihm freie Hand gelassen, einen phantastischen Roman entsprechend den Anforderungen des Films umzuarbeiten. Mehr noch, der Drehbuchautor habe gemeinsam mit dem Regisseur die Vorarbeiten besprochen und den Filmaufnahmen zum großen Teil beigewohnt. Doch ebenso wichtig wie die genannten Sachinformationen, die die Crew und ihre Zusammenarbeit betreffen, ist der Hinweis auf die Spinne. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird gelenkt. Er wird angeleitet, nach diesem Motiv zu suchen. Bei dem nicht genannten phantastischen Roman handelt es sich um keinen geringeren als den 1897 erschienenen Briefroman Dracula des irischen Schriftstellers Bram Stoker.15 Im Text ist das Voranschreiten der Handlung an übermittelte Nachrichten, eingehende Telegramme, Briefe und Tagebucheintragungen gebunden, die bei den handelnden Personen ein- und ausgehen. Der Leser erfährt nie mehr als die Romanfiguren selbst. Diese Form der Rahmenerzählung übernahm Galeen für den Einsatz der Zwischentitel des Films, die fast durchweg aus Passagen aus Chroniken, Seiten alter Folianten, Logbüchern, Briefen oder Zeitungsmeldungen bestehen. Dem Zuschauer wird durch die Zwischentitel die Rolle eines Historikers zugewiesen, haben wir uns doch zu fragen, wie sich all das hat ereignen können. In eindringlichen Bildern erzählt Stokers Vampirroman Dracula von der Krise der Moderne und den Ängsten, die mit der Säkularisierung der Welt einhergehen. Aufschlussreich sind denn auch die wirkungsvoll eingesetzten christlichen Motive. Immer wieder erwähnt der Autor Rosenkränze, Weihwasser und Hostien, die von den handelnden Personen genutzt werden, um den Vampir zu bekämpfen. Der Kampf gegen das Monstrum gestaltet sich geradezu als Exorzismus. Als Dracula die zentrale weibliche Figur zur Vampirin macht, zwingt er sie, sein Blut zu trinken. Dabei werden in Stokers Erzählung Symbole einer katholischen Messfeier geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Triumphierend ruft der Vampir aus: »Du aber, [...] bist nun mein Eigen, Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut, bist meines gleichen, bist eine Zeitlang meine vortreffliche Weinkelter [...].«16 Nach dieser Bluthochzeit mit Dracula wird der jungen Frau schließlich von den Freunden eine Hostie auf die Stirn gelegt, die sich tief in ihr Fleisch brennt. Und letztlich sind es Pfähle und Jagdmesser, die den Vampiren brachial ins Herz gerammt werden und deren Ende bedeuten. Mag Stoker für das 19. Jahrhundert auch technisch avancierte Medien in Form von Schreibmaschinen oder Telegrammen inszenieren, die Abwehr des Bösen lässt sich nicht durch technischen Fortschritt lösen, vielmehr bedarf es für den Autor des christlichen Glaubens. Stokers Romanfigur Dracula wird für den Film traditionsbildend. Der Vampir stellt eine Inversionsfigur dar, die nach dem Prinzip der Umkehrung funktioniert, ist er doch tot und zugleich lebendig, flieht vor der Sonne und schläft tagsüber in Särgen, um nachts sein unheilvolles Treiben zu beginnen. Vor allem aber zeichnet er sich durch den Fluch negativer Unsterblichkeit aus. Weil Dracula nicht sterben kann, wird er auch nicht der Erlösung teilhaftig. Er ist heilsunfähig. Mehr noch, er beraubt seine Opfer ebenfalls des Heils. Seine Aversion gegen christliche Symbole und Sakramente spricht eine deutliche Sprache. In seiner negativen Unsterblichkeit, aber auch im Motiv der daraus resultierenden Ruhelosigkeit und Heilsunfähigkeit gleicht Dracula der Figur des Ewigen Juden Ahasver.17 Auch die weiblichen Vampire werden im Roman ins Negative gespiegelt. Sie ernähren sich von Kindern und rufen das Klischee vom Ritualmord wach. Die massive Umkehrung christlicher Überzeugungen erinnert daran, dass sich Stokers Vampirismus-Konzeption einem religiösen, antijüdischen Kontext verdankt.18 Auch für den Film Nosferatu spielt der Konflikt von Christentum und Vampirismus eine bedeutende Rolle. Schon mit einer der ersten Einstellungen wird dies deutlich, sehen wir doch über den Dachreiter einer Kirche hinweg auf das verträumte Städtchen Wisborg.19 Im Unterschied zu Stokers Roman, der mit einer spannenden Verfolgungsjagd und zahlreichen Kämpfen endet, hat Galeen seine Geschichte weitaus statischer entworfen. Aus dem technisch avancierten viktorianischen England werden wir in das gemütliche Deutschland der Biedermeierzeit verbracht. Zugleich änderte der Drehbuchautor nicht nur den Plot und die Figurenkonstellation, sondern auch die Gestalt des Blutsaugers. Aus dem virilen Dracula wird eine geisterhafte Figur. Mit dem Vampir Nosferatu ist es Galeen gelungen, eine hypnotische Gestalt zu entwerfen, deren Anblick uns lähmt und hilflos macht. Ist Dracula im Roman ein gerissenes Individuum, das seinen Opfern Blut aussaugt, wird Nosferatu im Film zum Überträger der Pest. In jeder Hafenstadt, in der das Schiff auf seiner Fahrt ankert, bricht die todbringende Seuche aus. Wenn der Vampir das Schiff nach seiner Ankunft in Wisborg verlässt, gehen zugleich Heerscharen von Ratten an Land. Als Nosferatu das deutsche Hafenstädtchen betritt, geht er an einem öffentlichen Brunnen vorbei, den er im gleichen Moment zu vergiften scheint. Der Vampir wird zum Sinnbild der Epidemie. Er ist eine Figur aus dem Jenseits, und seine Macht geht nicht von seinen physischen Kräften aus, ist er doch extrem hager, ja beinah zerbrechlich. Umso geheimnisvoller und unheimlicher erscheint die Kraft, mit der er den Willen der Menschen zu brechen vermag. Zudem hat Nosferatu keine feststehende Gestalt. Er kann die Identität zahlreicher Tiere auf sich vereinen und sich ihrer Mög-

37 lichkeiten bemächtigen. Als der Vampir zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint, kommt er aus der Dunkelheit eines Torbogens hervor. Langsam wie eine Spinne schreitet er voran und hält seine krallenartigen Hände verborgen. Eine Kopfbedeckung verdeckt seine Fledermausohren. Er verheimlicht seine wahre Identität. Doch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erahnen wir die Gefahr, die von ihm ausgeht. Dergestalt wird im Film ein Wechsel zwischen der Person des Grafen Orlok und einer gleichsam transpersonalen, kollektiven Identität des Bösen entworfen. Mehrfach sehen wir Nosferatu und anschließend Ratten, die aus dem Inneren des Schiffes hervorkommen und ans Ufer laufen, um den Ekel des Betrachters zu provozieren. Einmal wird er gar zur Hyäne, die nachts durch die Wälder streift.20 Nosferatu ist aber auch eine filmische Gestalt. Um seine geisterhafte Identität zu kennzeichnen, wird bei einer Szene im Inneren des Schiffes eine Doppelbelichtung genutzt, schemenhaft tritt er in Erscheinung, und die Gefahr für den erkrankten Seemann wird offenbar. Nosferatus Auftreten kann aber auch mit einem Wechsel der Geschwindigkeit verbunden sein. Im Film wird daher die Möglichkeit des Zeitraffers gezielt genutzt, um diesen Eindruck zu erwecken. Der Vampir bewegt sich rasend schnell oder provozierend langsam.21 Er ist körperlich und doch nur Schatten – eine filmische Gestalt, deren Erscheinung an die Kinoprojektion gebunden ist und die so zur Allegorie des Kinos avanciert. HYPNOTISCHE BILDER Doch welcher ästhetischen Mittel der Inszenierung haben sich Galeen, Grau und Murnau zusätzlich bedient, um eine derart intensive visuelle Prägnanz zu erzielen? Wieso wirken die Filmbilder auf uns heute noch hypnotisch? Zunächst einmal ist es dem Filmteam gelungen, die Einstellungen mit dem Vampir so zu gestalten, dass er zu einer flächenhaften Erscheinung wird. Mit seiner Anwesenheit geht die Negation des Raumes einher, und die Bilder gewinnen eine klaustrophobische Wirkung. In zahlreichen Szenen steht Nosferatu vor Türen und Toren (vgl. S. 158ff).22 Er versperrt den Weg hinaus. Der zur Flucht nötige Raum wird dem Zuschauer vorenthalten: Wir gelangen nicht an dem Vampir vorbei. Es ist, als wäre er omnipräsent, wie in einem Traum ist er immer schon da. Bereits in einer der ersten Szenen findet sich eine Andeutung auf das kalkulierte Spiel von Raum und Fläche. Als Hutter zu Ellen kommt und ihr Blumen mitbringt, umfasst sie zunächst zärtlich den Strauß, um den jungen Mann dann jedoch zu tadeln, wenn es im Zwischentitel heißt: »Die schönen Blumen. Warum hast Du sie getötet?« Da der Innenraum der Szene durch zahlreiche Bilder und Scherenschnitte bestimmt wird, erscheinen diese nun wie eine Negation des Lebendigen. Die Überführung des Raumes in die Fläche und die Stillstellung des Lebendigen im Schatten werden zur Todesmetapher. Dass dem Schatten eine lebensverneinende Eigenschaft zukommt, macht auch die anonyme Pestchronik deutlich, mit der der Film beginnt: »Nosferatu. Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtliche Ruf eines Totenvogels. Hüte dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten [Hervorhebung J. M.] [...].« Noch in einem späteren Zwischentitel ist von Nosferatus »Schatten« die Rede, der uns wie ein Alb mit grausigen Träumen beschwere. Folgerichtig ist in zahlreichen Sequenzen die Schattenwerdung einer Person, ihre Transformation von der Drei- in die Zweidimensionalität von zentraler Bedeutung und erzählt von der Gefahr, die vom Bösen ausgeht. Als Hutter nach dem ersten nächtlichen Treffen mit dem Vampir am nächsten Morgen auftritt, löst sich sein Schatten bedrohlich, als begänne er ein Eigenleben zu führen. Und als der junge Mann durch den sonnendurchfluteten Garten des Schlosses läuft und ein Tor erreicht, wird er plötzlich zu einer schwarzen Silhouette, so als hätte das Böse von ihm Besitz ergriffen. Der Kampf zwischen Gut und Böse findet im Gegensatz von Licht und Schatten eine Entsprechung. Immer wieder werden die Orte des Bösen im Gegenlicht dargestellt, und als der Vampir das Schiff in Besitz genommen hat, hebt es sich dunkel und unheilvoll vom Horizont ab. Dass das frühe Kino den Eindruck erwecken konnte, eine lebensverneinende Kraft zu sein, zeigt ein Text von Maxim Gorki aus dem Jahr 1896. Er spricht vom Film als einem »Reich der Schatten«, einer Welt des Grafischen und Gespenstischen. Sein kurzer Text enthält die Feststellung, dass die Welt im Kino wie durch einen Fluch zum Schweigen gebracht und ihr alle Farben des Lebens genommen würden.23 Für die Bildwirkung von Nosferatu sei sodann der magische Rhythmus des Werkes betont, der sich dem permanenten Öffnen und Schließen der Irisblende verdankt, wie bereits im Drehbuch vermerkt wurde.24 Auf diese Weise gewinnt die Erzählung eine traumhafte, wenn nicht gar somnambule Qualität.25 Es ist, als schliefen wir ein, um im Traum zu erwachen. Mit dem permanenten Wechsel von Auf- und Abblenden geht eine Qualität einher, die uns einen Dämmerzustand suggeriert. Diese traumhafte Qualität der Filmbilder findet im Wechsel von Tag- und Nachtszenen sogar noch eine Steigerung.

Der Vampir (Jirí Prýmek) als Wiedergänger Orloks in Jaromil Jireš’ Valerie – Eine Woche voller Wunder, 1970

57 SCH AT T EN F R A N K S C H M I D T ZUR UNSTERBLICHKEIT EINES PHANTOMS

N o s f e r a t u s S c h a t t e n F r a n k S c h m i d t 58 In den vergangenen 100 Jahren haben sich Vampire als dominante Akteure des Horrorkinos etabliert. Ihr Siegeszug begann 1922 mit Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, jener ersten, noch unautorisierten Adaption von Bram Stokers Roman Dracula.1 Seitdem ist es keinem anderen Filmmonster gelungen, es mit der Popularität der Blutsauger aufzunehmen und das Böse in gleichermaßen anziehender Weise zu verkörpern. Als ein Erfolgsgarant des Vampirfilms kann die Behauptung des Rationalen im Irrationalen gelten. Insbesondere das Talent der Kreaturen zum Gestaltwandel ist zum Zeichen ihrer komplexen Identität geworden. Erlaubt er den Wesen einerseits, sich unerkannt unter den Menschen zu bewegen, bildet er andererseits die Voraussetzung einer Animalität, die in Raubtieren und parasitären Lebensformen eine Entsprechung findet. Mit der Anpassungsfähigkeit der Geschöpfe haben auch die filmischen Beiträge kontinuierlich mit dem Zeitgeist Schritt gehalten. Die vielfach variierte Anordnung, in der Vampire als anachronistische Eindringlinge auf eine zunächst ahnungslose Umwelt treffen, hat dazu beigetragen, dass sich Vampirfilme in zahlreichen Fällen als Kommentar zur eigenen Entstehungszeit lesen lassen. Mobilisierte der von Max Schreck gespielte Graf Orlok in Nosferatu noch primär xenophobe Ängste,2 setzte sich mit den Dracula-Darstellern Bela Lugosi und Christopher Lee das Bild vordergründig eleganter Verführer durch, die ihre weiblichen Opfer mit hypnotischen Praktiken gefügig machen.3 Die damit verbundenen Rollenzuweisungen sind längst einem breiten Spektrum an Handlungsoptionen gewichen. Folgerichtig können Vampire heute kapitalismuskritischen Positionen ebenso wie Coming-ofAge-Phantasien Ausdruck verleihen, leiden einige von ihnen, wie ihre Opfer, an Neurosen, Depressionen oder Schuldgefühlen, was sie zu Moralisten und ›Vegetariern‹ werden lässt.4 All diese Veränderungen finden vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Referenzialität statt, ohne die das Subgenre nicht zu denken ist. Im Sinne ewiger Wiederkehr bieten der vertraute Motivkomplex und feststehende Regeln dabei stets eine gewisse Orientierung. Murnaus Film stellt zweifelsohne den Ausgangspunkt dieser Entwicklung dar. Exemplarisch hierfür steht die Erfindung des zersetzenden Sonnenlichts, das erst seit Nosferatu eine existenzielle Bedrohung für die Nachtschwärmer darstellt, fortan aber zur verlässlichen Größe geworden ist. In zahlreichen Fällen haben Filmschaffende dem Horrorfilmklassiker Tribut gezollt oder von dessen innovativer Bildlichkeit profitiert. Nicht in allen Fällen orientieren sich die betreffenden Werke so nachvollziehbar am Original wie Werner Herzogs 1979 entstandene Hommage oder die alternative Entstehungsgeschichte Shadow of the Vampire.5 Die folgenden Beobachtungen haben das Ziel, der anhaltenden Faszination von Nosferatu anhand ausgewählter Beispiele nachzuspüren und hierüber zugleich Entwicklungen, Konstanten und Brüche innerhalb der Geschichte des Vampirfilms aufzuzeigen. ONCE UPON A TIME INBERLIN Zunächst jedoch schien Nosferatu, wie seinen Schöpfern, kein langes Nachleben beschieden zu sein. Noch am 19. März 1922, wenige Tage nach der Uraufführung des Films in Berlin, kündigte die Zeitschrift Der Kinematograph das nächste Projekt der verantwortlichen PranaFilmgesellschaft an: Non mortuus sollte auf Edward Bulwer-Lyttons spirituellem Entwicklungsroman Zanoni basieren, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ein Wiedergänger steht.6 Für die Ausstattung war erneut der »Maler-Architekt«7 Albin Grau vorgesehen. Zur Ausführung kam es indes nicht mehr. Die unverhältnismäßige Werbekampagne und der nicht wie erhofft eingetretene finanzielle Erfolg von Nosferatu führten schon im Juli 1922 zum Konkurs der Produktionsfirma.8 Kurze Zeit später geriet auch die Unsterblichkeit des einzigen Prana-Sprosses in Gefahr. Ein von der Witwe Bram Stokers angestrengter Urheberrechtsprozess endete 1925 mit dem Urteil, alle im Umlauf befindlichen Kopien zu vernichten.9 Dazu kam es glücklicherweise nicht, und bereits 1930 erlebte Graf Orlok eine Auferstehung: Als Die zwölfte Stunde – Eine Nacht des Grauens brachte Waldemar Roger den Film nachvertont, umgeschnitten und um zusätzliche Szenen ergänzt wieder in Umlauf. Der Vampir hörte darin auf den Namen Wolkoff.10 Ein Jahr zuvor war Nosferatu in amerikanische Kinos gelangt. Eine zeitgenössische Kritik legt nahe, dass das stumme Werk dort, nach der Einführung des Tonfilms, keine Hutters (Gustav von Wangenheim) Gang auf die ›andere Seite‹, Filmstill, 1. Akt, 00:22:23

59 großen Erfolge mehr feiern konnte: »The picture itself is a most morbid and depressing affair without entertainment value. It will not be acceptable anywhere except in the ›arty‹ houses. For the regular picture houses it is a ›bust‹ before it starts.«11 Parallel dazu schritten in Hollywood die Vorbereitungen zur ersten offiziellen Dracula-Verfilmung voran, für die zeitweise auch zwei Deutsche gehandelt wurden. Nach dem Erfolg von Paul Lenis Der Mann, der lacht (1928) wollte Universal-Boss Carl Laemmle Hauptdarsteller Conrad Veidt für die Titelrolle verpflichten, für die Regie war einmal mehr Leni vorgesehen.12 Dessen unerwarteter Tod setzte den Plänen ein Ende. Dracula (1931) wurde daraufhin von Tod Browning realisiert, und mit Bela Lugosi, der Stokers Figur zuvor auf der Theaterbühne verkörpert hatte, betrat ein neuer Typ von Vampir die Leinwand, der mit seiner aristokratischen, unterschwellig erotischen Ausstrahlung die Vorstellung vom untoten Grafen für Generationen prägen sollte.13 GESPENSTER IN PLZEŇ Rückblickend lässt sich sagen, dass sich das cineastische Überleben von Nosferatu maßgeblich der frühen Wertschätzung verdankt, die die Surrealisten dem Film unmittelbar nach seinem Erscheinen zuteilwerden ließen.14 Vor allem der Zwischentitel »Als er die Brücke überquerte, kamen ihm die Geister entgegen«,15 der Hutters (Gustav von Wangenheim) Gang über eine hölzerne Brücke, hinein in den Machtbereich des Grafen Orlok, beschreibt, findet sich mehrfach in den Schriften der Bewegung. Als Schlüsselmoment taucht er bei André Breton und Robert Desnos auf, der in den Zeilen die Schwellenfunktion des Kinos zwischen Traum und Wachbewusstsein in paradigmatischer Weise zum Ausdruck gebracht sah.16 Ein Artikel des tschechischen Autors Vítězslav Nezval belegt, dass die frühe Würdigung nicht auf den französischen Zweig der Surrealisten beschränkt blieb. Der mit Breton bekannte Gründer der tschechoslowakischen Surrealistischen Gruppe hatte Upír Nosferatu 1933 in Prag gesehen und sich im Anschluss euphorisch darüber geäußert, mit welcher Selbstverständlichkeit der Film die Realität des Übernatürlichen behaupte,17 etwa wenn Hutter sich von seiner Frau Ellen (Greta Schröder) verabschiedet, um in das Land der Gespenster zu reisen:18 »Es klingt so echt, als würde er sagen: Wir müssen uns verabschieden. Ich fahre nach Plzeň. Es ist dieser dem Absurden entnommene Realismus, der den Film der modernen Poesie so nahe bringt.«19 Darüber hinaus verdanke sich die surreale Wirkung von Nosferatu der Einbettung aus der Zeit gefallener Objekte, über die es, wie im Fall der schwarzen Kutsche Orloks, gelinge, unsere Träume zu berühren.20 Wenig überraschend versammelte der Autor synonyme Motive auch in seinem zwei Jahre später verfassten, aber erst 1945 veröffentlichten Roman Valerie – Eine Woche voller Wunder, der von den Erlebnissen eines heranwachsenden Mädchens berichtet, dessen Leben sich mit dem Auftreten der ersten Menstruation schlagartig verändert. Fortan sieht sich Valerie den unangemessenen Annäherungsversuchen älterer Männer ausgesetzt, stellt sich ihr Alltag als Abfolge bedrohlicher Ereignisse dar, aus der es kein anderes Erwachen als das in einem weiteren (Alb)Traum gibt. Für seine 1970 entstandene, inzwischen als Spätwerk der Tschechoslowakischen Neuen Welle geltende Verfilmung orientierte sich Regisseur Jaromil Jireš nicht nur an Nezvals Roman, sondern auch an den Einflüssen des Autors:21 Nunmehr gibt sich der zwielichtige Konstabel (Jirí Prymek), der im Buch als Iltis beschrieben wird,22 Valerie (Jaroslava Schallerová) von Beginn an als ›Verwandter‹ Orloks zu erkennen, der durch seine fahle Gesichtsfarbe und rattenartige Zähne hervorsticht. Im Verlauf der Handlung verschwimmen die Identitäten der einzelnen Charaktere immer mehr. Innerhalb surrealistisch anmutender Schauplätze erscheint der Vampir dabei als Verkörperung einer alternden Generation, der jedes Mittel recht ist, um das eigene Vergehen zu verhindern. Selbst Valeries Großmutter, die – wie Ellen – schon vor der Begegnung mit dem Vampir leichenblass ist, schreckt nicht davor zurück, zur Wiedererlangung ihrer Jugend einen Pakt mit dem Blutsauger zu schließen. DENN DIE TOT EN BEISSEN SCHNELL Sieht man vom markanten Äußeren Orloks ab, hat vor allem Murnaus filmische Ausgestaltung des Irrationalen konstitutiv auf die weitere Entwicklung des Horrorgenres gewirkt. Beispielhaft hierfür steht jene Szene im Schloss des Grafen, in der der Schatten des Vampirs Besitz von dem zu Tode erschrockenen Hutter ergreift, ein Motiv, das gegen Ende noch eine Steigerung erfährt, wenn sich die Silhouette des Vampirs mit immer länger werdenden, spinnenartigen Fingern Zugang zu Ellens Schlafgemach (und Körper) verschafft.23 Allerdings deutet sich Orloks Macht schon vor dessen erstem Auftritt an, genauer in dem von den Surrealisten verehrten – von Murnau mittels auffälliger Brüche und technischer Tricks umgesetzten – Moment des Schwellenübertritts. Wirkt die Welt um Hutter zuvor noch taghell-gelb, ist sie nach dem Gang über die Brücke in bedroh-

N o s f e r a t u s S c h a t t e n F r a n k S c h m i d t liches Grün getaucht. Im nächsten Augenblick jagt die Kutsche des Vampirs in atemberaubendem, mittels Einzelbildbelichtung umgesetztem Tempo durch einen »Märchenwald«,24 dessen schaurige Atmosphäre durch die Einfügung von Negativaufnahmen sogar noch gesteigert wird. Passend dazu findet sich auf der zugehörigen Seite von Murnaus Arbeitsskript die handschriftliche Notiz: »Rasende Fahrt der Kutsche durch weissen Wald!«25 Die Szenenbeschreibung lässt, wie Knocks (Alexander Granach) vorangegangene Aufforderung »Reisen sie schnell, reisen sie gut junger Freund in das Land der Gespenster«, erahnen, dass bereits Drehbuchautor Henrik Galeen die unnatürliche Beschleunigung ins Bild gesetzt sehen wollte, die, vermittelt durch Stoker, ein weiteres literarisches Vorbild aufruft.26 Immerhin wird das Eintreffen des Gespanns, das wie in Dracula vom verkleideten Grafen gelenkt wird, auch in der Originalfassung des Romans mit der deutschsprachigen Zeile »Denn die Todten reiten schnell« kommentiert, wobei der Erzähler die Herkunft des Zitats aus Gottfried August Bürgers Lenore (1778) kenntlich macht.27 In der Ballade ersehnt die Protagonistin die Heimkehr ihres in den Krieg gezogenen Verlobten Wilhelm und verkennt, als er eines Nachts vor ihr steht, dass er längst den Tod gefunden hat. Mithin endet der gemeinsame Ritt des Paares auf dem Friedhof, wo Lenore in das Grab des Gefallenen gezogen wird. Für Nosferatu nimmt das visuell assoziierbare Zitat mit der Reise des Vampirs auch das unheilvolle Ende vorweg, stellt Hutters Begegnung mit den »unheimlichen Gesichte[n]« doch nur den Auftakt eines Albtraums dar, der seine Heimatstadt Wisborg ins Unglück stürzen und seine Frau das Leben kosten wird. Darüber hinaus gibt die Kutschfahrt einen Ausblick auf das disparate Verhalten Orloks, der blitzschnell aus seiner Starre erwacht, sobald sein Jagdtrieb ausbricht. In diesem Zusammenhang hat Lotte Eisner betont, dass die plötzlichen Angriffe gerade deshalb bedrohlich wirken, weil die Figur zuvor »mit einer fast unerträglich werdenden Langsamkeit«28 auf die Kamera zuschreitet, woraus ein Gefühl der Ausweglosigkeit resultiert.29 Es ist jene Gegenüberstellung antithetischer Dynamiken, die die weitere Inszenierung der Untoten im Film maßgeblich beeinflusst hat. Bis heute kommen die von Murnau eingeführten Effekte zur Anwendung, wenn es darum geht, die übermenschlichen Kräfte und animalischen Instinkte der Kreaturen eindrucksvoll vor Augen zu führen. Dies gilt selbst für so untypische Genrebeiträge wie Ana Lily Amirpours A Girl Walks Home Alone at Night.30 In der monochromen Vampir-Elegie durchstreift das namenlose Girl (Sheila Vand) Nacht für Nacht die trostlose Ölstadt Bad City. Wie Orlok sucht sie die Menschen in Gestalt ihrer Silhouette heim, jedoch ist nunmehr der Tschador der Hauptfigur dafür verantwortlich, dass sie zum lebendigen Schatten ihrer Opfer wird. Durch ihre betont langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen fallen ihre raubtierhaften Attacken umso erschreckender aus. Am eindrücklichsten illustriert dies der Angriff auf den Zuhälter und Drogendealer Saeed (Dominic Rains). Nachdem das Girl den Gangster in seine Wohnung begleitet hat, beobachtet sie ihn zunächst völlig regungslos. Minuten vergehen, in denen sich Saeed als das eigentliche Monster zu erkennen gibt. Als er sich der jungen Frau schließlich nähert und ihr seinen Finger in den Mund schiebt, schlägt sie gnadenlos zu: Und im Gegensatz zu Orlok, der im Angesicht von Hutters blutender Wunde nur kurz die Fassung verliert, beißt die Vampirin Saeeds Finger unvermittelt ab. Die Entscheidung dazu ist ebenso sehr eine moralische: So steht der Biss nicht nur für die Entmannung des Kriminellen, der kurz zuvor mit einer identischen Geste eine sexuelle Handlung eingefordert hat; das Girl räumt auch mit den Geschlechterklischees klassischer Vampirfilme auf, in denen für Frauen oft nur die Rolle des wehrlosen Opfers vorgesehen war. »Rasende Fahrt der Kutsche durch weissen Wald!«, Filmstill, 1. Akt, 00:23:56 Die Vampirin (Sheila Vand) in Ana Lily Amirpours A Girl Walks Home Alone at Night, 2014

61 THE WRONG VAMPIRE! AUS ORLOK WIRD KROLOCK Auch Roman Polańskis 1967 entstandene Genreparodie Tanz der Vampire bedient sich der aus Nosferatu vertrauten Stilmittel und Versatzstücke,31 wenn das Gefährt eines buckligen Gehilfen unerwartet rasant Fahrt aufnimmt oder die Protagonisten eine auffällig drapierte Brücke überqueren müssen, um an ihr Ziel zu gelangen.32 Vorrangig orientieren sich Handlung und Look aber an den beliebten Vampirfilmen der britischen Hammer Film Productions.33 Die Idee zu dem mit Gérard Brach verfassten Drehbuch entstand34 Polański zufolge bei gemeinsamen Kinobesuchen: »Wenn wir uns in Paris zusammen einen Horrorfilm ansahen, konnten wir beobachten, daß sich das Publikum vor Gelächter bog. Warum also nicht einen Film machen, der die Zuschauer bewußt zum Lachen reizte.«35 In diese Richtung weist schon der Auftakt, als der von Jack MacGowran verkörperte Professor Abronsius erst einmal aufgetaut werden muss. Gemeinsam mit seinem tollpatschigen Assistenten Alfred (Roman Polański) ist er ins winterliche Transsilvanien gereist, um nach Beweisen für die Existenz von Vampiren zu suchen. Als in einem Gasthaus die Wirtstochter Sarah (Sharon Tate) entführt und kurz darauf ihr Vater Yoyneh (Alfie Bass) angeblich ein »Opfer der Wölfe« wird, nehmen die skurrilen Vampirjäger die Verfolgung auf. Auf Skiern gelangen sie zur Residenz des Grafen von Krolock (Ferdy Mayne) und mitten hinein in die Vorbereitungen zu einem Fest, an dessen Ende Abronsius dafür verantwortlich ist, dass sich »das Böse, das er für immer zu vernichten hoffte, [...] endlich über die ganze Welt ausbreiten«36 kann. In der englischen Originalversion wirkt jenes Fazit noch pessimistischer, wird es doch von keinem Geringeren als dem Grafen selbst gezogen. Mit der Darstellung des Obervampirs karikierte Mayne den autoritären Habitus von HammerDracula Christopher Lee, dessen getragene Ausdrucksweise der in Mainz geborene Schauspieler um einen überzogenen deutschen Akzent ergänzte. Dass er kaum weniger furchteinflößend agiert als sein Vorbild, ist neben Maynes Ähnlichkeit mit dem Vorbild auch seinem dämonischen Plan geschuldet. Immerhin verkündet von Krolock seinen Gästen mit vielsagender Gestik, eine Weltherrschaft der Vampire anzustreben.37 Obgleich die theatralische Ansprache im Film mit einem lauten Nieser ad absurdum geführt wird, erscheint der deutschstämmige Adlige als überlegener Antagonist, der Abronsius’ Schriften schon vor dessen Ankunft studiert hat und seinen Gast auf diese Weise an der Nase herumführt – man denke nur an die Szene, in der der Professor zum ersten Mal auf den Grafen trifft und sich flügelschlagend um Kopf und Kragen redet. Sehr viel bedrohlicher mutet der Ausblick an, der sich im selben Moment im Hintergrund entfaltet. So werden die Wände des Salons, in dem von Krolock seine Gäste begrüßt, von einprägsamen Details aus Pieter Bruegels Triumph des Todes geschmückt, eines Gemäldes also, das ein wahres Panorama unbarmherzigen Tötens entwirft. Es handelt sich um eine Anspielung, die – wie Quentin Massys’ Bildnis einer grotesken Alten in der Ahnengalerie der Burg – Polańskis Die Vampirjäger beim Überqueren der Brücke in Roman Polańskis Tanz der Vampire, 1967 Obervampir von Krolock (Ferdy Mayne) verkündet in Tanz der Vampire seine Pläne

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