Leseprobe

AUGEN LUST ? N I E D E R L Ä N D I S C H E S T I L L L E B E N I M D E T A I L

HERAUSGEGEBEN VON Alexandra Käss, Birgit Ulrike Münch und Thorsten Valk Sandstein Verlag

AUGEN LUST ? N I E D E R L Ä N D I S C H E S T I L L L E B E N I M D E T A I L

18 Vorwort THOR S T EN VAL K 22 Augenlust? Nicht nur ein Fest für die Sinne AL EXANDRA KÄS S J AN - DAV I D MENTZE L THOR S T EN VAL K 26 Die Niederlande im Goldenen Zeitalter N I L S BÜT TNE R 36 StillLeben! Die Sprache der Dinge AL EXANDRA KÄS S J AN - DAV I D MENTZE L B I RG I T UL R I K E MÜNCH 48 Amsterdam. Die Welthauptstadt des Buches (1620–1720) PAUL D I J S T E L B E RGE LAR I S SA VAN V I ANEN 62 Global Player J E L ENA AL B E R S MA I K E B I E B I NGE R 72 Lob des Pökelherings CAR LA NADE RMANN CHAR LOT T E COLD I NG SMI TH 84 Alles Käse? Produkte vom Land J AN - DAV I D MENTZE L 100 Fremd und Eigen MAR I A OS T R I TZ 112 Tabak: Medizin, Laster, Genuss AL EXANDRA KÄS S Die Stillleben und ihre Geschichten

196 Geld regiert die Welt J AN - DAV I D MENTZE L 124 Die Schattenseiten des Luxus B I RG I T UL R I K E MÜNCH 136 Blütenpracht und Tulpenwahn UR SULA HÄR T I NG 148 Welt unter der Lupe GE RO S E E L I G 160 Kindersegen und Kindersterblichkeit J US TUS LANGE 176 Arbeitende Frauen B I RG I T UL R I K E MÜNCH 186 Künstlerinnen mit Selbstbewusstsein B I RG I T UL R I K E MÜNCH 208 B I B L I OGRAF I E 220 B I LDNACHWE I S 222 IMPR E S SUM 224 L E I HGE B E RDANK

22 Augenlust. Welcher Begriff wäre besser geeignet, um die Wirkung eines niederländischen Stilllebens aus dem 17. Jahrhundert zu beschreiben? Unser Auge wird umschmeichelt und verführt. Unser Blick badet geradezu im Glanz exotischer Früchte und kostbarer Gefäße. Zugleich werden über unseren Sehsinn auch alle anderen Sinne aktiviert: Frischen Obstblüten entsteigt ein Hauch künftiger Süße, reife Beeren verströmen den Duft sinnlicher Fülle, delikate Pasteten lassen uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Leichte Weine versprechen ein angenehmes Prickeln auf der Zunge, glatte Silberbecher verheißen unseren Fingerspitzen verlockende Kühlung, kunstvoll geformte Instrumente lassen imaginäre Melodien erklingen und wieder verhallen. Die niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts laden dazu ein, sich an Kostbarkeiten und luxuriösen Gegenständen zu erfreuen, die Fülle des Lebens zu genießen und die Meisterschaft jener Künstler:innen zu bewundern, die mit ihrer Malerei das Vergängliche ins Dauerhafte gehoben haben. Wären die Stillleben allerdings nur schön und prächtig, würde die Augenlust vermutlich rasch erlahmen. Nicht wenigen Stillleben ist daher eine eigentümliche Spannung eingeschrieben, die mal aus kleinen Unregelmäßigkeiten, mal aus rätselhaften Motivkonstellationen und mal aus einer vielbezüglichen Symbolik erwächst. Zudem umkreisen Stillleben immer auch die Frage nach der Flüchtigkeit irdischer Güter. Mit subtilen Hinweisen wie einer vertrockneten Blüte oder einer fauligen Stelle am Obst erinnern sie uns daran, dass es keine Sinnlichkeit ohne vergängliche Körperlichkeit geben kann. Ein Stillleben ist ein Ort der Entdeckungen. Es weckt unseren Spürsinn und fordert uns auf, mit neugierigem Blick die verschiedenen Ebenen der Bildwelt zu erkunden. Augenlust? Nicht nur ein Fest für die Sinne ALEXANDRA KÄSS · JAN-DAV ID MENTZEL THORSTEN VALK

23 Die Aufmerksamkeit und Neugier, die ein niederländisches Stillleben des 17. Jahrhunderts heute zu wecken vermag, hängt nicht nur von der Lebensnähe der gezeigten Dinge ab, sondern auch von den historischen Einblicken, die es gewährt. Der sinnliche Genuss etwa, der sich beim Betrachten eines kunstvoll zubereiteten Herings einstellt, beruht nicht nur auf einer Erinnerung an den salzigen Geschmack des gepökelten Fisches, sondern lebt auch vom Wissen um seine einstige Wertschätzung. So verband sich beispielsweise in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts mit dem Motiv des Herings immer auch der Stolz auf eine europaweit führende Fischindustrie. Jeder Gegenstand eines Stilllebens öffnet Türen in eine historische Lebenswelt, jedes Objekt lenkt unseren Blick auf eine vergangene Realität, die uns gelegentlich noch vertraut, zumeist jedoch fremd geworden ist. Den Gegenständen und Details eines Stilllebens nachzuspüren heißt daher immer, seine Referenz auf eine außerästhetische Wirklichkeit zu erfragen, mithin seinen soziokulturellen Hintergrund auszuleuchten. Dieses Ziel verfolgt auch unsere Ausstellung: Wir verweben die Betrachtung der Stillleben und ihrer Bildwelten mit einer ausgedehnten kultur- und sozialgeschichtlichen Reise in die Niederlande des 17. Jahrhunderts. Der Schatten der Wirklichkeit Warum haben wir den Titel Augenlust mit einem Fragezeichen versehen? Warum soll die lustvolle Betrachtung, mit der die Gattung des Stilllebens immer kalkuliert, fragwürdig sein? Kurzgefasst: Unsere Lust ist problematisch, sofern sie sich selbst genügt und jene Reflexion blockiert, die das Zustandekommen der auf einem Stillleben ausgebreiteten Pracht hinterfragt. Schwelgen und Reflektieren scheinen sich auf den ersten Blick nicht zu vertragen. Doch exakt diese spannungsvolle Verschränkung streben wir an. Mit unserer Ausstellung schaffen wir einer Betrachtungsweise Raum, die durchaus lustbetont ist und doch zugleich die Stillleben in den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit einbettet. Das heißt nicht, dass wir jenen historischen Blick rekonstruieren, mit dem ein Mensch des 17. Jahrhunderts auf die Gemälde geschaut hat. Vielmehr verfolgen wir das Anliegen, ausgehend von den Stillleben ein differenziertes Bild der damaligen Lebenswelt, ihrer Bedingungen und sozialen Realitäten nachzuzeichnen. Wer diesen Weg geht, taucht ein in eine oft faszinierende und immer wieder erstaunlich moderne Welt, in der Naturwissenschaft, Entdeckergeist, Literatur und Malerei eine Blütezeit erlebten, Handel und Wirtschaft florierten. Es wird allerdings auch jene Realität des niederländischen Alltags sichtbar, die keineswegs »golden« war, sondern vielmehr von großer Armut und erdrückender Arbeitslast, von wiederkehrenden Pestwellen und hoher Kindersterblichkeit geprägt wurde. Ferner zeigt sich, dass der auf einem Stillleben oftmals inszenierte Luxus keineswegs unschuldig ist. Was begnadete Künstler:innen im 17. Jahrhundert mit unglaublicher Perfektion auf die Leinwand gebannt und im Bild festgehalten haben, musste zunächst einmal angebaut oder hergestellt, für viel Geld gehandelt und nicht selten auch aus überseeischen Kolonien importiert werden – und dies geschah oft auf fragwürdige Weise. Ausbeutung und Sklaverei müssen als die zumeist unsichtbar bleibenden Voraussetzungen für jenen Luxus und Wohlstand angesehen werden, den die Stillleben bis heute vor unseren Augen ausbreiten. Was die niederländischen Stillleben zeigen, zeugt also nicht nur von den faszinierenden Hervorbringungen der Natur und von den einzigartigen Errungenschaften menschlicher Schöpferkraft, sondern vielfach auch von globaler Marktmacht und von Wohlstand, der auf systematischer Ausbeutung beruhte. Die Stillleben haben eine Kehrseite, welche die bloße Augenlust problematisch werden lässt. Über der Pracht und dem Glanz vieler Gemälde liegt

Augenlust? Nicht nur ein Fest für die Sinne 24 ein Schatten, den man nicht mit dem Auge wahrnimmt, der aber dennoch zur Wirklichkeit der dargestellten Bildwelt gehört. Diesem Umstand Rechnung tragend, wollen wir in unserer Ausstellung spontane Augenlust und historische Reflexion zusammenführen. Für uns sind Stillleben immer auch ein Sprungbrett in die Niederlande des 17. Jahrhunderts mit ihren eindrucksvollen Errungenschaften und ihren gleichermaßen dunklen Seiten. In den Stillleben liegt eine ganze Welt verborgen, wenn man nur genau hinschaut. Slow Exhibition Stillleben involvieren vermutlich stärker als jede andere Bildgattung die Betrachtenden selbst. Sie leben vom Dialog zwischen Rezipient:in und Gemälde. Obwohl auf Stillleben zumeist keine Personen dargestellt sind, zeugen nahezu alle Spuren im Bild von menschlicher Gegenwart und menschlichem Leben. Wir stehen gleichsam vor der für uns gedeckten Tafel und sind aufgefordert, uns zu den dargestellten Dingen ins Verhältnis zu setzen. So entsteht im besten Fall ein immer differenzierteres, letztlich aber unabschließbares Wechselspiel zwischen aufmerksam-lustvoller Betrachtung und facettenreicher, nachdenklicher Befragung. Dieses Wechselspiel anzuregen, ist uns ein zentrales Anliegen. Unser Ausstellungskonzept setzt daher auf ein besonderes Gut: die Möglichkeit, in Ruhe und mit Muße vor einem Bild zu verweilen, ohne dabei von der Sorge geplagt zu werden, nur die Hälfte des Ausstellungsparcours bewältigen zu können. Das Konzept unserer Ausstellung beruht ganz wesentlich auf dem Prinzip der Reduktion und einer damit einhergehenden Entschleunigung. Entlehnt der Idee des Slow Food, des aufmerksamen und nachhaltigen Essens, zeigen wir eine »Slow Exhibition« mit lediglich 15 Stillleben, die jeweils einen eigenen Bereich erhalten. Eine architektonische Rahmung schafft den erforderlichen Raum für die ungestörte Betrachtung eines einzelnen Bildes. Da jedes Gemälde zunächst ganz für sich steht, entfallen bestimmte Auswahl- und Vergleichskriterien wie eine besondere Künstler:innenpersönlichkeit, ein spezieller Stil oder eine bestimmte Bildthematik. Die 15 für unsere Ausstellung ausgewählten Stillleben unterscheiden sich sowohl thematisch als auch stilistisch. Jede Bildbetrachtung wird von einer ganz eigenen Erzählung getragen. Und doch bildet die Ausstellung auch eine Einheit, schließlich entwickelt sich mit unserer Leitfrage nach sozialen Lebenswirklichkeiten hinter den Bildern eine weit ausschwingende Erzählung über die Niederlande im 17. Jahrhundert. Ein Zeitalter wird besichtigt Die auf den Stillleben dargestellten Dinge stehen zunächst nur für sich selbst. Doch sind sie zugleich immer auch Spuren in die Vergangenheit und Zeugen jener vielfältigen Geschichten, die sich hinter den Bildern verbergen. Wir holen diese Spuren in die Gegenwart der Ausstellung, indem wir den Stillleben kunsthandwerkliche Objekte und alltägliche Gebrauchsgegenstände ebenso beiordnen wie Briefe, Karten und Bücher. Dieses breite Spektrum an verschiedenen Artefakten lässt das in den Bildern gespeicherte Wissen lebendig werden. Werkzeugen – wie etwa einer reich verzierten Leinenpresse – lässt sich ganz intuitiv ihr Gebrauch ablesen. Die Existenz einer solchen Gerätschaft verrät zudem etwas über den Stellenwert, der den feinen Leinen- und Damaststoffen in einem niederländischen Haushalt des 17. Jahrhunderts beigemessen wurde. Vielfältige Verzierungen zeigen zudem,

25 dass die Leinenpresse nicht nur ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand war, sondern als Schaustück auch die Reinlichkeit und Ordnung des Hauses symbolisierte. In der Zusammenschau mit einem solchen Artefakt gewinnen die präzise geplätteten Damastdecken auf einem Stillleben eine Bedeutsamkeit und Lebendigkeit, die über unser Staunen angesichts der malerischen Präzision weit hinausreichen. Freilich lässt sich nicht das gesamte Wissen so deutlich und unmittelbar an erhaltenen Gegenständen abmessen. Oft sind es daher die reich illustrierten Bücher der Zeit, die das technische Wissen und die soziale Realität in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Bücher haben sich glücklicherweise in großer Zahl erhalten; schließlich war Amsterdam zur damaligen Zeit die Hauptstadt der Buchproduktion in Europa. Indem wir den Gemälden unserer Ausstellung Gebrauchsgegenstände, kunsthandwerkliche Objekte und Bücher zur Seite stellen, dehnen wir die Stillleben gleichsam in den Raum und entfalten einen ebenso facettenreichen wie nachdenklichen Blick in die Lebenswelt der Niederlande des 17. Jahrhunderts. Gemälde und flankierende Exponate spiegeln und verweben sich auf ihre eigene Art und fügen sich so zu begehbaren Erfahrungsräumen. Die Rede von Erfahrungsräumen ist dabei keineswegs metaphorisch gemeint: Tatsächlich entwickelt sich in der Ausstellung rund um jedes Stillleben auch physisch ein ganz eigener Kosmos. Jedes Gemälde birgt eigene Zusammenhänge und bietet damit die Chance, ganz unterschiedliche Aspekte des 17. Jahrhunderts in den Fokus zu rücken. Gemeinsam aber fügen sie sich zu Facetten eines umfassenderen, panoramatischen Blicks, zu Knotenpunkten eines größeren Gewebes. Durch dieses laufen unzählige Fäden, aus denen sich die Umrisse eines Bildes der Niederlande im 17. Jahrhundert spannen lassen. Die Ausstellung versteht sich als Experiment. Sie erprobt ein neues Format und versucht dabei, sowohl die ästhetische Dimension der Kunstwerke als auch ihre sozialhistorische Verwobenheit sichtbar zu machen. Wenn geglückt sein sollte, was uns während der Realisierungsphase vorschwebte, bietet sie dabei zweierlei: die lustvolle Erfahrung einer entschleunigten Bildbetrachtung und eine Reise in die Niederlande des 17. Jahrhunderts mit allen Errungenschaften und Abgründen. Der Blick auf die historische Realität hinter den Gemälden soll uns nicht die Lust an den prächtigen Bildwelten vergällen, er darf und muss uns aber durchaus daran erinnern, dass die global agierenden Niederländer:innen vor 400 Jahren, ebenso wie wir heute, ihren Wohlstand oftmals auf sozialer Ausbeutung und gewaltigen Ressourcenverschleiß gründeten. Augenlust ja, aber mit Fragezeichen.

Die Niederlande im Goldenen Zeitalter 26

27 Das gebildete Europa war beeindruckt. Ausländische Reisende, die ihre Gedanken über die Niederlande zu Papier brachten, äußerten zumeist ihr Staunen. Selbst wo politische Überzeugungen eine kritische Haltung vorgaben, werden zwischen den Zeilen Bewunderung und Respekt deutlich.1 Auf der Landkarte des höfischen Europas der Vormoderne war und blieb die niederländische Republik eine Ausnahme, deren Entstehung einer Verkettung historischer Umstände zu verdanken war und die reiche Kunstproduktion des sogenannten Goldenen Zeitalters ermöglichte. Als rhetorischer »Gemeinplatz« der klassischen Literatur fand die aurea aetas ihre bekannteste Ausformung in Ovids Metamorphosen.2 Er beschrieb jene glückliche Epoche, in der es im Anschluss an die Erschaffung des Menschen keine Gesetze, Furcht, Strafe, Seefahrt oder Krieg gab. Die Welt des Goldenen Zeitalters war frei von Zwang; es flossen Milch und Honig. Es folgte ein Silbernes Zeitalter, in dem Ackerbau und Architektur erfunden wurden. Im Bronzenen Zeitalter waren die Menschen schneller zum Krieg bereit, bis schließlich jenes bis in die Gegenwart reichende Eiserne Weltalter begann, das von Krieg und Mord geprägt ist. Wo immer man in der heute als »golden« bezeichneten Epoche der Vormoderne den klassischen Topos bemühte, war seine utopische Dimension gemeint. Das in Gemälden beschworene Goldene Zeitalter galt als unwiederbringlich verloren und war von der zeitgenössischen Realität – von Krieg geprägt – denkbar weit entfernt. Die Einschränkung der Glaubensfreiheit unter dem spanischen König Philipp II., dessen zentralistische und alte Privilegien einschränkende Politik sowie wirtschaftliche Schwierigkeiten hatten in den habsburgischen Niederlanden zwischen 1579 und 1581 nach Aufstand und militärischer Intervention unter Herzog Alba zur Gefolgschaftsverweigerung der sieben nördlichen Provinzen geführt, den heutigen Niederlanden.3 80 Jahre lang, von 1568 bis 1648, erkämpften und verteidigten die Vereinigten Provinzen ihre Herauslösung aus der habsburgischen Herrschaft. Auch nachdem der Doppelfrieden von Münster und Osnabrück die De-jure-Anerkennung des neuen Staatswesens gebracht hatte, folgten weitere Kriege, vor allem mit Frankreich und England. Es versteht sich, dass dieser Essay die historische Entwicklung nur in Ansätzen referieren kann. Die folgenden Ausführungen sollen nur einen Einblick in die reiche Kultur- und Wirtschaftsgeschichte geben, vor deren Hintergrund erst die so zahlreich überlieferten Bilder der Zeit verständlich werden. Die Niederlande im Goldenen Zeitalter N I L S BÜT TNE R Abb. 1 JAN S T E EN Adolf und Catharina Croeser (Der Bürgermeister von Delft und seine Tochter) 1655 Öl auf Leinwand 106 × 96 cm Amsterdam, Rijksmuseum, SK-A-4981

Die Niederlande im Goldenen Zeitalter 28 Der »Geist des Kapitalismus« Schon der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hatte in seiner Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1820/21 die Bilder in dieser Weise gedeutet: »Der Holländer hat sich zum großen Teil den Boden, darauf er wohnt und lebt, selbst gemacht und ist ihn fortdauernd gegen das Anstürmen des Meeres zu verteidigen und zu erhalten genötigt; die Bürger der Städte wie die Bauern haben durch Mut, Ausdauer und Tapferkeit die spanische Herrschaft unter Philipp II., dem Sohne Karl V., dieses mächtigen Königs der Welt, abgeworfen und sich mit der politischen ebenso die religiöse Freiheit in der Religion der Freiheit erkämpft. Diese Bürgerlichkeit und Unternehmungslust im Kleinen und im Großen, im eigenen Land, wie ins weite Meer hinaus, dieser sorgfältige und zugleich reinliche nette Wohlstand, die Froheit und Übermütigkeit in dem Selbstgefühl, dass sie dies alles ihrer eigenen Tätigkeit verdanken, ist es, was den allgemeinen Inhalt ihrer Bilder ausmacht.«4 Der von Hegel und den deutschen Klassikern verherrlichte Freiheitskampf der Niederlande ist ein nationalistischer Mythos, den seit der Gründung des niederländischen Königreichs auch die vaderlandsche geschiedenis praktizierte, jene vaterländische Geschichtsschreibung, die auch den Begriff des Goldenen Zeitalters prägte. Sie entwarf ein Bild der Niederlande, das als Ferment nationalen Selbstverständnisses und internationaler Vorurteile bis heute wirksam ist. Besonders wirkmächtig waren dabei die inzwischen widerlegten Ideen Max Webers (1864–1920) über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus.5 Bis heute gelten erfolgreicher Handel und Reinlichkeit, Bürgerfleiß und ein dem Protestantismus geschuldetes Arbeitsethos als allgemeine Kennzeichen der niederländischen Vormoderne und Teil des Nationalcharakters. Nicht selten werden dabei auch die so zahlreich überlieferten Bilder und ihre Maler und Malerinnen im Kontext dieser Grundannahme angeführt, die bei genauerer Betrachtung im Widerspruch zu den Quellen stehen. Ritter, Regenten, Religion Entgegen den heute verbreiteten Vorurteilen war auch nach der Ablösung vom habsburgischen Süden die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung katholisch, wobei die Mehrheit der Bevölkerung gar keine Religion aktiv praktizierte.6 Noch um das Jahr 1620 waren nur etwa 20 Prozent der in der Republik lebenden Menschen Mitglied einer reformierten Gemeinde.7 Doch in allen wichtigen politischen Ämtern hatten die Reformierten die Mehrheit. Dank ihres politischen Einflusses hatten sie es auch erreicht, dass den Altgläubigen die öffentlich sichtbare Ausübung ihres Glaubens verboten wurde. Das änderte nichts daran, dass viele patrizische Familien ihrer angestammten Religion treu blieben. Ein sprechender Beleg für die Fragwürdigkeit der Deutung der niederländischen Kunst- und Kulturgeschichte aus dem Geist des Protestantismus ist der als holländischster aller Maler gepriesene Jan Vermeer (1632–1675), der mit seiner katholischen Familie fest in das Milieu der altgläubigen Delfter Oberschicht integriert war.8 Die Angehörigen der niederländischen Eliten waren nicht nur in vielen Fällen katholisch, sie pflegten auch, unabhängig von ihrer Konfession, einen Lebensstil, der sich an den Werten und Normen der höfischen Gesellschaft orientierte (Abb. 1). Wie die im 19. Jahrhundert popularisierte Idee der protestantischen Niederlande hält auch die Vorstellung einer vorherrschend bürgerlichen Kultur der Überprüfung nicht stand. So dominierte der Adel noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf allen Herrschaftsebenen, auch wenn im Verlauf des Jahrhunderts Patrizier und Kaufleute in der sich etablierenden Regentenrepublik zunehmend das Sagen hatten.9 Doch trotz des geringen Anteils

29 der adeligen Familien an der Gesamtbevölkerung waren und blieben die Adeligen vermögend und einflussreich.10 Auch wurde ihr Status durch die aufstrebenden Kaufmannsfamilien nicht hinterfragt, die sich – im Gegenteil – sogar selbst um adelige Titel und Privilegien bemühten und sich in ihrer Selbstinszenierung an den Werten und Normen der höfischen Gesellschaft orientierten. Die Adeligen, im Niederländischen als ridderschap bezeichnet, waren eine finanziell und vor allem politisch einflussreiche Untergruppe der herrschenden und allmächtigen Regentenklasse.11 In Fragen von Stil und Geschmack gab auch in den Niederlanden der Adel den Ton an. Durch sein an internationalen Standards orientiertes Mäzenatentum wirkte dabei vor allem der Hof in Den Haag als Vorbild für das aufstrebende Bürgertum, dessen Mitglieder die Werte und Normen der höfischen Gesellschaft akzeptierten und sich als Medium der sozialen Distinktion anverwandelten. Abb. 2 GER R I T B ERCKHE YDE Die Gouden Bocht der Herrengracht von Osten 1685 Öl auf Leinwand 53 × 62 cm Amsterdam, Rijksmuseum, SK-A-682

StillLeben! Die Sprache der Dinge 36

37 Unmöglich, sich sattzusehen! Immer wieder lassen sich neue verführerische Details auf dem Stillleben von Johannes Hannot (1633–1684) entdecken (Abb. 1). Der Künstler lädt uns dazu ein, zu verweilen und zu genießen, sein malerisches Können zu bewundern und seinem Werk schauend einen Sinn zu geben. Wie strahlend die verschiedenen Weinbeeren glänzen, wie die Ranken kalligrafisch das Bildfeld erschließen, wie der zarte Schmelz des chinesischen Porzellans oder die Spiegelung des Zinntellers inszeniert sind, bereitet eine ungemeine Freude beim Betrachten.1 Es ist die Exaktheit in der Wiedergabe, die Detailgenauigkeit, die oftmals zuerst mit Stillleben assoziiert wird. Diese Eigenschaft weist das Gemälde von Hannot ohne jede Frage auf, erschöpft sich aber keineswegs in ihr. Der Maler achtet darauf, die Gegenstände geschickt zu einem dreiecksförmigen Ensemble zu arrangieren. Gekonnt unterstützt die Verteilung der unterschiedlichen Farben den Aufbau. Die warmen Gelbtöne der Früchte spannen eine Basis auf, über der das Porzellan ein schimmerndes Zentrum aus luftigem Blau-Weiß bildet, das in die delikaten Grüntöne der Traube übergeht. Doch nicht nur die Komposition, auch die Lichtführung ist entscheidend, die jeden Gegenstand in seiner Einzigartigkeit hervorhebt und zugleich alles zu einer Einheit vor dunklem Grund zusammenschließt, das Glas transparent und die Früchte plastisch erscheinen lässt. Und doch: Auch die genaueste Beschreibung kann das Bild nicht einholen, immer bleiben Details, kompositorische Eigenheiten, malerische Finessen und sinnstiftende Zusammenhänge unbenannt. Selbst nach längerer Betrachtung öffnet sich immer noch der Blick auf Neues. Zudem sind die sich anschließenden Fragen nach den Hintergründen, der Symbolik und dem Sinn des Arrangements noch gar nicht gestellt. StillLeben! Die Sprache der Dinge AL EXANDRA KÄS S · J AN - DAV I D MENTZE L B I RG I T UL R I K E MÜNCH

38 Still Leben! Die Sprache der Dinge Was dieser erste Blick auf ein Stillleben wie jenes von Hannot bereits ohne vertiefende Überlegungen deutlich macht, ist dessen besondere Abhängigkeit von der aufmerksamen Betrachtung. Es fordert eine aktive Auseinandersetzung, ja lebt geradezu davon, dass wir uns zu ihm in Bezug setzen. Finden wir uns zu einer solchen Betrachtung nicht bereit, bleibt das Bild stumm; lassen wir uns auf seine Details ein, schweigt das Bild keineswegs, sondern wird zum beredten Gesprächspartner. Was ein Stillleben erzählt, wenn es mit aufmerksamer Geduld angesehen wird, hängt jedoch davon ab, welche Erwartungen an seine Betrachtung geknüpft werden: Geht es um den ästhetischen Genuss, die kennerschaftliche Freude am unverwechselbaren Stil, um verborgene Sinnschichten, eine Reflexion über den Wert der gezeigten Dinge oder gar um die dargestellten Gegenstände selbst und ihren Ursprung? Jedes Mal überrascht ein Stillleben mit anderen Geschichten. Der Begriff »Stillleben« Dass Johannes Hannots Gemälde ein Stillleben ist, würde wohl niemand bezweifeln, und vermutlich jeder Mensch hat zumindest eine vage Idee davon, was ein Stillleben ist. Eine Definition zu geben, fällt hingegen erstaunlich schwer. Ein Versuch könnte wie folgt lauten: Stillleben sind künstlerische Zusammenstellungen von Gegenständen, Pflanzen und meist unbewegten Tieren nach ästhetischen und inhaltlichen Prinzipien ohne die Wiedergabe handelnder Menschen.2 Abgesehen davon, dass eine solch knappe Definition nichts über Geschichte, Herstellung, Bedeutung oder Benutzung der so umrissenen Bilder verrät, ist auch die Begriffsbestimmung selbst nicht befriedigend. Zum einen ist sie nämlich so unkonkret, dass sie ebenso Bilder einschließen könnte, die dem allgemeinen Verständnis nach gar keine Stillleben sind. Zum anderen lassen sich leicht Gemälde benennen, die diese Definition nicht erfüllen, obwohl sie durchaus als Stillleben gelten. Ist die Darstellung von Unterholz mit Insekten und Kriechtieren ein Stillleben oder weist ein solches Bild zu viel Bewegung auf? Gilt ein Kücheninterieur noch als Stillleben, wenn Köchin oder Fischverkäufer im Raum agieren? Was ist mit Darstellungen von Hausrat in einem Hofwinkel, der Wiedergabe von Jagdbeute mit Hintergrundszene oder von Blumen und Kunstgegenständen vor einer Gartenlandschaft, ganz abgesehen von einem Marktstand samt Verkäuferin? Sie alle lassen sich ebenso mit guten Argumenten als Stillleben bezeichnen. Ihre Aufzählung macht deutlich, wie vielfältig und weitläufig dieser Bereich ist und wie schwer es dementsprechend fällt, eine treffende Definition zu finden. An den Rändern wird die Einstellung sofort unscharf. Das überrascht nicht, handelt es sich bei Stillleben doch um eine historisch gewachsene Bildgattung. Definitionsversuche und das Bemühen um ihre theoretische Einordnung erfolgten erst, als sich die neue Malereigattung voll entfaltet hatte. Mehr über die Bilder und unser Verständnis von ihnen erfahren wir deshalb, wenn wir ihre Geschichte betrachten. Zu dieser gehört selbstverständlich auch die Entstehung und Benutzung des Begriffs »Stillleben« selbst. Wo kommt er her und wie wurde er ursprünglich gebraucht? Zunächst scheint er in sich selbst widersprüchlich. »Leben« erinnert an Bewegung und Veränderung, der Wortteil »still« bezeichnet geradezu das Gegenteil davon. Ähnlich verwirrend ist die in romanischen Sprachen verwendete Bezeichnung nature morte, natura morta, also »tote Natur«. In der deutschen Sprache kam der Begriff »Stillleben« im späten 18. Jahrhundert in Gebrauch. Er ist mit dem niederländischen Wort »stilleven« verwandt, das zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Tradition zurückblickte.3 Erstmals nachweisen lässt sich »stilleven« in einem Inventar von 1650.4 Schon damals muss der Begriff so gebräuchlich gewesen sein, dass seine Nennung ohne weitere Erklärung auskam. Ursprünglich stammt er aus der

39 künstlerischen Praxis. Kunstschaffende sprachen davon, etwas »naar het leven« (nach dem Leben) zu malen, was nichts anderes besagte, als dass sie einen Gegenstand abmalten, den sie wirklich vor Augen hatten. Von dieser Wendung leitet sich der Wortteil »leven« her. Das »still« konkretisiert, dass es sich um unbewegliche Gegenstände handelte. Darf man dieser Beschreibung glauben, arrangierten die Maler:innen also wirklich vorhandene Dinge im Atelier und malten sie sodann ab. Eine außergewöhnliche Darstellung von Jan Miense Molenaer (1609/10–1668) scheint diese Vorstellung zu bestätigen und hält die Entstehung eines Stilllebens in idealisierter Weise fest (Abb. 2). Konzentriert mischt der junge Mann in eleganter Kleidung Farben auf seiner Palette, um das aufwendig zusammengestellte Ensemble aus Instrumenten und Schädeln auf die Leinwand zu bannen. Natürlich ist nicht jedes Stillleben nach Originalen entstanden. Vielmehr haben Kunstschaffende im Sinne malerischer Ökonomie auch auf Studienblätter und bewährte Motive zurückgegriffen, um ihre Kompositionen anzufertigen. Das gilt sicherlich in besonderer Weise für Darstellungen von Pflanzen und Tieren, über die nicht immer verfügt werden konnte. Zunächst haben wir es bei »Stillleben« also mit einem Begriff aus der künstlerischpraktischen Sphäre zu tun, der dann zu einer allgemeinen Bezeichnung wurde, die auch in der Kommunikation mit der Käuferschaft nützlich gewesen sein dürfte. Inventare verraten Abb. 1 J OHANNE S HANNOT Stillleben mit Früchten 1654 Öl auf Leinwand 48×63,5 cm Bonn, LVR-LandesMuseum Bonn, 1935.256

62 Global Player

Global Player J E L ENA AL B E R S · MA I K E B I E B I NGE R 1 J AN VAN DE R HE YDEN Stillleben mit Gobelinvorhang 1669/70 Öl auf Eichenholz 51×44,2 cm Detail Hamburg, Hamburger Kunsthalle Inv. HK 729

64 Global Player Ein Globus, Atlanten und Karten, nautische Instrumente, links auf dem Buch ein Kompass, rechts neben dem Tisch eine Armillarsphäre. Jan van der Heydens (1637–1712) Stillleben mit Gobelinvorhang erlaubt uns einen Blick in das Arbeitszimmer eines Menschen mit weltumspannenden Interessen. Die Gegenstände geben Hinweise auf seine internationalen Beziehungen: links hinter dem Globus die kostbar gefasste Nautilusmuschel aus dem Indischen Ozean, in der Bildmitte rechts neben der aufrecht stehenden Karte eine Naginata, ein japanischer Speer aus dem 12. Jahrhundert. Rechts im Hintergrund leuchtet eine Statuette hervor, möglicherweise aus Asien. Das Gefühl, dass noch mehr im Bild zu entdecken ist, wird durch das Trompe-l’Œil-Element des mit leichtem Schwung über die linke Bildecke geführten Gobelinvorhangs ausgelöst. In welchem Zusammenhang stehen all diese Gegenstände und wem könnten sie gehören? Während Landkarten, Globus und Atlas an die weltweiten Aktivitäten der Niederländer erinnern, zeugen die Bücher und die Armillarsphäre von dem hohen Bildungsgrad der abwesenden Person. Nautiluspokal, japanische Lanze und Kabinettschrank verweisen darauf, mit welchem Kunstsinn hier gesammelt wurde, und erzählen zugleich von der Faszination ferner Länder. Die enge Stube entwirft demzufolge nicht nur das Idealbild einer umfassend gebildeten Sammlerpersönlichkeit, sondern bringt den globalen Anspruch der Niederlande selbst zum Ausdruck – durchaus im Einklang mit der Realität: Die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande entwickelte sich im 17. Jahrhundert zu einer global agierenden See- und Handelsmacht. Ein bis heute faszinierendes Phänomen, schließlich lebten in den Niederlanden nur etwa zwei Millionen Menschen. 1 Stillleben mit Gobelinvorhang

66 Global Player Der Weg zum Erfolg: die Niederlande als Handelsnation Viele Faktoren waren am wirtschaftlichen Erfolg der Niederlande beteiligt – die Bevölkerungsdichte und hohe Urbanisierung, viele Flüsse und Kanäle und eine entsprechend günstige Infrastruktur für den Binnenhandel per Schiff, Erfolge im Ostseehandel seit dem frühen 15. Jahrhundert, die Innovationskraft in Schiffbau, Instrumentenbau, Navigation und Kartografie, etwa bei der Entwicklung kleinerer und preiswerter Schiffe und den dadurch erzielten Wettbewerbsvorteilen. Hinzu kamen ein trotz – oder gerade wegen – der finanziellen Belastungen des achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien (1568–1648) funktionierendes Staatswesen und last, but not least erstaunliche Erfolge im globalen Handel. »Die Niederländer sind die Fuhrleute der Welt, die Vermittler im Handel, die Faktoren und Makler Europas; sie kaufen, um wieder zu verkaufen, sie führen ein, um auszuführen; und der größte Teil ihres riesigen Handels besteht darin, von allen Teilen der Welt versorgt zu werden, um die ganze Welt zu versorgen.«1 Das schrieb der Autor Daniel Defoe noch 1728 in einem Traktat. Hierbei spielte die 1602 gegründete Ostindien-Kompanie (VOC) eine tragende Rolle. Sie sorgte für eine 200-jährige Vormachtstellung der Niederländer im Asienhandel. Die Gesellschaft, ein staatlich legitimierter und privilegierter Zusammenschluss von Kaufleuten, galt als größtes und wirtschaftlich erfolgreichstes Handelsunternehmen des 17. Jahrhunderts. Ebenfalls erfolgreich, aber finanziell nicht annähernd so wichtig, war die kurze Zeit später gegründete Westindien-Kompanie (WIC). Beide Kompanien sollten die Zersplitterung der niederländischen Kaufleute in konkurrierende Handelsunternehmen beenden. Sie erhielten weitreichende Hoheitsrechte, zu denen beispielsweise zählte, Kriege zu führen, Siedlungen in Übersee zu gründen und ihre eigene Rechtsprechung durchzusetzen. Zunächst wurde der VOC in ihrem Gründungsjahr staatlich ein 21 Jahre währendes Monopol für den Gewürzhandel mit Südasien zugeteilt, der besonders hohe Gewinne versprach. Zumindest im 17. Jahrhundert konnten die in Asien erworbenen Gewürze und später auch Luxusgüter in Holland für den dreifachen Preis verkauft werden. Durch ihren rasant expandierenden Asienhandel importierten die Niederländer so einerseits Waren wie Gewürze, Kaffee oder Tee, brachten andererseits aber auch die niederländische Kultur sowie ihre Waren und Werte – ob gewollt oder ungewollt – in die neuen Niederlassungen in Asien. In zwei Jahrhunderten transportierte die VOC mit ca. 4 700 Schiffen mehr als eine Million Menschen (Abb. 1). Von den 5 000 Menschen, die jährlich per Schiff nach Südostasien reisten, blieben etwa zwei Drittel dort.2 Viele von ihnen dauerhaft, sodass die niederländische Kultur in den von einer multikulturellen Bevölkerung geprägten Handelsposten einen großen Einfluss hatte.3 Die Reise nach Batavia (dem heutigen Jakarta, Indonesien) dauerte etwa 200 bis 258 Tage, die Rückfahrt 218 bis 230 Tage – eine gefahrvolle und lange Reise, die durch die Bemühungen der VOC immer sicherer wurde. Dennoch blieb die Sterberate hoch: Zwischen 1670 und 1680 betrug sie auf der Hinfahrt neun Prozent, auf der Rückfahrt rund sechs Prozent.4 Die vergleichsweise gute Entlohnung inklu1 Detail

67 Abb. 1 N I EDER - L ANDE ( ? ) Spiegelretourschiff »De Eendragt« 3. Viertel 18. Jh., 97×96×46 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, HM1016 sive voller Verpflegung des Schiffspersonals sowie die guten Aufstiegschancen erklären – allen Gefahren zum Trotz – die hohe Nachfrage nach einer Beschäftigung auf See bei der VOC. Einfache Matrosen verdienten zwar nur 84 bis 132 Florin pro Jahr, da sie das Geld aber unterwegs nicht ausgeben konnten und dazu noch die Möglichkeit des Zuverdiensts durch illegalen, aber von den Verantwortlichen der VOC stillschweigend geduldeten privaten Handel hatten, konnten sie von der Entlohnung gut leben.5 Überseefahrten nach Asien und Amerika wären ohne nautische Instrumente wie Kompass oder Sextant sowie gute und vor allem stets aktuelle Karten nicht denkbar gewesen. Seit den 1570er-Jahren waren die Niederländer in der Produktion von Karten und Atlanten federführend. Nicht zuletzt verrät die Form der Karten aber auch immer etwas über das herrschende Weltverständnis – nach und nach erfolgte damit ein »Wandel vom symbolischen Rund der christlichen Heilsgeschichte zur modernen, vermessenen Weltkarte«.6 Genau dies spiegelt sich durch Globus, Atlanten, Karten und nautische Geräte im Stillleben wider. Genau wie die konkurrierenden Seemächte Portugal und Spanien, und später vor allem England, sicherten die Niederländer ihre Überseerouten durch die Errichtung von zahlreichen Stützpunkten entlang der Küsten. Dabei kam es immer wieder zu gewaltsamen und kriegerischen Auseinandersetzungen um Niederlassungen, aber auch um Handelsprivilegien und -verträge. Wurden diese verletzt, griff die VOC häufig zu Gewalt: Vertragsbrüchige Produzenten wurden getötet oder versklavt, Plantagen und Waren zerstört – nicht zuletzt, um die Preise in Europa hochzuhalten.7 1619 gelang der VOC die Erstürmung des späteren Batavia, das mit großem Aufwand zu einer Festung ausgebaut wurde und sich zum neuen Hauptsitz für den niederländischen Asienhandel entwickelte (Abb. 2). Die Darstellung des eindrucksvollen Kastells zeigt auch deutlich den militärischen Aspekt der Handelsstützpunkte, die immer wieder gegen andere europäische Nationen – in Ostasien insbesondere gegen die Portugiesen und später gegen die Engländer – verteidigt werden mussten. Besonders bemerkenswert war die Präsenz der niederländischen Kaufleute in Japan: Zwischen 1641 und 1853 waren sie die einzigen Europäer, denen eine Niederlassung auf japanischem Boden erlaubt wurde, wenn auch nur auf der vorgelagerten Insel Deshima.8 Neben strategisch gewählten Stützpunkten in Asien und Amerika spielte das bis dato völlig neue Finanzierungsmodell der Handelsgesellschaften eine entscheidende Rolle für den Erfolg der Niederlande. Die VOC gilt als die erste konzessionierte Aktiengesellschaft der Welt. Anteilsaktien der VOC, der WIC und anderer Gesellschaften wurden an der Börse Amsterdam verhandelt. Viele Einzelpersonen konnten jeweils kleine Anteile an der Gesellschaft erwerben und damit zur Finanzierung der Schiffreisen beitragen. Dadurch stand mehr Kapital zur Verfügung, und das Risiko des finanziellen Verlusts im Fall eines Scheiterns der Unternehmung wurde auf viele Schultern verteilt und dadurch kontrollierbar. Auch bei Schiffen fand dieses Finanzierungsmodell Anwendung, sodass einzelne Schiffe mehr als 60 Anteilseignern gehören konnten. Phänomene moderner Aktiengesellschaften, etwa die Trennung von Eigentum und Management, die Ausbildung einer Unternehmensidentität und die juristische Form der Gesellschaft als unabhängige Rechtspersönlichkeit wurden erstmals durch die VOC angewandt.9

84 Alles Käse? Produkte vom Land

Alles Käse? Produkte vom Land J AN - DAV I D MENTZE L 3 F LOR I S VAN SCHOOT EN Frühstücksstillleben mit Käse, Brot und Früchten 1. Hälfte 17. Jh. Öl auf Holz 53 × 84 cm Detail Wuppertal, Von der Heydt-Museum Inv. 1134

88 Alles Käse? Produkte vom Land So viel Käse! Nicht etwa kleine Stücke oder Scheiben liegen zum Verzehr auf dem Tisch, sondern halbe Laibe. Gleich drei verschiedene Sorten sind als Pyramide übereinandergestapelt. Durch den dunklen Hintergrund wirken die aufgetürmten Käsestücke besonders imposant. Der unterste Laib ist so groß, dass er kaum auf den Zinnteller passt. Der Haarlemer Maler Floris van Schooten (1585/1588–1656) machte über Farbe, Größe und Struktur die Unterschiede zwischen den einzelnen Käsesorten sichtbar.1 Es lassen sich sogar Risse auf der Oberfläche der Laibe erkennen und die beim Reifungsprozess entstandenen Salzkristalle ausmachen. Fast ist es, als ließe sich der Käseduft einatmen. Die drei Laibe sind zwar die »Stars« des Stilllebens, aber es gibt noch viel mehr zu entdecken: frische Weizenbrötchen und saftige Früchte in Porzellanschalen, Butter in Scheiben und Salz auf einem repräsentativen Gefäß – sogar ein Glas Weißwein steht bereit. Das frische Leinentuch lässt alles noch verführerischer leuchten. Es kommt direkt aus dem Schrank, wie die geraden Falten zeigen. Dementsprechend lassen sich auch keine Krümel auf dem Stoff ausmachen. Dafür schmückt ein einzelner Stachelbeerzweig die Tafel. Die gesamte Gestaltung kommt einer Einladung zum Mahl gleich. Eine Brötchenhälfte ist schon mit Erdbeeren belegt und der Teller so nah an den Tischrand gerückt, dass er scheinbar über die Bildfläche hinausragt. Das Messer liegt bereit. Wir müssen nur noch zugreifen.

3 Frühstücksstillleben mit Käse, Brot und Früchten

92 Alles Käse? Produkte vom Land Getreidehandel undWeidewirtschaft Auf den ersten Blick haben die beiden Stillleben von Floris van Schooten und P. V. Plas nicht viel gemeinsam, obschon sie etwa zur selben Zeit entstanden sein dürften, was formale Eigenheiten wie der erhöhte Augenpunkt und die Vermeidung von Überschneidungen bei der Darstellung der Gegenstände nahelegen. Verführt das eine Bild mit seiner präzisen Schilderung von Details wie den Poren und Rissen im Käse zum schwelgerischen Betrachten, verweigert das andere eine solche Wahrnehmung, indem es an entscheidenden Stellen auf eine genaue Ausarbeitung der Oberflächen verzichtet, wie sich gut an der Schnittkante des Brotes beobachten lässt. Wenn die Stillleben hier dennoch gemeinsam besprochen werden, hängt das damit zusammen, dass beide exemplarisch Erzeugnisse der niederländischen Landwirtschaft zum Thema machen. Während van Schooten die teuren Endprodukte von Obstbau und Weidewirtschaft zeigte, wie sie in gehobenen Verhältnissen auf den Tisch gekommen sein mögen, stellte P. V. Plas das unveredelte Essen als notwendige Lebensgrundlage in einem einfachen Haushalt dar: Fleisch und Fisch sollen vor allem sättigen und Energie für die tägliche Arbeit liefern. Insofern erscheint es konsequent, dass sein Stillleben heute unter dem Titel Bäuerliches Frühstück firmiert. Dabei darf der Begriff »Frühstück« nicht zu wörtlich genommen werden, handelt es sich bei ihm doch um eine etwas ungenaue Übertragung des niederländischen ontbijtje – eine schon in Inventaren des 17. Jahrhunderts nachweisbare Bezeichnung für Essensstillleben, die annähernd mit »Imbiss« übersetzt werden kann. Ontbijtje beschreibt also eher einen Bildtypus als eine konkrete Mahlzeit. Auch van Schootens Stillleben mit dem Käse ließe sich als »Imbiss« kategorisieren, könnte aber auch als banketje bezeichnet werden, was dann eher die Opulenz der gedeckten Tafel betonen würde. Die ist unübersehbar. Der Käse und das Obst werden mit solchem Nachdruck präsentiert, dass sich unweigerlich das Gefühl einstellt, es ginge dem Maler vor allem um das stolze Vorzeigen der niederländischen Produkte. Es ist durchaus bemerkenswert, dass in einem so stark vom Meer geprägten Land, das nur über begrenzte Anbauflächen verfügt, Künstler:innen landwirtschaftliche Produkte als Identitätsmerkmal in Stillleben festhielten. Denkt man an die Niederlande im 17. Jahrhundert, stellen sich zunächst Bilder der Handelsnation ein. Die aufstrebenden, schnell wachsenden Städte mit ihren reich gewordenen Bürger:innen prägen die Vorstellung vom jungen Staat, nicht das flache Land. Doch tatsächlich leistete auch die Landwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zum Wohlstand der kleinen Republik. Wie aber kam es dazu, dass gerade die Milchwirtschaft so erfolgreich war, dass die Niederlande sprichwörtlich »als Käsemarkt Europas« bezeichnet wurden und bis heute die Klischees von Kühen und Käse untrennbar mit dem Land am Meer verbunden sind? Zur Erklärung muss etwas weiter ausgeholt werden: Die Sicherung der Essensversorgung ist ein grundlegendes Problem einer jeden Gesellschaft. Überall in Europa baute man Getreide als das Grundnahrungsmittel schlechthin an, aber einen Schutz vor Ernteausfällen gab es nicht. Entsprechend groß waren die Bemühungen, Getreidehandel regional zu gestalten und Exporte zum Schutz der eigenen Bestände zu kontrollieren, in Notzeiten sogar zu unterbinden. Bereits im Mittelalter schlug das niederländische Volk hier notgedrungen einen anderen Weg ein. Auf den feuchten, vom Meer bedrohten Böden war der Getreideanbau besonders arbeitsintensiv. Nach der großen Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts gab es schlichtweg zu wenige Arbeitskräfte, um die Bevölkerung zu ernähren. Deshalb stellten viele Menschen auf die weniger arbeitsintensive Weidewirtschaft um, während Korn nun importiert werden musste.3 Das barg Risiken, weil man sich von den Lieferungen anderer Nationen abhängig machte. Die Niederländer machten aus der Not eine Tugend. Statt ihr Getreide aus vielen Ländern zu beziehen, konzentrierten sie sich immer stärker auf den Ostseeraum. Sie sicherten sich das Wohlwollen der Dänen, die den Zugang zur Ostsee kontrollierten. Durch Verbesserungen an ihren Schiffen gelang es den Niederländern, kostengünstiger als die Konkurrenz von der Hanse zu agieren, sodass sie ab dem 16. Jahrhundert den Handel mit Getreide aus dem Baltikum weitestgehend beherrschten. Ganz besonders von dieser Entwicklung profitierte die Hafenstadt Amsterdam, die sich zum Dreh- und Angelpunkt des europäischen Getreidehandels entwickelte. Die Niederländer begriffen schnell, dass die Abhängigkeit von einer einzigen Importquelle sehr heikel ist und sie in gewisser Weise erpressbar machte. Gegen solche Gefahren sicherten sie sich ab, indem sie Getreide nicht nur für sich selbst importierten. Ein Großteil wurde weiter gehandelt. So konnten sich die Bauern und Bäuerinnen im Ostseeraum sicher sein, dass ihnen ihre Ernten abgenommen wurden, während die anderen europäischen Staaten auf regelmäßige Getreidelieferungen zählen durften. Für alle Beteiligten war klar, dass man die Position der Niederländer in diesem Gefüge nicht antasten

93 Abb. 1 N I COL AE S JANSZ . V I SSCHER D. J . Karte von Nordholland nach 1682, kolorierter Kupferstich auf Papier, 57×49 cm, Amsterdam, Allard Pierson, University of Amsterdam, HB-KZL 34.01.38 durfte, wenn man sich nicht selbst schaden wollte.4 Der Handel florierte so stark, dass 1616/17 im Zentrum Amsterdams eigens eine Kornbörse errichtet wurde. Die Niederländer wussten sehr genau, was sie dem Handel mit dem Ostseeraum zu verdanken hatten und bezeichneten ihn als moedernegotie (Mutterhandel).5 Er war die Grundlage für alle anderen Erfolge, auch jene in der Milchwirtschaft. Ob dieser Aspekt in den Stillleben ebenfalls anklingt, wenn neben Käse, Obst, Fisch und Fleisch auch Backwaren gezeigt werden, muss offenbleiben, schließlich gehörte Brot als Grundnahrungsmittel zu jeder Mahlzeit dazu. Da Essen aber nicht nur der Sättigung dient, sondern immer auch etwas über Lebensbedingungen und Kultur einer Gesellschaft verrät, ist es dennoch interessant, hier genauer hinzusehen. Plas’ Stillleben zeigt einen großen Brotlaib, der nicht mehr ganz frisch zu sein scheint. Vermutlich handelt es sich um Roggenbrot, das sich lange hielt und täglich gegessen wurde. Die Weizenbrötchen auf van Schootens Stillleben hingegen sind ein Luxusgut, benötigten fein gemahlenes und teures Mehl und wurden nur zu besonderen Anlässen und Festtagen verzehrt.6 Was aber war nun mit der Milchwirtschaft? Sie war zwar weniger arbeitsintensiv, weshalb Teile der Landbevölkerung in die Städte abwanderten und so die Urbanisierung der Region vorantrieben, bedurfte aber mehr Landfläche als der Getreideanbau. Zur Herstellung eines Kilos Butter brauchte es beispielsweise rund zehnmal so viel Fläche wie für ein Kilo Getreide.7 Das machte Milchprodukte zu einem teuren Gut, aber auch zu einer lukrativen Ware. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts konnten die meisten Bauernfamilien aufgrund ihrer begrenzten Weideflächen nicht mehr als ein oder zwei Kühe halten, was einen guten Zuverdienst bedeutete, aber nicht genügte, um allein von ihren Erzeugnissen zu leben.8 Verbesserte Transportbedingungen und zentrale Handelsplätze wie der Käsemarkt von Alkmaar vergrößerten allerdings die Verkaufsmöglichkeiten und ermutigten dadurch viele Bauern und Bäuerinnen dazu, sich auf Milchprodukte zu spezialisieren – sofern sie es sich leisten konnten.9 Obwohl nämlich im Laufe des 17. Jahrhunderts die Anzahl der Milchkühe auf den niederländischen Weiden stetig zunahm und ihre Ergiebigkeit durch Zucht immer weiter erhöht wurde, verschwanden die kleinen Bauernhöfe mit nur wenigen Tieren allmählich. An ihre Stelle traten Großbauern und -bäuerinnen, die nicht selten mehr als 20 Kühe besaßen. Das nötige Land für deren Ernährung wurde dem Meer abgerungen. Bis heute berühmte Käsesorten – wie etwa der Beemster – stammen aus Regionen, die damals trockengelegt wurden. Häufig finanzierten wohlhabende Bürger:innen aus den Städten diese technisch aufwendigen Unternehmungen und verpachteten anschließend das gewonnene Land.10 Wie groß die neuen Flächen waren, macht ein Blick auf die Karte Nordhollands von Nicolaes Jansz. Visscher (1649–1702) deutlich (Abb. 1). Grün hervorgehoben und von regelmäßigen Kanälen durchzogen sind all jene Gebiete, die dem Wasser abgetrotzt wurden. Idyllisch verklärt rahmen ein Bauernpärchen mit Käse und ein Schäfer den Titel der Karte. Für sie war die Landgewinnung existenziell, für die Städter:innen ein lukratives Geschäft, denn bald schon wurde der niederländische Käse nach ganz Europa exportiert und sogar auf den Schiffen der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) mitgeführt.

136 Blütenpracht und Tulpenwahn

Blütenpracht und Tulpenwahn UR SULA HÄR T I NG 8 ( NACH ) J AN BRUEGHE L D. Ä . Korb mit Blumen 1618–1627 Öl auf Eichenholz 49 × 64,2 cm Detail Bonn, LVR-LandesMuseum Bonn Inv. 1939.81

138 Blütenpracht und Tulpenwahn In einem breiten, runden Weidenkorb steckt eine Fülle aus Frühlingsblühern, Rosen, Nelken, Ranunkeln, Anemonen. Detaillierte Blütenköpfe, mal in voller Blüte, mal in Knospe, alle noch eben im Garten geschnitten. Drei Tulpen mit langen Stielen fallen jedoch etwas müde aus dem Korb. Zwischen den Stäben des filigran gearbeiteten Korbs lugen zarte kleine Blüten hindurch. Oberhalb, im unbestimmten Dunklen des Hintergrunds, kreuzt der Stiel einer hellvioletten Akelei die Blüte einer Jungfer-im-Grünen, ein Schmetterling fliegt herbei, vom vermeintlichen Duft im Bild angezogen. Um eine Tiefenwirkung zu erzeugen, liegen die oberen Blüten im unscharfen Dunkel. Dort, im Unbestimmten, entschwinden geradezu die zinnoberroten, bienenfreundlichen Köpfchen einer Tagetes mit ihren gezackten Blättern, eine damals noch junge Importpflanze aus Mexiko. Solch farbige, leuchtende Prachtfülle war eine recht neue Erfahrung, real und künstlerisch, denn viele der Frühlingsblüher kamen erst über Handelshäuser in höfische Gärten und künstlerische Metropolen wie etwa Antwerpen. In dieser Stadt wurde auch unser Bild gemalt. Es zeigt den Korb auf einer hellen Tischplatte.1 Eine weiße und eine rosafarbene Rosenblüte sowie einen zierlichen weißen Märzenbecher präsentiert es den Betrachtenden, dazu noch einen Marienkäfer und einen rot-schwarz gezeichneten Bienenkäfer. Dazwischen steht eine langstielige, rot geflammte Tulpe. Damals war jene noch immer eine nicht allzu lang bekannte, beliebte Blume in einer bis dahin fast unbekannten Farbstärke.

8 Korb mit Blumen

140 Blütenpracht und Tulpenwahn Pflanzen aus aller Welt Nichts wissen wir über Deutung und Absicht der Person, die den Korb geschaffen hat. Auch wenn es heißt, dass solch gemalte Blumenkörbe allein der Augenlust dienten, gehörten zur Betrachtung von Gemälden grundsätzlich eigene Gedanken, ja Selbstgespräche über das Gezeigte – daneben und vor allem die Unterhaltung mit geladenen Gästen vor solch prestigeträchtigen Darstellungen. Je nach Interesse und Wissen der Betrachtenden gingen Gespräche eventuell über die künstlerische Qualität und über den Preis des Bildes, über die abgebildeten botanischen Raritäten oder inhaltlich über die Vergänglichkeit der bald vertrockneten Blumen, über die Lebendigkeit der beiden nur gemalten krabbelnden Käfer, der eine auf der Suche nach Blattläusen, der andere ein Bienenkäfer oder Bienenwolf, der sich von Blütenstaub ernährt. Immerhin war seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert ein erstes gesellschaftlich breites Interesse an Natur und Umwelt geweckt. Die botanisch Interessierten, als bloemisten bekannt, erwarben Wissen in der Natur, doch mehr im Garten. Angesichts gemalter, exakter Abbilder ließ es sich dann auch im Winter begeistern und fachsimpeln. Wer auch immer den Bonner Korb nach einer beliebten Komposition Jan Brueghels d. Ä. (1568–1625) gemalt hat, war im Bereich der Blumenmalerei hochspezialisiert. Sicher, routiniert und locker im Pinselstrich präsentiert das Bild die volle Pracht der Frühlingsblüher. Bislang gilt das Stillleben als von anonymer Hand aus Antwerpen in den südlichen Niederlanden geschaffen; wie damals so häufig finden sich weder Signatur noch Datum. Um wen könnte es sich gehandelt haben? Vielleicht um den Sohn des älteren Jan, des sogenannten Blumen-Brueghels, um Jan Breughel d. J. (1601–1678)? Vielleicht. Denn auf der Rückseite offenbart die Holzplatte eine Schlagmarke der Antwerpener Malergilde, die einen Hinweis auf ihre zeitliche Entstehung gibt. Deren Köreisen wurde zwischen 1618 und 1627 verwendet.2 In diesem Jahr schrieb Sohn Jan, dass er einen und noch einen mand, einen Korb mit Blumen, gemalt hätte – und das zu einem Zeitpunkt, als er mit Kopien nach den Kompositionen seines verstorbenen Vaters viel Geld verdiente. Jan galt zu dieser Zeit als einer der besten Kopisten der väterlichen Vorbilder. Im Januar 1635 äußert er, dass er für zwei große Tulpen einen Tag bräuchte, und stellte für ein Gemälde mit 30 Tulpen einem Antwerpener Kunsthändler 228 Gulden in Rechnung, der es mit einem gehörigen Preisaufschlag weiterverkaufen konnte.3 Was für Antwerpen galt, lässt sich ohne Weiteres auf Amsterdam und die nördlichen Niederlande übertragen. Der hohe Wert, der den Blumenbildern zugemessen wurde, kam nicht von ungefähr. Vielmehr dokumentieren sie ein gewachsenes Interesse an botanischen Fragen, das nicht zuletzt mit dem weltweiten Handel der südlichen und nördlichen Niederlande wie auch der europäischen Entdeckung anderer Kontinente einherging. Dahinter verbargen sich sowohl wissenschaftliche, aber auch handfeste wirtschaftliche Interessen. In medizinischen Gärten wie dem Hortus Medicus Amstelodamensis (gegründet 1638) wurden nicht nur Pflanzen mit medizinischem Wert oder Gewürzkräuter, sondern auch exotische Zierpflanzen gesammelt und gezüchtet. So verwundert es nicht, dass 1682 auf Initiative zweier Ratsherren der Stadt Amsterdam, Joan Huydekoper, Bürgermeister und Direktor der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC), und Jan Commelin, erfolgreicher Händler von Gewürzen und pharmazeutischen Waren sowie Verfasser botanischer Bücher, eine ambitionierte Neugründung dieses Gartens erfolgte. Neben Heilpflanzen war dieser Hortus europaweit einzigartig in seiner überreichen Fülle von Heilkräutern und »vreemde gewassen«, fremden Gewächsen.4 Er wurde mit einer eigenen, noch heute existenten Bibliothek ausgestattet. Professoren hielten dort Vorlesungen über die Pflanzen und ihren medizinischen Nutzen. Nur wenige Jahre nach Entstehung des Gartens ließen die beiden Gründungsväter seit 1686 Aquarelle der dort wachsenden Pflanzen auf Pergament als eine Art gemaltes Herbarium anfertigen. Bis 1709 entstanden so 420 Pflanzenporträts aus dem Amsterdamer Garten, die gebunden und zu einem neunbändigen Kompendium zusammengefasst wurden. Ein einzigartiges wissenschaftliches Arbeitsinstrument entstand, der sogenannte MoninckxAtlas, bezeichnet nach Jan Moninckx (um 1656–1714) und seiner Tochter Maria (1673–1757), auf die der größte Teil der Aquarelle zurückgeht. Eine Klassifikation der Pflanzen im heutigen Sinn gab es im 17. Jahrhundert allerdings noch nicht. Erst der schwedische Wissenschaftler Carl von Linné (latinisiert: Carl Linnaeus; L.) führte im 18. Jahrhundert die Grundlagen einer noch heute gültigen Nomenklatur ein. Bis dahin versuchte man durch kleinteilige Angaben zum Aussehen, Pflanzen in Klassen einzuteilen. Wie präzise dabei gearbeitet wurde, belegte Linné selbst, der sich in seinen Schriften immer wieder auf Jan Commelin und dessen Neffen und Nachfolger Caspar sowie die Beschreibungen und Illustrationen des Atlas berief. Was also mit ersten Importpflanzen und frühen Abbildungen auf unserem Kontinent im 16. Jahrhundert begann, fand im 17. Jahrhundert ein vermehrtes, naturwis­

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