Leseprobe

85 Die Anbetung der Könige Kat. 22 Kupferstich, II. Zustand (von IV); 255 ×168 mm (Einfassungslinie), 258 ×170 mm (Blatt); monogrammiert unten Mitte: M S (S punziert); in den Ecken oben und unten rechts Ergänzungen, Ecke oben links hinterklebt, zahlreiche hinterklebte und geschlossene Risse sowie Papierbrüche; Wz. Kleiner Ochsenkopf mit Stange und Stern (ähnlich Lehrs 44, 46, 49, 50; vgl. Piccard 74414ff.; Stogdon 1996, Introduction), Stegabstand (horizontal) 39 mm; Rückseite: B. 6 (Bleistift), Stempel des Städelschen Kunstinstituts (Lugt 2356) mit der dazugehörigen Inventarnummer 33708 (Bleistift) PROVENIENZ erworben 1844 von Georg Ernst Harzen (1790 –1863), Hamburg (vgl. Lugt 1244) Inv. 33708 mindestens 63 Exemplare erhalten (Hollstein) LITERATUR Heineken 1786, S. 411, Nr. 8; Bartsch VI, S.122–123, Nr. 6; Lehrs 1891a, S. 388, Nr. 25a (I. Zustand)3; Lehrs V, S. 56– 62, Nr. 6 (I. Zustand v. III), Tafel 132, Nr. 362; Shestack 1967a, Nr. 39; TIB 8, 1980, S. 219, Nr. 6 (Jane Campbell Hutchison); Ausst.-Kat. Berlin 1991, S. 81–83, Nr. 3b (Jan Nicolaisen); Ausst.-Kat. Colmar 1991, S. 262–263, Nr. K 7 (Albert Châtelet); Ausst.-Kat. Karlsruhe 1991, S. 22, Nr. 22; Ausst.-Kat. München 1991, S. 46–47, Nr. 6 (Thomas Hirthe); Ausst.-Kat. Paris 1991, S.114 –115, Nr.10 (Sophie Renouard de Bussière); Ausst.-Kat. Frankfurt 1994, S. 204, Nr. G 11 (Hildegard Bauereisen); Stogdon 1996, Nr. 4; TIB 8, Commentary, Part 1, 1996, S. 26–29, Nr. 0801.006 (Jane Campbell Hutchison); Hollstein German XLIX, S. 25–27, Nr. 6 (II. Zustand v. IV) (Lothar Schmitt); Ausst.- Kat. Karlsruhe 2001, S.196–198, Nr.103 (Dorit Schäfer); Kemperdick 2004, S. 44 –51, 91, Abb. K 5; Schmitt 2004, S. 51–52, 113–114, Nr. L. 6 (II. Zustand v. IV); Heinrichs 2007, S. 210 –230, insbes. S. 210 –214, 225–226; Suckale 2009 I, S. 221–222; Ausst.-Kat. Brügge 2010, S. 312– 313, Nr.147 (Manfred Sellink) Abb. 28 Martin Schongauer, Die Anbetung der Könige, Kupferstich, IV. Zustand (von IV), 257×170 mm (Blatt), Lehrs V, Nr. 6, Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv. 36114 ren Kupferstiche des Marienlebens gestaltet sind, führt nicht nur Schongauers grafische Meisterschaft vor, die den unmittelbaren Vergleich mit den Möglichkeiten der Malerei sucht. Die Gegenstände wirken dadurch zudem bedeutungsvoll. Wie weit ein theologisch-allegorischer Inhalt von Schongauer, der immerhin die Leipziger Universität besucht hatte, mitgedacht war, sei hier offen gelassen,12 aber dass mit der Ruine der verfallene Tempel Salomons gemeint ist, als Hinweis auf den durch die Geburt Christi überwundenen Alten Bund, dass mit der Weinranke, in der sich übrigens auch eine kleine Traube verbirgt, auf das Blut Christi und die Passion angespielt wird, und dass sich die Handlaterne Josefs auf das irdische Licht bezieht, welches nach der Vision der Heiligen Birgitta von Schweden aus dem 14. Jahrhundert in der Weihnachtsnacht vom geistigen, göttlichen Licht des Kindes überstrahlt wird, scheint bei der Betrachtung dieses Kupferstich durchaus überzeugend. Die Anbetung der Könige (Kat. 22) ist schon dadurch unmittelbar mit der Geburt Christi verknüpft, dass Schongauer sie vor derselben Ruine stattfinden lässt. Am linken Rand strecken Ochs und Esel ihre Köpfe aus dem kapellenartigen Raum hervor, in dem zuvor das neugeborene Kind von der Muttergottes angebetet worden war. Der Ansatz der Arkade, die nun das Geschehen hinterfängt, ist in der Geburt Christi ganz links am Rand zu sehen, unter den Latten des ramponierten, strohgedeckten Vordachs. Der Eindruck eines zeitlichen Ablaufs einer zusammenhängenden Erzählung entsteht auch aus der Vorstellung, dass das intime Ereignis der Geburt im Inneren stattgefunden hat und die Muttergottes mit dem Kind nun nach draußen vor das Gebäude gekommen ist, um die Heiligen Drei Könige zu empfangen. Die drei Könige, die vom Stern, der über dem Dach strahlt, nach Bethlehem geführt worden sind, versinnbildlichen nicht nur die drei Lebensalter, sondern ebenso die drei im 15. Jahrhundert bekannten Kontinente Afrika, Asien und Europa. Das drückt auch die teils fremdländische Bekleidung ihres vielköpfigen Gefolges aus, welches im Hintergrund mit den königlichen Bannern durch die hügelige Landschaft zieht. Der älteste König kniet vor dem Kind und betet es an; als Geschenk hat er Maria ein kostbares Gefäß mit Gold übergeben, welches das Kind vorsichtig berührt. Dass es dabei zu dem kleinen Lamm auf dem Deckel schaut, welches sich als Hinweis auf den Opfertod Christi in der Passion verstehen lässt, erfüllt diese Geste mit besonderer Spannung. Auch die beiden anderen Könige nähern sich, mit Weihrauch und Myrrhe in kunstvoll gestalteten Gefäßen. Der zweite König hat demütig seinen bekrönten Hut abgenommen, der dritte, der König aus Afrika, mit den Gesichtszügen eines Schwarzen, hebt den Deckel seines Pokals an, um sein Geschenk vorzuweisen. Schongauers Ehrgeiz, unterschiedliche Materialien und Stofflichkeiten wiederzugeben – eigentlich ein Privileg der Malerei –, spricht aus Steinen und Stroh, aus Goldschmiedearbeiten und besonders aus den Gewändern, etwa dem samtenen Mantel des knienden Königs. Man hat sowohl in der Geburt als auch in der Anbetung Übernahmen vor allem aus den großen Altären Rogier van der Weydens (um 1400–1464) gefunden, aus dem Kölner Columba-Altar (S. 24, Abb. 9), heute in der Alten Pinakothek in München, und dem Bladelin-Altar (S. 25, Abb.10), im 15. Jahrhundert in Middelburg in Holland, heute in der Gemäldegalerie in Berlin. Schongauer hat von diesen Vorbildern, die er wahrscheinlich aus eigener Anschauung kannte und sich zeichnerisch angeeignet hatte, Motive und einzelne Figuren übernommen, etwa die kniende Madonna der Geburt aus dem Bladelin-Altar oder das Motiv des abgesetzten Huts des knienden Königs

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