Leseprobe

HERAUSGEGEBEN VON HANS-JÖRG CZECH UND BETTINA PROBST STIFTUNG HISTORISCHE MUSEEN HAMBURG MUSEUM FÜR HAMBURGISCHE GESCHICHTE SANDSTEIN VERLAG MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG VON

12 Grußwort DR. PETER TSCHENTSCHER 14 Grußwort DR. CARSTEN BROSDA 16 Stimmen zumMuseum 20 – ZumAuftakt PROF. DR. HANS-JÖRG CZECH 30 Impuls PROF. DR. ASTRID PELLENGAHR 32 Ein Museum zieht Kreise Das Neue mit dem Alten verbinden und dabei über sich hinauswachsen PROF. BETTINA PROBST 52 Impuls PROF. THOMAS HUNDT, INGO ZIRNGIBL Geschichte und Gegenwart 56 Anfänge des Museums Die Sammlung Hamburgischer Altertümer im Johanneum DR. OLAF MATTHES 64 Impuls PROF. DR. RAINER NICOLAYSEN 66 Erfolg bürgerlichen Engagements Von der Sammlung zumMuseum DR. ORTWIN PELC 74 Die verschwundene Stadt? Spolien im und amMuseum DR. KERSTIN PETERMANN 84 Impuls PROF. KATJA-ANNIKA PAHL 86 Museumsarbeit in der Weimarer Republik Die ersten Jahre des Museums für Hamburgische Geschichte am Holstenwall DR. OLAF MATTHES 94 Im Dienst der NS-Kulturpolitik Das Museum für Hamburgische Geschichte von 1933 bis 1945 DR. GUNNAR B. ZIMMERMANN 102 Impuls PROF. DR. FRANKLIN KOPITZSCH 104 Vom Neuanfang zur Stiftung Das Museum für Hamburgische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts DR. OLAF MATTHES 112 Impuls PROF. DR. RITA MÜLLER 114 Geld regiert die Welt – und die Stadt Das Münzkabinett des Museums für Hamburgische Geschichte DR. RALF WIECHMANN 122 Erzählen Kunstwerke Geschichte? Kunst und Kulturgeschichte imMuseum für Hamburgische Geschichte DR. CLAUDIA HORBAS 130 Impuls PROF. DR. ANJA DAUSCHEK 132 Sammeln (in) der Gegenwart Notizen zur Zukunft des Sammelns am Beispiel der #CoronaCollectionHH DR. SÖNKE KNOPP 140 Impuls FC ST. PAULI Inhalt

142 Von der Briefmarke bis zur Eisenbahn Die Sammlungen des Museums für Hamburgische Geschichte DR. RALF WIECHMANN 1 Museum 100 Objekte 152 Vielfalt der Sammlung Akzente und Interaktionen 192 Die Zukunft der Herkunft? Provenienzforschung und die Biografie der Objekte am Beispiel der Silbersammlung WIEBKE MÜLLER, M. A. 200 Von der Tonbandführung zum Digitalerlebnis Neue Medientechnologien im Einsatz für das Museum DR. ALLAN GRETZKI 206 Wissen beginnt mit Fragen Bildung und Vermittlung imMuseum für Hamburgische Geschichte MAREIKE BALLERSTEDT, M. A. 214 Strudel im Erzählfluss Zeitgenössische Kunstwerke und künstlerische Intervention als Element kulturhistorischer Ausstellungen DR. CLAUDIA HORBAS 220 Impuls DIPL.-ING. HEINO GRUNERT Menschen und Räume 224 Vom Lesezimmer zum Dritten Ort Die Bibliothek des Museums für Hamburgische Geschichte DIPL.-BIBL. HENRIKE SCHRÖDER 230 Vom Handwerker zum vernetzten Akademiker Restaurierung imMuseum für Hamburgische Geschichte SILKE BEINER-BÜTH, M. A. 238 »Wachgeküsst« Die Villa Rücker zieht ins Museum ein SILKE BEINER-BÜTH, M. A. 244 Impuls DR. ANNA JOSS 246 Beständiger Wandel Eine kurze Geschichte der Sonderausstellungen des Museums CHRISTINA SCHMIDT, M. A. 256 Einzigartige Räume und eine grandiose Kulisse Das Museum für Hamburgische Geschichte als Drehort und Hochzeitsparkett BETTINA BEERMANN 262 Impuls HANS-GERD BÜRGER-PRINZ Museum und Architektur 266 Das Glasdach imMuseum für Hamburgische Geschichte Interview mit Jörgen Bracker und Volkwin Marg 276 Impuls THOMAS BERNATZKY Anhang 280 Grundrisse 284 Facts&Figures 286 Chronik 292 Autorinnen und Autoren 295 Team des Museums im Jubiläumsjahr 2022 296 Quellen und Literatur 302 Bildnachweis 304 Impressum

21 Jubiläen sind stets willkommene Gelegenheiten zu Betrachtungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insbesondere wenn es sich bei dem Jubilar um eine renommierte Institution handelt: Selten bietet sich jedoch so viel Anlass zur Reflexion wie im Falle des Museums für Hamburgische Geschichte (MHG), das im Jahr 1922 erstmals am jetzigen Standort seine Türen für das Publikum geöffnet hat und nun ein ganzes Jahrhundert seiner Arbeit für und mit den Besucherinnen und Besuchern feiern kann. Der Rückblick auf die Erfolge, aber auch schwierigen Phasen im Laufe des Bestehens ist hier nicht nur Teil einer jubiläumsbedingten Befassung mit der institutionellen Vergangenheit, sondern zugleich konstitutiv für die unmittelbar bevorstehenden Schritte auf demWeg in die nächsten Epochen. HANS-JÖRG CZECH Zum Auftakt 1 Das Museum für Hamburgische Geschichte 2022

22 Vor außergewöhnlichen Herausforderungen stand das MHG von Beginn an. Noch zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs geplant und baulich imWesentlichen während des Ersten Weltkriegs errichtet, ging das Haus erst nach den fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen der Revolution von 1918/19 und also in einem nunmehr demokratischen deutschen Staatswesen an den Start. Die erste demokratische Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7. Januar 1921 war da gerade erst eineinhalb Jahre alt. Dass der Auftakt erfolgreich gelang, hat verschiedene Gründe. Manche prägen die Arbeit des Museums bis heute. Zu nennen ist hier zuallererst das markante Gebäude, das der Architekt und spätere Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher (1869–1947) in Zusammenwirken mit dem Gründungsdirektor Otto Lauffer (1874–1949) für das MHG erschaffen hat (Abb. 1). In bester, geschichtsträchtiger Lage auf dem Grund der ehemaligen Bastion Henricus am Holstenwall erweiterte es nach Fertigstellung den Kreis der bis dato bereits vorhandenen großen Museumsbauten der Hansestadt, bestehend aus Kunsthalle (1869), Museum für Kunst und Gewerbe (1877), NaturhistorischemMuseum (1891) und Völkerkundemuseum (1912), um ein weiteres repräsentatives Bauwerk. Die Fassaden mit dem charakteristischen roten Backstein deuten unverkennbar eine Verbindung zur architektonischen Tradition Hamburgs an. Darüber hinaus verzichtet der Schumacher-Bau allerdings im Äußeren wie im Inneren weitestgehend auf die Darbietung explizit historistischer oder historisierender Bauformen, wie sie in früherer Zeit gerade auch bei Bauten für historische Museen, zum Beispiel des Bayerischen Nationalmuseums, sehr verbreitet gewesen waren. Stattdessen stellen feinsinnig in die Fassaden und Innenräume integrierte Spolien, also Bauteile und Schmuckelemente aus älteren, längst untergegangenen Bauwerken in Hamburg, wie etwa dem Alten Rathaus, den eindeutigen Brückenschlag zu verschiedenen Epochen der hamburgischen Vergangenheit her und markieren das Haus unverkennbar als Geschichtsmuseum (Abb. 2). Schumachers Museumsbau erweist sich solchermaßen quasi als dienender Träger, als kongeniales Präsentationsgehäuse für die bewahrten Relikte der Vergangenheit und im Kern zugleich als zur Entstehungszeit moderne, sehr funktionale und durchaus selbstbewusste Museumsarchitektur. Diese spezielle, pathosfreie Kombination ebnete demMHG zweifellos bereits den Weg zu einer positiven Aufnahme bei den Besucherinnen und Besuchern im Jahr 1922. Sie erweist sich noch heute, mit wenigen notwendigen Anpassungen, als hervorragender Rahmen für die Erfüllung musealer Aufgaben auch des 21. Jahrhunderts. Dabei ist das Museum für Hamburgische Geschichte flächenmäßig zugleich eines der größten Stadtmuseen in ganz Europa.

23 Der Weg durch die Jahrzehnte und neue Aufgaben In der Sammlungs- und Ausstellungsarbeit des MHG spiegelten sich durch die Jahrzehnte Veränderungen in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektiven auf die Geschichte Hamburgs. Aktuelle Forschungen haben aufgezeigt, dass davon die Zeit des NS-Regimes nicht ausgeschlossen war, in der das Museum und Mitarbeitende in unterschiedlicher Form der Vermittlung der ideologischen Ziele und der Ausübung von Unrechtstaten des NS-Staates dienstbar waren. 2 Kaiserfiguren vom Alten Rathaus an der Nordfassade des Museums für Hamburgische Geschichte 2022

56 OLAF MATTHES Die imMai 1814 endende Franzosenzeit hinterließ bei zahlreichen Hamburgern ein Gefühl des Verlusts. Nicht nur, dass sie ihr persönliches Hab und Gut verloren hatten, auch die Stadt selbst beklagte enorme Verluste. Zahllose Bauten waren infolge von Hamburgs Belagerung zerstört, viele befanden sich in einem ruinösen Zustand. Der Wunsch, die Verluste zumindest zu dokumentieren und noch vorhandene Reste aufzubewahren, wurde immer lauter. Das war fraglos einer der Aspekte, die 1839 zur Gründung des Vereins für Hamburgische Geschichte führten. Dieser hatte von Anfang an Anfänge des Museums Die Sammlung Hamburgischer Altertümer im Johanneum

57 hohen Zuspruch. Und sogleich wurde auch die Forderung nach dem systematischen Dokumentieren, Sammeln, Bewahren und Präsentieren all jener Gegenstände laut, die damals für die Geschichte der Stadt als relevant galten. Bestandsaufnahme Zu den treibenden Kräften dieses Gedankens wie auch des Vereins insgesamt gehörte der Kaufmann Otto Christian Gaedechens (Abb. 1). Er war nicht nur Gründungsmitglied des Hamburger Kunstvereins im Jahr 1817, sondern ebenso Mitbegründer des Vereins für Hamburgische Geschichte. Als Vorsteher der sogenannten artistischen Sektion äußerte er sich noch im Gründungsjahr des Vereins programmatisch zu dessen Zielen. Hierzu gehörte neben anderem das Zusammentragen einer Hamburgensien-Sammlung. In seinem Programm forderte Gaedechens eine genaue Bestandsaufnahme der vorhandenen Gemälde, Skulpturen, bedeutenden Bauteile und Inschriften, »welche sich in den hamburgischen Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden befinden«. Zudem seien diese Bemühungen zu richten auf »interessante Portraits, Ansichten und andere auf Hamburg Bezug habende Gegenstände, so wie auf ausgezeichnete Werke hamburgischer Künstler, welche sich in den hiesigen Familien befinden, um bei sich ereignenden Todesfällen ein wachsames Auge darauf haben zu können«. Weiterhin sei es notwendig, so Gaedechens, Notizen »über die Hamburger Hauptgebäude, das Jahr ihrer Erbauung und die Namen ihrer Erbauer, so wie eine Liste anzufertigen aller, seit der Belagerung gemachten Verschönerungen, theilweise zur Mittheilung an die topographische Section, indeß wohl am leichtesten in der unsrigen vorzunehmen, da wir das Glück haben mehrere Männer zu besitzen, die leicht im Stande sind, Materialien dazu zu liefern«. 1 A. Arends Der Kaufmann Otto Christian Gaedechens (1791–1856) Lithografie nach einer Fotografie von 1854 (Ausschnitt) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

58 Schließlich nahm Gaedechens eine Maßnahme in seinen Forderungskatalog auf, die für die sich gerade professionalisierende Denkmalpflege wichtig war: Es sei nötig, wenn »interessante alte Gebäude oder ganze Straßen niedergerissen werden, dieselben vorher zu zeichnen, so wie auch diejenigen älteren Gebäude, welche bereits in früheren Zeiten gezeichnet worden und die sich nicht in einer der öffentlichen Sammlungen befinden, copiren zu lassen«. Damit umriss Gaedechens in groben Zügen all jene Aufgaben, die in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich für die Arbeit der bald so genannten Sammlung Hamburgischer Altertümer des Vereins für Hamburgische Geschichte auch relevant wurden. Der Begriff »Altertümer« bezog sich hier nicht auf die Klassische Antike, sondern auf jene Gegenstände, die einen direkten Bezug zu Hamburgs Geschichte aufwiesen. Ein »bescheidenes Local« Für all diese Objekte forderte Gaedechens nun einen Ort, an dem die zunächst noch kleine Sammlung aufgestellt und öffentlich zugänglich gemacht werden konnte. Dies hielt er 1841 in einer Denkschrift fest, in der er hervorhob, dass Hamburg zwar eine sehr alte Stadt sei, aber kaum Altertümer aufweise. Seiner Ansicht nach war es »daher wünschenswerth, daß das Wenige, was noch existirt, conservirt werde und ist dieses ein Punkt, dessen Beachtung der Verein für Hamburgische Geschichte und insbesondere die artistische Section desselben, sich besonders angelegen seyn läßt. Um jedoch in dieser Hinsicht gehörig wirken zu können, ist es durchaus nothwendig, daß von Staatswegen ein Local angewiesen werde, worin das wenige, noch in diesem Fache Existirende vereinigt und das, 2 Johann Poppel Das neue Schulgebäude (Johanneum) in Hamburg Stahlstich nach einer Zeichnung von Carl Lill, um 1840/41 MHG, Inv.-Nr. 2012-4031

59 was noch aufgefunden werden sollte, gebracht werden könnte.« Äußerer Anlass der Denkschrift war die 1840 erfolgte Fertigstellung eines Neubaus am Standort des zwischen 1804 und 1807 abgerissenen Hamburger Doms. Hier am Speersort waren in einer Dreiflügelanlage die Stadtbibliothek, die Gelehrtenschule des Johanneums sowie für deren Absolventen als Aufbaustufe das Akademische Gymnasium und zunächst auch eine Realschule untergebracht (Abb. 2). Gaedechens sah nun eine reelle Chance, die damals noch kleine museale Sammlung des Vereins für Hamburgische Geschichte dort aufzustellen. Seine Forderungen waren alles andere als maßlos. Vielmehr beanspruchte er nur ein »bescheidenes Local« im Kellergeschoss, wo die Objekte ausgestellt werden könnten. Dabei wünschte er, dass die HamburgensienSammlung zukünftig »Eigenthum des Staates seyn und bleiben und eine gemischte Commission [. . .], eventualiter aus dem jedesmaligen Herrn Archivarius, einem der Herrn Bibliothekare, und aus zwei oder drei von der artistischen Section zu deputirenden Mitgliedern besteht, die Aufsicht führen. [. . .] Gelänge es jenes Local angewiesen zu bekommen und [ver-]einigte man daselbst, was noch auch im Bauhofe, im Archiv und im Bibliotheksgebäude an Alterthümern vorhanden ist, so ließe sich ohne große Mühe und Kosten, eine kleine Sammlung bilden, die das Publicum gewiß nicht ohne Interesse in Augenschein nehmen und die fernerem Vandalismus vorbeugen würde.« Gaedechens’ Ausführungen sind die bis dahin deutlichsten, die für eigene Räumlichkeiten zur Unterbringung historischer Gegenstände plädierten. Zugleich formulierte er erstmals, dass es Staatspflicht sei, nicht nur hierfür Sorge zu tragen, sondern die Objekte auch vor Zerstörung zu schützen.

60 Zwar betonte Gaedechens, dass der vorgesehene Ort nur vorläufig dem Zweck entsprechen könne, tatsächlich aber zeichnete er hier bereits den Weg für die Unterbringung der Sammlung in diesem Bau vor und gab letztlich wohl den entscheidenden Anstoß dazu. Dramatische Rettungsaktionen Der Objektbestand an Hamburgensien wuchs bald ungewollt und sehr schnell, bedingt durch den Großen Hamburger Brand. Vom 5. bis 8. Mai 1842 wurde etwa ein Viertel des bebauten inneren Stadtgebiets mit 1750 Häusern zerstört. Hierbei starben 51 Menschen, etwa 20.000 Personen verloren ihr Obdach. Zudem wurden 41 Straßen, die beiden Hauptkirchen St. Petri und St. Nikolai sowie das Rathaus Opfer der Flammen. Schon während des Brandes kam es zu teils dramatischen Rettungsaktionen. Sie betrafen nicht nur bestimmte Bauten, wie etwa die neue Börse, die erfolgreich gegen die Flammen verteidigt wurde. Vieles wurde durch den Brand vernich3 Otto Speckter Der Architekt Alexis de Chateauneuf (1799–1853) Lithografie nach einer Zeichnung von Robert Schneider (Ausschnitt), 1854 MHG, Inv.-Nr. EB 1911,244 4 Günther Gensler Der Architekt Hermann Peter Fersenfeldt (1786–1853) Bleistift, Blattgröße 354 × 267 mm (Ausschnitt), 1835 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 44505

61 tet, vieles konnte aber auch bereits während der Katastrophe gesichert werden, so unter Johann Martin Lappenbergs Leitung die wichtigsten Bestände des städtischen Archivs sowie herausragende Kunstwerke oder Bauteile, etwa die alten Portale und Kaiserfiguren vom Rathaus oder Gegenstände aus St. Petri und St. Nikolai. Großen Anteil daran hatten jene Vereinsmitglieder der artistischen Sektion, die sich in der sogenannten Brandrettungskommission organisierten: der Porträtmaler und Lithograf Johannes Anderson, die Architekten Alexis de Chateauneuf und Hermann 5 Carl Ferdinand Stelzner Der Maler Otto Speckter (1807–1871) Daguerreotypie (Ausschnitt), um 1850 6 Günther Gensler Der Maler Martin Gensler (1811–1881), Bruder des Künstlers Bleistift, Blattgröße 201 × 174 mm (Ausschnitt), 1833 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 44499 Peter Fersenfeldt sowie die Maler Otto Speckter und Martin Gensler (Abb. 3–6). Die Brandkatastrophe wurde so auch der Ursprung wesentlicher Objektgruppen der Hamburger Altertümer-Sammlung. Bis heute bilden diese historischen Architektur- und Bauteile einen ebenso besonderen wie umfangreichen Sammlungsbestand des Museums für Hamburgische Geschichte. Eine erste bescheidene museale Ausstellung von hamburgischen Altertümern erfolgte 1845. So wurden für die Stadtbibliothek einige Schau-

64 Alles im Fluss – immer Eigentlich ist das Museum für Hamburgische Geschichte schon um einiges älter als 100 Jahre, gehen seine Anfänge doch bekanntlich auf die Sammlung Hamburgischer Alterthümer zurück, die der Verein für Hamburgische Geschichte nach seiner Gründung 1839 angelegt hatte und die nach Übergabe in staatliche Hand 1849 dann viele Jahrzehnte später in die Gründung des Museums mündete. Ob nun 183 oder 100 Jahre, Verein und Museum sind inzwischen in die Jahre gekommen; sie haben ihre jeweils eigene, von den gern zitierten Ursprüngen weit entfernte und durchaus wechselvolle Entwicklung genommen, wobei der Gedanke enger Kooperation zwischen beiden Institutionen gerade in den letzten Jahren in erfreulicher Weise wiederbelebt wurde. Gemeinsame Veranstaltungs- und Publikationsprojekte haben Verein und Museum in ein lebendiges Zusammenspiel gebracht, befördert nicht nur durch thematische Überschneidungen, sondern auch durch viele persönliche Begegnungen und Verbindungen. ein wohltuend frischer Wind Impuls von PROF. DR. RAINER NICOLAYSEN Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte

65 brodelnd widersprüchlich lebensnah Es ist hier ein wohltuend frischer Wind zu spüren, der für die Auseinandersetzung mit unserer Stadtgeschichte notwendig ist, denn noch immer haftet gerade Geschichtsvereinen und historischen Museen ein gewisser Ruf der Verstaubtheit an, der nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Dabei ist die Beschäftigung mit Geschichte grundsätzlich keine antiquierte und bloß rückwärtsgewandte Angelegenheit; stets wird sie von der Gegenwart aus betrieben, mit heutigen Fragen, Interessen und Perspektiven. Es liegt also an uns, wie vital, vielseitig und kontrovers wir mit unserer Geschichte umgehen. »Die« Geschichte Hamburgs ließ sich nie und lässt sich auch in Zukunft nicht darstellen, auch nicht in der geplanten neuen Dauerausstellung des Museums. Viel interessanter wäre der Versuch, die Komplexität der städtischen Vergangenheit bis in die jeweils unmittelbare Gegenwart facettenreich zu beleuchten, dabei neuere Ansätze der Geschichtswissenschaft einzubeziehen, ohne gleich jeder Mode zu folgen, unter Berücksichtigung der weiteren Medienentwicklung unterschiedliche Vermittlungsformate zu erproben und gern einmal mutig zu sein, um Überraschendes zum Gelingen – oder auch mal zum Scheitern – zu bringen. Wie seit einigen Jahren in den Verein wären verstärkt junge Leute ins Museum zu holen, nicht nur als Publikum, sondern ebenso für Projekte, Austausch und Beratung. Alle Bevölkerungsgruppen sollten natürlich ins Museum kommen – und imMuseum vorkommen. Thematisch könnten neben den klassischen Bereichen etwa Kultur- und Alltagsgeschichte gestärkt werden; ebenso verdienten Felder wie Migrationsgeschichte oder Geschlechter- und Sexualitätengeschichte auch stadtgeschichtlich größere Aufmerksamkeit. Nicht zu vergessen wäre das selbstreflexive Moment: Die Behandlung der Legenden und (Selbst-)Bilder Hamburgs, aber auch die kritische Beschäftigung mit der eigenen Geschichte des Museums zählten hierzu – um nur diese Stichwörter zu nennen. Und schließlich noch ein Bild: die geplante Öffnung des Museumsgebäudes in Richtung Wallanlagen. Das wäre eine Hinwendung zum Leben, zur bisher merkwürdig vernachlässigten, aber brodelnden, widersprüchlichen, lebensnahen Seite, in Richtung Reeperbahn, Dom, Millerntorstadion. Kein Randdasein, sondern mittendrin, die Vergangenheit als sichtbarer Teil der Gegenwart. Wäre das nicht gerade auf St. Pauli ein ganz besonderes Ensemble?

104 OLAF MATTHES Zum 1. Februar 1946 wurde Walter Hävernick (Abb. 1) durch die britische Besatzungsmacht zunächst mit der kommissarischen Leitung des Museums für Hamburgische Geschichte (MHG) beauftragt und 1947 dessen Direktor. Er war seit 1935 Kustos für die Numismatische Sammlung am Herzoglichen Museum in Gotha gewesen. Den Briten galt Hävernick als unbelastet. Hinzu kam: Er war kontaktfreudig und sprach sehr gut Englisch. Stiftung Das Museum Vom Neuanfang zur für Hamburgische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

105 Bei seinem Dienstantritt bot sich ihm, wie er einige Jahre später schrieb, »ein trostloser Anblick. Das Haus, von sechs Bomben getroffen, klaffte an allen Ecken und Enden. Türen und Fenster hingen zerfetzt oder geflickt in den Angeln. Die Stufen vor dem Haupteingang waren zertrümmert. Ein Bombenkrater gähnte vor der Haupttür. Halle und Treppenhaus troffen vor Nässe. Überall versperrten Luftschutztüren den freien Durchgang. Im kleinen Büroraum traf ich meinen Amtsvorgänger, Prof. Dr. Otto Lauffer, der in einem langen Leben das Museum für Hamburgische Geschichte geschaffen und ausgebaut hatte und der nun mir, seinem Schüler und Nachfolger, mit einem Händedruck das Amt – und damit die Sorge für das Ganze übergab.« Wiederaufbau unter Walter Hävernick Der anpackende wie praktisch veranlagte Hävernick und seine Mitarbeiter hatten sich in den kommenden Jahren vor allem mit Bau- und Sanierungsfragen des Museums zu befassen (Abb. 2–5). Dabei erhielt der Direktor von unverhoffter Seite Hilfe. Robert C. Riggle, Vertreter der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, wandte sich gleich nach dessen Amtsantritt an Hävernick mit der Frage, ob es möglich sei, einen Teil des Museumsgebäudes der baltischen Universität, der Hamburg D. P. University, zur Verfügung zu stellen. Dies hatte den Vorteil, dass für diese baltische ExilUniversität Geldmittel durch die genannte Teilorganisation der UNO zur Verfügung standen. Ein für Hävernick wichtiger Vorteil des Universitätsbetriebs imMuseum lag in der ebenso raschen wie kostengünstigen Wiederherstellung von mehreren Räumen. Die Universität war hier von April bis Ende Dezember 1946 untergebracht. Anschließend konnte das Museum die sanierten Räume selbst übernehmen. Die finanzielle Lage des Museums war in den ersten Jahren nach Kriegsende höchst angespannt, zumal die wenigen Mittel, die es von Staatsseite erhielt, immer nur stufenweise freigegeben wurden und nicht ausreichten. Auf die vorgesetzte Kulturverwaltung konnte Hävernick somit kaum hoffen. 1 Fritz Kempe Museumsdirektor Walter Hävernick (1905–1983) Fotografie (Ausschnitt), 1951 MHG, Inv.-Nr. EB 1951,517

106 Umso mehr bemühte er sich intensiv um Partner aus der Wirtschaft und um Interessenverbände, die mit Geld- und Sachspenden den Wiederaufbau des Museums unterstützen sollten. Seinen vielfältigen Bemühungen war es zu verdanken, dass der Lesesaal des Museums bereits im April 1946 wieder nutzbar und eine Teilwiedereröffnung des Hauses mit der neu konzipierten Dauerausstellung »Hamburg 1560–1868« im September 1946 möglich war. Im Zeichen von Verkehr und Technik Diese Präsentation galt ihm dabei als Muster für die gesamte Neuaufstellung. Erstmals äußerte er sich anlässlich der Eröffnung auch kurz zu den theoretischen Überlegungen, die der Neupräsentation zugrunde lagen: »Die Einteilung der Sammlungen des Museums für Hamburgische Geschichte war bisher erfolgt nach kulturgeschichtlichen und theoretisch-altertumskundlichen Gesichtspunkten, sie betrachtete alle Gegenstände nach Gebrauchsgruppen und löste sich damit mehr und mehr los von der Geschichte Hamburgs, die doch nun einmal das Thema dieses Instituts sein soll und von der unsere Besucher sehen und hören wollen. Die Neuaufstellung will versuchen, die Denkmäler zu gruppieren entsprechend den großen geschichtlichen Epochen unserer Vaterstadt.« Hävernick folgte somit einer chronologisch-thematischen Darstellungsweise. Sie löste sich, wenn auch noch nicht überall, von Lauffers volkskundlichem Konzept. Die Hamburger Bevölkerung hatte durch die Belastungen des Krieges und der direkten Nachkriegszeit ein großes Bedürfnis nach Abwechslung; 2 Der Innenhof des Museums für Hamburgische Geschichte Richtung Petri-Portal Fotografie, 1946 MHG, Inv.-Nr. 2011-1437-18

107 sie nahm dieses neue Kulturangebot trotz der erstmals überhaupt erhobenen Eintrittsgelder von zehn Pfennigen für Kinder und 20 Pfennigen für Erwachsene dankend an. Bereits 1947 kamen mehr als 46.000 Besucher. Die folgenden Jahre waren von den ebenso schwierigen wie kontinuierlichen Aufbauarbeiten in einer Zeit der Mangelwirtschaft geprägt. Doch schon 1948 konnte die Mittelalter-Abteilung des Museums eröffnet werden, und ein Jahr später wurden dem Publikum erstmals die Abteilung für Handel und Schifffahrt sowie eine sehr große Modelleisenbahnanlage präsentiert (Abb. 6). Vor allem letztere sorgte für einen enormen Anstieg der Besucherzahlen – 1949 waren es rund 86.000. Weitere Spezialabteilungen konnten im Laufe der Jahre eröffnet werden; als letzte 1965 die Abteilung »Landgebiet«. Hier fanden die bis dahin nur für wenige Jahre ab 1939 zu besichtigenden Bauernhausstubeneinrichtungen, unter anderem aus den Vierlanden, wieder ihre Aufstellung. Walter Hävernick bemühte sich, das Museum einerseits durch neue Veranstaltungsformate, wie Kultur- und Lehrfilme, populär zu machen, andererseits führte er ab 1950 in regelmäßiger Folge kostenlose Abendvorträge ein, die fachlich fundiert und allgemeinverständlich das Publikum ansprechen sollten. Diese Vorträge waren oft so erfolgreich, dass Wartelisten geführt werden mussten. Sie belegen den enormen Bedarf der Bevölkerung nach Bildung. Das Museum war in den 1950er-Jahren auch deshalb das am meisten besuchte in Hamburg, weil Hävernick den Hauptschwerpunkt auf die Bereiche Verkehr und Technik setzte. Mit diesem Ansatz 3 Innenhof des Museums für Hamburgische Geschichte Richtung Nordost Fotografie, 1946 MHG, Inv.-Nr. 2011-1437-11

108 verbunden waren fraglos gesellschaftliche Wünsche nach Mobilität und Zukunftsoptimismus. Gerade die Modelleisenbahn war nicht nur konzeptionell auf dem neuesten Stand, sondern spiegelte auch den Zeitgeist wieder, indem sie die neu gewonnene Mobilität der Gesellschaft anschaulich darstellte und zugleich den Aufbruchsgeist der jungen Bundesrepublik mit der Tradition in Einklang brachte. Damit bot das Museum als städtischer Identitätsort den Menschen nach 1945 auch historische Kontinuitätslinien als Anknüpfungsmöglichkeit. Bildung und Vermittlung – der erste Audioguide Das Museum selbst war für Walter Hävernick zuallererst ein großstädtisches Heimatmuseum. Ihm kam es darauf an, die Geschichte der Stadt in chronologischen Abfolgen allgemein und in thematischen Abteilungen speziell darzustellen. Die Präsentation sollte sich inhaltlich sofort erschließen. Dafür erstellte das Museum zahlreiche hierarchisierte Texttafeln, die in die jeweilige Thematik einführten. So konnte sich der Besucher in der Ausstellung direkt und vertiefend die jeweiligen Themenkomplexe selbst erarbeiten. Eine wegweisende Neuerung stellten überdies Tonbandführungen dar (Abb. 7). Das Museum unter4 Hugo Schmidt Zunftsaal des Museums für Hamburgische Geschichte mit dem nicht ausgebauten Rathausportal Fotografie, 1946 MHG, Inv.-Nr. 2015-4642-34

109 breitete 1955 erstmals ein entsprechendes Angebot. Die Texte wurden von Walter Hävernick selbst verfasst und eingesprochen. In einzelnen Fällen griff er zurück auf Vorarbeiten seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter Helmuth Thomsen (siehe den Beitrag von Ralf Wiechmann, S. 117), Kurt Heckscher (1896– 1958) und Carl Schellenberg (siehe die Beiträge von Gunnar B. Zimmermann, S. 96–100, und Wiebke Müller, S. 192–199). Das Tonbandgerät wurde bei der Führung von einer Aufsichtskraft getragen und in dem jeweiligen Raum an ein entsprechend installiertes Lautsprechersystem angeschlossen, sodass die Besuchergruppe den Aufnahmen gemeinsam zuhören konnte. Damit war das Museum über Hamburg hinaus Vorreiter einer neuen Vermittlungsart, die allgemein erst seit etwa 1970 intensiv diskutiert und nach und nach genutzt wurde. Seit Beginn seiner Amtszeit versuchte Walter Hävernick in regelmäßigen Abständen, die Hamburger Schulen für Besuche imMuseum zu gewinnen, denn das Haus war für ihn ein herausragender Bildungsort. Wie die Lehrer imMuseum ihrer pädagogischen Arbeit nachgingen, hinterfragte er jedoch nicht. Es war Konsens unter den Hamburger Museumsdirektoren seiner Generation, dass regelmäßige Führungen eine Kernaufgabe der Schulen und nicht der Museumswissenschaftler seien. Erst die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er-Jahre sollten daran etwas ändern. Seither wurde intensiv darüber debattiert, welche Rolle die Hamburger Museen im kulturellen Leben der Stadt einzunehmen hätten. Immer mehr rückte nun die Ausweitung des allgemeinen Bildungsauftrags in den Fokus; es ging darum, wie eine »pädagogische Museumskultur« entwickelt werden könnte. Doch erst 1976 wurde der Museumsdienst gegründet, und wenig später erhielt das MHG, wie alle anderen Hamburger Museen, erstmals einen hauptamtlichen Museumspädagogen. Doch dies geschah erst nach der Amtszeit von Walter Hävernick, die 1973 endete. 5 Walter Luben Ein Saal der Schifffahrtsabteilung Fotografie, 1952 MHG, Inv.-Nr. 2011-556

130 Hinnerk Bodendieck Altonia Elektronischer Zeichenstift, Druck auf Papier, kaschiert auf Aludibond, 152× 110 cm 2014 Altonaer Museum, Grafiken, Inv.-Nr. 2014-621 Geschichten entlang der Grenze

131 Impuls von PROF. DR. ANJA DAUSCHEK Direktorin des Altonaer Museums Auf Hinnerk Bodendiecks allegorischer Darstellung zum 350. Stadtjubiläum Altonas 2014 steht Altonia mit ihrem hippen Lastenfahrrad voller Geschichten natürlich im Vordergrund, Hammonia lächelt wohlwollend im Hintergrund. Altona ist stolz auf seine Vergangenheit als einstmals zweitgrößte Stadt im dänischen Gesamtstaat. So viel Geschichte ist ein eigenes Museum wert, und deshalb haben die Altonaerinnen und Altonaer 2010 ihr Museum vor der Schließung bewahrt. Zwei Jahrzehnte bevor das Museum für Hamburgische Geschichte am Holstenwall einzog, bezog das Altonaer Museum sein Gebäude zwischen Altonaer Rathaus und Bahnhof in der Industriestadt Ottensen. Es war von Beginn an der Bildung für alle verpflichtet. Als Universalmuseum mit naturkundlichen, kultur- und kunsthistorischen Sammlungen zeichnete es sich durch ein international beachtetes, innovatives Konzept aus und war außerordentlich beliebt. Es bot neben den Ausstellungen auch Abendveranstaltungen und – für die Zeit ungewöhnlich – ein Museumscafé, damals »Erfrischungsraum« genannt. Auch wenn in den 1970er-Jahren die vor- und frühgeschichtlichen ebenso wie die naturkundlichen Sammlungen abgegeben wurden und der Schwerpunkt dann auf der Kulturgeschichte Norddeutschlands lag, blieb der Anspruch, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. 2006 wurden der »Kinderolymp« und das »Kinderbuchhaus« eingerichtet; seitdem prägen Familienangebote das Museum. Heute steht das Haus, ebenso wie seine Museumsschwestern in der Stiftung Historische Museen Hamburg, vor einer Neukonzeption. Erste Schritte waren Kooperationen mit verschiedenen Altonaer Communities, die Neugestaltung der eintrittsfreien Säulenhalle als Wohnzimmer und die »Wunderkammer« für junge Museumsfans. Mit der anstehenden Modernisierung will das Altonaer Museum sein Selbstverständnis als Ort kultureller Bildung in einem diversen Stadtbezirk wieder in den Mittelpunkt stellen. Die historische Grenze zwischen Altona und Hamburg ist noch heute markiert, und man kann ihr vom Fischmarkt bis zum Eimsbütteler Marktplatz folgen. Was bedeutet sie für zwei Museen, die beide Stadtgeschichten erzählen? Sie trennt unsere Häuser nicht, denn die besten Geschichten finden sich genau hier, auf der Grenze zwischen Hamburg und Altona. Der Fischmarkt St. Pauli erzählt die wirtschaftliche Konkurrenz der beiden Städte, nicht nur um den Fisch. Auf der Großen Freiheit spielten die Beatles im Star-Club, aber die katholische Kirche St. Joseph gegenüber erzählt von der wahren Freiheit, der Religionsfreiheit – die Altona ab dem 17. Jahrhundert gewährte, Hamburg damals jedoch nicht. In der Schanze erinnert die Rote Flora an die Krawalle rund um den G20-Gipfel 2017. Dieses Ereignis dokumentierten beide Museen, sodass im gemeinsamen Sammlungsdepot nun unter anderem eines der damals ausgebrannten Fahrzeuge auf eine Ausstellung wartet. Man kann sich gut vorstellen, wie Altonia und Hammonia gemeinsam entlang der Grenzlinie spazieren und sich diese und noch viele andere Stadtgeschichten erzählen. In diesem Sinne wünscht das Altonaer Museum seiner jüngeren Schwester alles Gute zum 100. Geburtstag und für die Zukunft noch viele gemeinsame Geschichten entlang der Grenze!

SCHALENSTEIN AUS DUVENSTEDT 1800 v. Chr. –530 v. Chr. / Granit / Sichtbar: 75×80×50 cm / Inv.-Nr. 2022-353 Es handelt sich vermutlich um ein bronzezeitliches Kultobjekt, bei dem die einzelnen Schalen für Opfergaben genutzt worden sein könnten. MITHRASHAND (GERICHTSHAND) 200–300, 1400–1600 / Bronze, Eisen / 9× 10×3,5 cm / Inv.-Nr. 1910,265 Die imMittelalter als Amtszeichen verwendete Hand wurde ca. 1890 beim Ausbaggern der Alster gefunden. Sie stammt aus einem süddeutschen römischen Mithräum, einem Kultraum für den Mithraskult, der im Römischen Reich vor der Durchsetzung des Christentums weit verbreitet war. 2 1

SCHWERT MIT KUPFERVERZIERUNG Um 800 / Eisen, Gold / 9,5×3×94,3 cm / Inv.-Nr. 1923,48 Das Schwert, ein Baggerfund aus der Elbe vom Lühesand, ist ein Indiz für die Völkerbewegungen und Kriegszüge dieser Zeit im Hamburger Raum. Es verdeutlicht die politische Machtexpansion der Franken und deren Landnahme sowie die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen. PERLE 10. Jh. / Verschiedenfarbiges Glas / 0,8×Ø 1,1 cm / Inv.-Nr. 1965,132 Es handelt sich um einen Grabungsfund vom Domplatz. Grüne Glasperlen mit roten Fäden und gelbem oder weißem Zickzackband sind ein wertvoller Teil des Frauenschmucks und typisch für das Fundgut der zentralen Fernhandelsplätze. PEKTORALKREUZ MIT CHRISTUS IN DER ÄRMELTUNIKA Ende 10. – frühes 11. Jh. / Knochen / 20,3× 1,4 cm / Inv.-Nr. 1965,36 Neben einer Kreuzfibel aus dem 9. Jahrhundert ist dieses Pektoralkreuz das älteste Symbol christlichen Glaubens in Hamburg. ULFBERHT-SCHWERT (FRAGMENT) 2. Hälfte 10. – frühes 11. Jh. / Eisen, Silber / 56× 10,3× 1,9 cm / Inv.-Nr. 1965,124 Die Klinge des bei Baggerarbeiten in der Elbe gefundenen Schwertes trägt beidseits die Inschrift »+VLFBERH+T«. Die Silbereinlagen der Parierstange in einem südskandinavischen Tierstil passen zur besonderen Qualität der Klinge. Sie verweist auf die hohe gesellschaftliche Stellung des Besitzers. 6 3 4 5

KAISERFIGUR VOM ALTEN HAMBURGER RATHAUS 1601 / Sandstein / Annähernd lebensgroß / Inv.-Nr. ABV6 Die als Spolien imMHG – hier an der Nordwestfassade – eingebauten Kaiserfiguren des Hamburger Rathauses an der Trostbrücke waren nicht nur Fassadenzier. Sie zeigten, dass Hamburg seit 1618 eine freie Reichsstadt und nur dem Kaiser verpflichtet war, auch wenn der dänische König dies erst 150 Jahre später anerkannte. SÜDPORTAL DER PETRIKIRCHE Georg Baumann, Hamburg / 1604–1605 / Sandstein / 520×580 cm / Inv.-Nr. AB574 Das Portal der 1842 zerstörten Petrikirche, heute im Innenhof des Museums eingebaut, wurde zu den Annehmungsfeierlichkeiten für den dänischen König Christian IV. errichtet. Er betrachtete sich, durchaus nicht im Einklang mit dem Hamburger Rat, als Stadtherr. DECKENFRAGMENTE AUS DEM HAUS STECKELHÖRN 18 1. Drittel 17. Jh. / Eiche, farbig gefasst / 348×257×4,5 cm / Inv.-Nr. 2013-153 Die Deckenfragmente sind noch der Renaissance verpflichtet. Sie zeigen die charakteristische Struktur bemalter Holzdecken der Zeit in Hamburg: Rankenwerk in den Unterzügen, dazu figürliche Motive, hier die fünf Sinne in allegorischer Form. 27 26 28

ASTROLABIUM Christoph Magnus, Hamburg / 1608 / Messing / 34×Ø24,5 cm / Inv.-Nr. 1914,81 Das astronomische Gerät zur Bestimmung von Positionen und Zeiten, wie zum Beispiel Aufgang, Untergang oder Kulmination von Himmelskörpern, wurde auch als Messgerät in der Schifffahrt eingesetzt. PORTUGIESISCHER DECKELKRUG 1635 / Fayence, Zinn / 24×Ø 14 cm / Inv.-Nr. 1987,35 Mit dem Erstarken des Atlantikhandels im 16. Jahrhundert wurden die Verbindungen von Hamburg nach Lissabon enger. An der Mündung des Tejo wurden Handelsgüter des Nahen und Fernen Ostens, aus Afrika und Brasilien umgeschlagen. Neben zahlreichen anderen Produkten zählten auch Fayencekrüge dazu. 30 29

MEHRTEILIGE FIGURINE MIT FRAUENKOPF 1920 / Kunststoff, Holz, farbig gefasst / Lebensgroß / Inv.-Nr. 2021-171-0 Das Museum besitzt zahlreiche im Gesicht individualisierte, hochwertig gestaltete Figurinen. Sie wurden nachweislich seit der ersten Dauerausstellung ab 1922 eingesetzt und werden vereinzelt bis heute genutzt. Die hier gezeigte kam als »Vierländer Braut« zum Einsatz. MODELL DES KRANKENAUTOS MARKE PROTOS 1924–1927 / Holz, Metall, Gummi, Textilfaser, Glas / 40,5×34× 102 cm / Inv.-Nr. 1934,182 Die Autos des Berliner Herstellers Protos galten als sehr zuverlässig. Der Typ C 1 wurde von 1924 bis 1927 als Oberklassewagen produziert, hatte 45 PS und eignete sich auch gut als Krankenwagen. Er wurde unter anderem in Hamburg eingesetzt. GROSSE FREIHEIT IN ST. PAULI Elsa Haensgen-Dingkuhn (1898–1991) / Um 1930 / Öl auf Leinwand / 100,9×73 cm / Inv.-Nr. 1945,3 Die Straße Große Freiheit gehörte ursprünglich zu Altona. Hier siedelten sich seit dem 17. Jahrhundert Menschen an, die im Gegensatz zu Hamburg Gewerbe- und Glaubensfreiheit genossen. Nach und nach wandelte sich die Straße und wurde Teil des Vergnügungsviertels auf St. Pauli. Die Malerin des Bildes studierte als eine der ersten Frauen an der späteren Kunsthochschule am Lerchenfeld. 83 84 85

SYNAGOGE IN DER OBERSTRASSE Edith Marcus (1888–1941) / 1931 / Öl auf Holz / 26,4×35,1 cm / Inv.-Nr. 1990,24 Die 1931 eröffnete Synagoge wurde in der Pogromnacht 1938 geschändet, dann zwangsverkauft. 1953 erwarb der Nordwestdeutsche Rundfunk das Gebäude. Der NDR nutzt es unter dem Namen »Rolf-Liebermann-Studio« als Konzertsaal mit Aufnahmestudio. Die aus Altona stammende Malerin des Bildes wurde im Holocaust ermordet. ANKER-STEINBAUKASTEN 1931–1932 / Holz, Metall, Stein, Papier / 5,2×37,8×27,5 cm / Inv.-Nr. 2015-2828 Gustav und Otto Lilienthal erfanden Spielbauklötze aus künstlich hergestelltem Stein. Sie verkauften das Geschäft 1880 an Friedrich Adolf Richter, der damit ein weltweit erfolgreiches Geschäft aufzog. Die unterschiedlichen Kastenmodelle ließen sich beliebig erweitern und ergänzen. 86 87

1 Schachtel mit Glasnegativen und Beschriftung »Judensilber« 1940 MHG-Bildarchiv (Fotosammlung)

193 WIEBKE MÜLLER Aus dem Provenienzforschungsprojekt, das dank finanzieller Förderung durch den Bund von 2011 bis 2016 amMuseum für Hamburgische Geschichte (MHG) durchgeführt werden konnte, greife ich hier zwei prächtige Objekte aus der Silbersammlung und einige unscheinbare Objekte aus dem Bildarchiv des Museums heraus. Damit möchte ich Perspektiven darstellen, die mittels der Provenienzforschung auf Museumsobjekte geworfen werden können und die es uns ermöglichen, sie für die Museumsbesucher*innen zum »Sprechen« zu bringen. Die Provenienzforschung Herkunft? der Zukunft und die Biografie der Objekte am Beispiel der Silbersammlung

194 Die Herkunft der Museumssammlung ist das Thema der Provenienzforschung. Problematisch sind dabei vor allem die Sammlungszugänge zwischen 1933 und 1945. Hier muss geklärt werden, ob es sich um Objekte aus NS-verfolgungsbedingten Erwerbszusammenhängen handelt. Aufgerufen durch die Beschlüsse der Washingtoner Konferenz 1998 entschloss sich das MHG 2010, der darin ausgesprochenen Selbstverpflichtung nachzukommen und seine Sammlung untersuchen zu lassen. Bei Vorrecherchen wurde klar, dass das MHG durch das Agieren des Kustos und ab 1939 stellvertretenden Museumsdirektors Carl Schellenberg besonders belastet war (siehe auch den Beitrag von Gunnar B. Zimmermann, S. 96–100). Gegenstand der Untersuchung waren daher die Ankaufspolitik Schellenbergs und die Silber- und Gemäldezugänge zwischen 1933 und 1945. Denn nicht nur die Recherche zu einzelnen Objekten ist Gegenstand der Provenienzforschung, sondern auch strukturelle Forschung zu den Beraubungsvorgängen selbst. Museumsarbeit in finsterer Zeit Der seit 1926 amMHG tätige Kunsthistoriker Schellenberg konnte sich 1940 mittels einer Sonderaufgabe für seine Heimatstadt Hamburg vom aktiven Kriegsdienst befreien lassen. Der Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann beauftragte ihn, das im Rahmen des Zwangsverkaufs abgegebene Silber der als Juden verfolgten Hamburger zu sichten. Schellenbergs Aufgabe bestand darin, kulturhistorisch wertvolle und behaltenswerte Stücke auszuwählen. Diese Auswahl sollte dann von der Stadt Hamburg dem Deutschen Reich abgekauft werden, das der Nutznießer der Zwangsabgabe war. Da das Edelmetall den Eigentümern nur gegen geringe, am Edelmetallwert orientierte Bezahlung abgekauft worden war, versprachen sich die Vertreter der Stadt für ihre Auswahl einen günstigen Preis. Schellenberg nutzte die Gelegenheit der Sachwaltung, eine große Menge des Silbers für Hamburg zurückzubehalten. So blieben von rund 20 Tonnen abgegebenem Silber ca. zwei Tonnen in Hamburg. Eine schriftlich fixierte Mengenaufteilung auf die verschiedenen öffentlichen Sammlungen der Stadt wurde vermutlich für das MHG, das Museum für Kunst und Gewerbe, das Altonaer Museum und das Rathaus umgesetzt. Der für das MHG bestimmte Teil wurde allerdings wohl bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht inventarisiert, ist also vermutlich niemals formalrechtlich in das Eigentum des Museums übergegangen. Es wurde aber bereits 1940 eine fotografische Dokumentation von Silbermarken vorgenommen, kleinen Stadtzeichen (Beschauzeichen) und Meistermarken, mit denen hochwertiges Silber an verborgener Stelle markiert wird. Im Bildarchiv des MHG fanden sich bei Ordnungsarbeiten 15 Pappschachteln mit insgesamt ca. 220 Glasnegativen, die die Aufschrift »Judensilber-Marken« tragen (Abb. 1).1 Der größte Teil der Negative konnte gesichtet und mit einem vorhandenen Inventarverzeichnis abgeglichen werden. Leider ließen sich damit nicht die ursprünglichen Eigentümer ermitteln.

195 1943 wurden die Stücke aus dem Rathaus und dem MHG mit der übrigen Silbersammlung des Museums im Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld bombensicher eingelagert. Dort überdauerte das Silber den Zweiten Weltkrieg. Es wurde gleich nach Kriegsende Gegenstand der Befragung durch den britischen Kunstschutzoffizier. Sowohl die Verwaltung des MHG als auch ein aufmerksamer Museumsmitarbeiter, den sein Gewissen plagte, gaben unabhängig voneinander Auskunft über die Tätigkeit Schellenbergs, der später seine Mitarbeit an der Beraubung als Rettungsaktion interpretierte.2 Der britische Kunstschutz machte Schellenberg nun zum Sachbearbeiter für die Restitution des Silbers. Für diese Sonderaufgabe wurde er aus seinen bisherigen Funktionen entlassen. Dazu zählte ab 1942 die kommissarische Leitung der Hamburger Kunsthalle.3 1946 wurde das Silber, rund 30.000 Einzelstücke, zurück ins MHG gebracht, wo Schellenberg die Sortier- und Katalogisierungsarbeit in Vorbereitung der Rückgabe vornahm.4 Die Unterlagen des Zwangsverkaufs waren vor Kriegsende in den städtischen Ankaufstellen »auf Anordnung des Rathauses verbrannt worden«.5 Ohne die Quittungen fehlte jeglicher Hinweis auf die ursprünglichen Eigentümer. Schellenberg legte umfangreiche Karteien an.6 Erst 1949 wurde das Rückerstattungsgesetz in der britischen Besatzungszone erlassen und das Silber in einen Keller der Finanzbehörde verlagert. Nach vielen Jahren der Restitution, von 1951 bis etwa 1958, gelang es in insgesamt rund 700 Verfahren nur für ca. 800 Kilogramm Silber Rückerstattungen vorzunehmen. Der große Rest wurde 2 Inventarkarte zum Silberbecher von Leonhard Rothaer I in der Sammlung des Museums für Hamburgische Geschichte (Inv.-Nr. AB1078) MHG-Archiv

197 1923 bis 1934) und Johannes Biernatzki (Pastor und Kunsthistoriker aus Altona), der Schröder bei der Ermittlung der Meisternamen unterstützte. ImMHG haben sich handschriftlich verfasste Markenverzeichnisse Schröders sowie ein Briefwechsel insbesondere mit skandinavischen Museen erhalten.8 Schröder beabsichtigte, zusammen mit dem Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, Max Sauerlandt, ein umfangreiches Verzeichnis der Hamburger Goldschmiede und des Hamburger Silbers zu erstellen. 1934 wechselte Schröder als Direktor ans Lübecker Museum für Kunst und Kulturgeschichte. Sauerlandt wurde bereits im April 1933 seines Amtes enthoben und starb Anfang des Jahres 1934. Biernatzki, der unermüdlich Kärrnerarbeit bei der archivalischen Überlieferung von Hamburgs Kunsthandwerk leistete, starb ein Jahr später. Möglicherweise hatte Schellenberg die Absicht, die Verzeichnisarbeit zu übernehmen und sich damit als Kunsthistoriker zu profilieren. Bereits 1938 hatte er die Ausstellung »Hamburger Silber in Privatbesitz« imMHG organisiert und dabei Kontakte zu Hamburger Sammlern geknüpft. Ein schmaler Katalog verzeichnet die damaligen Leihgeber.9 Darunter war Elsa Wolff-Essberger, Witwe des jüdischen Zigarettenfabrikanten Jacob Wolff und in zweiter Ehe mit dem Reeder und NS-Funktionär John T. Essberger verheiratet. Sie empfahl Schellenberg als Experten bei Reichsstatthalter Kaufmann. In ihrem Entnazifizierungsverfahren betonte sie ihre Initiative bei der Aktion zur Bewahrung vor dem beabsichtigten Einschmelzen des Silbers.10 3 Johann Brockmer Silberhumpen Um 1680 MHG, Inv.-Nr. AB1079 den Nachfolgeorganisationen, die für erbenloses Vermögen zuständig waren, von der Stadt Hamburg 1958 abgekauft und 1960 den öffentlichen Sammlungen angeboten. Alle Hamburger Museen, das Rathaus und die Jüdische Gemeinde nahmen die angebotenen Objekte entgegen, bis auf das MHG. Der damalige Direktor, Walter Hävernick, wollte von dem Silber nichts in die Sammlung aufnehmen, da das MHG so unrühmlich mit diesem Kapitel verbunden gewesen war.7 Biografie der Objekte I Die in der Fotosammlung des MHG aufgefundenen Schachteln mit den Glasnegativen sind – als Museumsobjekte und nicht als Archivmaterialien betrachtet – historisch in zwei Richtungen lesbar. Sie stehen erstens für das wissenschaftliche Interesse am qualitativ hochgeachteten Silberschmiedehandwerk in Hamburg, an der Erforschung seiner Meister und an der Erkundung ihrer Kunstfertigkeit. Das Material enthielt, nach Schellenbergs Kriterien 1940 ausgewählt, außerordentlich viel Silber, das in Hamburg gefertigt worden war. Gelegentlich sah er sich daher mit dem Vorwurf konfrontiert, eigene Forschung amMaterial vornehmen zu wollen. Dieses Interesse hatte imMHG spätestens in den 1920er-Jahren begonnen und war dort mit zwei Namen verbunden: Hans Schröder (Kustos von

230 SILKE BEINER-BÜTH »Ein paar schlichte Kellerräume sind es, die aussehen wie der Laden eines Trödelhändlers und zugleich wie ein technisches Laboratorium mit Regalen geheimnisvoller Flaschen, Gläsern, Apparaten, Werkzeugen« – so wird in einem Artikel der Hamburger Zeitung vom 18. Januar 1945 die Arbeit Vom Restaurierung imMuseum Akademiker vernetzten zum Handwerker für Hamburgische Geschichte

231 des Museumsrestaurators Hubert Weißen als »Zauberwerkstatt« gewürdigt. Für seine Arbeit benötige er Kenntnisse »als Bildhauer, Maler, Architekt, Kunsttischler, Drechsler, Intarsienschneider, Modellzeichner, Photograph, Chemiker [. . .]«. Weißen, ein Allround-Handwerker, spezialisierte sich auf die Restaurierung von Gemälden, Altären und Skulpturen, arbeitete aber auch an Trachten, Wappen, Waffen und Grabfunden. Es war noch nicht 1 J. J. N. Voß Porträt des Franz Heinrich Neddermeyer Gemälderückseite mit Restaurierungsaufkleber Öl auf Leinwand, 46 × 40 cm, Rahmen 51,5 × 45 cm 1834 MHG, Inv.-Nr. 1906,69b

232 üblich, Restaurierungen zu dokumentieren, aber an einigen Gemälden des Museums für Hamburgische Geschichte (MHG) findet sich heute noch rückseitig ein gedruckter Aufkleber: »Restauriert am . . ., 19. . . Weißen«, der leider nie ausgefüllt wurde (Abb. 1). Allrounder-Handwerker und Werkmeister Hubert Weißen, 1910 zunächst als Tischler angestellt, war bis 1948 für das Museum tätig. Er war mit der Berufsbezeichnung »Werkmeister« Adolph Schieck gefolgt, der sich zunächst als Oberaufseher und später als Werkmeister von 1890 bis 1923 um den Erhalt der Sammlung Hamburgischer Altertümer kümmerte. Schieck, ein geschichtlich interessierter Autodidakt, der ursprünglich eine Ausbildung zum Schiffsklempner gemacht hatte, war nicht nur für Erhaltungsmaßnahmen an allen Materialgruppen der Sammlung zuständig, sondern arbeitete auch im Aufsichtsdienst, leitete die Museumswerkstätten, richtete Sammlungsräume ein, betreute das Depot und die Neuzugänge und war an der Erweiterung der Sammlung beteiligt. Besonders interessierten ihn das Bürgermilitär und die bürgerliche und bäuerliche Tracht. Er war es auch, der entdeckte, dass auf einer Holztafel im Depot des Museums unter einer späteren Übermalung mittelalterliche Malerei durchschimmerte: Damit war ein Flügel des Petri-Altares von Meister Bertram entdeckt, der sich heute in der Hamburger Kunsthalle befindet. Im Depot fand Weißen auch die Trümmer der »Törichten Jungfrau« (Abb. 2) aus dem Lettner des Hamburger Domes und konnte sie wieder zusammensetzen.

233 2 Törichte Jungfrau Kalksteinskulptur vom Lettner des Hamburger Doms Ende 13. Jahrhundert MHG, Inv.-Nr. AB551 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele Gemälde aus dem Besitz von Institutionen und Privatpersonen sowie Kirchenaltäre, die während des Krieges ausgelagert waren, von der Militärregierung imMuseum zusammengeführt. Sie wurden dort zum Teil auch restauriert, während der neue Direktor, Walter Hävernick, sich eher eine Konzentration auf die Sammlung des Museums wünschte. Theodor Sachse, ein ehemaliger Modellbauer und freiberuflicher Gemälderestaurator, war ab 1948 dann auch nur für das Museum tätig und auf die Gemälderestaurierung spezialisiert. Bis in die 1960er-Jahre waren ihm die anderen Werkstätten, in denen sowohl handwerklich als auch restauratorisch gearbeitet wurde, unterstellt. Gleichzeitig wurden die »Werkmeister« und »Werkmeistergehilfen« für den Ausstellungsaufbau und Aufsichtsdienst herangezogen. Walter Hävernick, in Personalunion Museumsdirektor und Leiter des Instituts für Volkskunde der Universität Hamburg, setzte für Restaurierungsarbeiten auch seine Studenten ein, die vorrangig daran interessiert waren, Objekte in einen sauberen, blanken Zustand zu bringen. Herstellungs- und Gebrauchsspuren wurden dabei vernichtet. Georg Kawohl, der 1960 ins Museum kam, war vorher als Kunst- und Goldschmied tätig. In seinem 15 Quadratmeter großen Arbeitsraum fand er Schmirgelpapier, Petroleum, Waffenöl, Sidol und Ata als Restaurierungsmaterial vor und war entsetzt. Kawohl bildete sich fort, vernetzte sich mit den Hamburger Restauratoren, arbeitete mit der Gewerkschaft zusammen und erkämpfte sich allmählich eine wissenschaftlichere Vorgehensweise. Professionalisierung und Spezialisierung In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde zunehmend Kritik am Umgang mit dem Sammlungsgut und seinem Erhaltungszustand laut. Berufsverbände für Restauratoren gründeten sich und forderten neben einem Berufsschutz eine mehrjährige Ausbildung auf Hochschulniveau, die sich auf die verschiedenen Materialbereiche spezialisiert. Schon 1942 hatte sich der Beirat für Kunst- und Kulturangelegenheiten über Restaurierungsarbeiten an Kunstwerken und die Ausbildung von Restauratoren informiert. Es wurde vorgeschlagen, ein Lehrgebiet für die Erhaltung von Kunstwerken an der damals so genannten Hansischen Hochschule für bildende Künste einzurichten. Die praktische Ausbildung zum Restaurator sollte in den Werkstätten des MHG durchgeführt werden. Die Kulturbehörde griff die Thematik Jahrzehnte später wieder auf und setzte unter Beteiligung der angestellten Restauratoren Arbeitsgruppen für die Materialbereiche Gemälde, Textil, Grafik, Möbel und Objekte ein. Sie untersuchten, ob für die Hamburger Institutionen zentrale Restaurierungswerkstätten eingeführt werden sollten. In Vorbereitung wurden alle Objekte gezählt und den verschiedenen Restaurierungsfachbereichen zugeordnet. Ein großer Mangel an Personal, Ausstattung, Depots und Ausbildung wurde festgestellt. Gefor-

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