Leseprobe

Ausstellungsführer Die Bundeswehr in der Ära Merkel Krieg und Frieden 2005 – 2021

Die Bundeswehr in der Ära Merkel Krieg und Frieden 2005 –2021 Herausgegeben von Kristiane Janeke, Sönke Neitzel und Rudolf J. Schlaffer

Inhalt Sönke Neitzel 8 D ie Bundeswehr in der Ära Merkel 2005–2021 Ilhan Akcay 16 Einsatz im Irak – ein Erfahrungsbericht Kristiane Janeke 20 K rieg, Militär und Geschichte im Museum A nmerkungen zur Sonderausstellung »Die Bundeswehr in der Ära Merkel. Krieg und Frieden 2005–2021« 30 Wrack eines Einsatzfahrzeugs Mungo Rudolf J. Schlaffer 6 Militärgeschichte, die noch qualmt Vorwort

Katalog 36 Schlüsselexponate 50 Fotografien von Jens Umbach Afghanistan im Fokus 52 Einsatz Die Bundeswehr am Hindukusch 58 Einsatz Abzug aus Afghanistan und Einsatz auf See 66 Landes- und Bündnisverteidigung Aufbau neuer alter Fähigkeiten 72 Politik Diplomatie undVerantwortung Anhang 109 Autoren:innen 110 Impressum 112 Bildnachweis 82 Gesellschaft Ein zwiespältiges Verhältnis 92 Soldatische Selbstbilder Kein Job wie jeder andere 100 Rüstung Bedingt einsatzbereit 106 Epilog

8 Die Bundeswehr in der Ära Merkel 2005–2021 Sönke Neitzel 2005 ist Deutschland sicherheitspolitisch mit sich im Reinen. Die Bundeswehr nimmt an den Stabilisierungseinsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan teil, stellt für kleinere UNMissionen etwa im Sudan Soldaten bereit und leistet humanitäre Hilfe nach der Flutkatastrophe in Indonesien. Von Kampfeinsätzen hält man sich fern. Soldaten sind keine Krieger, sondern Aufbauhelfer, die retten und schützen. Mit diesem Kurs ist man politisch gut gefahren. Einerseits präsentiert sich Deutschland als zuverlässiger Bündnispartner, der international Verantwortung übernimmt. Andererseits wird auf die kritische Haltung der eigenen Bevölkerung Rücksicht genommen. Die Deutschen haben ihre anfängliche Skepsis gegenüber den sogenannten Out-of-area-Einsätzen in den 1990er Jahren nur langsam überwunden. Und dies auch nur, weil die Regierung die Operationen konsequent als Friedensmissionen darstellt und jede Anmutung von Krieg vermeidet. Gewiss hatte sich Deutschland 1999 am Kampfeinsatz gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt, doch dies war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Im November 2001 musste Bundeskanzler Gerhard Schröder sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um im Parlament eine Mehrheit für die Entsendung deutscher Soldaten an den Hindukusch zusammenzubekommen. Sicherheitspolitik Als Angela Merkel im November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wird, ahnt niemand, dass ihre lange Amtszeit zu einer der ereignisreichsten und prägendsten Phasen der Geschichte der Bundeswehr werden wird: der Krieg in Afghanistan, die ersten Gefallenen im Gefecht, die Bombardierung zweier Tanklaster nahe Kundus, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung mit einer weitgehend heruntergewirtschafteten Armee. Viele wirken in dieser Zeit an der Sicherheitspolitik mit. Aber es ist die Kanzlerin, die diese mit ihrer Richtlinienkompetenz ganz wesentlich bestimmt und eine Ära prägt. Zunächst ist die Lage ruhig. Deutschland ist von Freunden umgeben, die Vorstellung eines großen Krieges in Europa erscheint als ein Überbleibsel aus längst vergangenenTagen. Die Beteiligung an internationalen Friedensmissionen ist auf der politischen Agenda nicht mehr als eine Fußnote. Andere Themen stehen im Fokus. Als Merkel ins Kanzleramt einzieht, gibt es im Land eine Rekordarbeitslosigkeit von 4,8 Millionen. Die Lösung der sozialen Frage ist ohne Zweifel das dringendste politische Problem. 2007/08 folgt die Finanzkrise mit dem drohenden Kollaps des internationalen Bankensystems und seinen unabsehbaren globalen Folgen. 2010 beherrscht die Eurokrise die Schlagzeilen, als Griechenland zahlungsunfähig wird. Und schließlich stolpert Europa 2015 in die Flüchtlingskrise. Angesichts dieser Herausforderungen verwundert es kaum, dass die Bundeswehr nicht imMittelpunkt der Regierungspolitik steht, zumal die Kanzlerin kein enges Verhältnis zum Militär hat. Ein Staat von der Größe der Bundesrepublik kann sich auf der internationalen Bühne nicht verstecken. Schon bald weht Angela Merkel der Wind der sicherheitspolitischen Realpolitik entgegen. Auf dem NATO-Gipfel 2006 in Riga kritisieren Amerikaner und Briten harsch, dass Deutschland keineTruppen in den heftig umkämpften Süden Afghanistans

9 schickt. Die Kanzlerin lässt sich aber nicht beirren und behält die traditionelle Linie der militärischen Zurückhaltung bei, stellt als Zeichen der Solidarität jedoch sechs Aufklärungsflugzeuge zur Verfügung. Die Bündnispartner müssen das Ausweichmanöver zähneknirschend akzeptieren, zumal die Deutschen der drittgrößte Truppensteller am Hindukusch sind. Die International Security Assistance Force Mission (ISAF) in Afghanistan ist nicht der einzige Auslandseinsatz, den Angela Merkel von ihrem Vorgänger übernimmt. Deutsche Soldaten sind auch unter der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) im Indischen Ozean beteiligt sowie an den von der NATO geführten Einsätzen im Kosovo (KFOR) und im Mittelmeer (Active Endeavour), dem EU-Einsatz in Bosnien (Althea) und stellen unter UN-Flagge Beobachter im Sudan (UNMIS). 2006 kommt die Beteiligung an den UN-Missionen vor der Küste Libanons (UNIFIL) und der EU-Mission zur Überwachung der Wahlen im Kongo (EUFOR RD Congo) hinzu. 2008 folgt der EU-Antipirateneinsatz vor der somalischen Küste Atalanta, ab 2013 schließlich eine UN- und eine EU-Mission im westafrikanischen Mali (MINUSMA, EUTM), um hier nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Deutsche Soldaten sind also auf drei Kontinenten im Einsatz und dies immer im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit, also der UN, der NATO oder der EU. Das Bundesverfassungsgericht legte diesen Rahmen 1994 gemäß Grundgesetz so fest. Mit dabei zu sein, in allen drei großen internationalen Organisationen mitzuspielen, um sich so Einfluss zu sichern, ist einer der wesentlichen Gründe, warum sich Deutschland an Out-of-area-Operationen beteiligt. Deshalb hat man in der NATO Gewicht und kann einflussreiche Positionen besetzen. Und deshalb gelingt es, alle sieben Jahre einen der nichtständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat einzunehmen – so wie 2003/04 und erneut 2011/12. Afghanistan Zu Beginn der Ära Merkel gibt es keine großen Debatten über die Bundeswehr und ihre Mandate. Das Parlament verabschiedet diese stets mit großer Mehrheit. Die Missionen scheinen mit den Maximen der deutschen Sicherheitspolitik »Nie wieder« und »Nie wieder allein« gut vereinbar. Es geht stets um Wiederaufbau und Stabilisierung im Verbund mit den internationalen Partnern. Während es in Bosnien und im Kosovo ruhig bleibt, die Überwachung der Wahlen im Kongo rasch abgeschlossen werden kann und die UNIFIL-Mission vor der Küste des Libanon an Ereignisarmut kaum zu übertreffen ist, verschlechtert sich seit 2006 die Lage in Afghanistan. Im Süden Eine Soldatin im Rahmen der Mission UNIFIL auf der Korvette Oldenburg im Hafen von Beirut, Libanon 2019

10 und Osten sind Amerikaner und Briten in heftige Kämpfe verwickelt und auch im Norden – wo die Deutschen seit Juni 2006 die Verantwortung innehaben – gibt es immer mehr Anschläge mit selbstgebauten Sprengkörpern (IED) und Angriffe mit Handfeuerwaffen. 250 000 Paschtunen, die seit 2001 in den Süden des Landes und nach Pakistan geflohen sind, kehren nun allmählich in den Norden zurück. Viele von ihnen leben unter erbärmlichen Bedingungen. Für die Taliban und andere Aufständische ist es ein Leichtes, unter den Flüchtlingen Kämpfer zu rekrutieren. Die Bundeswehr wird gezwungen, etwas zu tun, was nie vorgesehen war: zu kämpfen. Im November 2006 ist Afghanistan erstmals Titelthema des »SPIEGEL«. »Die Deutschen müssen das Töten lernen – Wie Afghanistan zum Ernstfall wurde«, ist auf dem Cover zu lesen. Je mehr die Realität vor Ort und die offizielle Sprachregelung auseinanderklaffen, desto mehr Kritik zieht die Mission am Hindukusch auf sich. Nun rächt sich, dass Regierung und Parlament die deutsche Beteiligung am ISAF-Einsatz stets als Friedensmission beschreiben, die dazu beitrage, Menschenrechte und Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Kampf und Tod kommen in dieser Erzählung nicht vor. Mit jedem Gefecht, das deutsche Soldaten zu bestehen haben, gerät die Bundesregierung in größere Bedrängnis. Es fehlt eine überzeugende Kommunikationsstrategie, um den Deutschen und ihren Soldaten zu erklären, was man wie am Hindukusch erreichen will. Obwohl das politische Berlin gern auf den friedlichen Charakter des eigenen Engagements in Afghanistan verweist, bleibt die Zahl der zivilen Beamten im Land überschaubar. Das Innenministerium beginnt mit gerade einmal 16 Polizisten die Herkulesaufgabe, eine afghanische National Police aufzustellen. Bis zum Abzug sind es nie mehr als 200 Beamte. Personell wird das Feld weitgehend demVerteidigungsministerium überlassen. 2006 sind 450 Soldaten im Provincial Reconstruction Team (PRT) Kundus eingesetzt, davon lediglich zehn zivile Mitarbeiter der einschlägigen Ministerien. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Afghanistan eine Angelegenheit der Bundeswehr, zumal die eskalierende Sicherheitslage sie einmal mehr in den Mittelpunkt des deutschen Engagements rückt. ImVerteidigungsministerium ringt man seit 2006 darum, sich den Realitäten vor Ort anzupassen. Manche wollen um jeden Preis den Charakter der »Peacekeeping Operation« aufrechterhalten. Keine schwerenWaffen, kein offensives Operieren, sondern die konsequente Beschränkung auf die Aufbauhilfe. Weiche man von dieser Linie ab, werde man in einen gewaltsamen Konflikt hineingezogen, den man nicht gewinnen könne. Andere argumentieren, man müsse akzeptieren, dass es sich um einen robusteren Einsatz handelt, als ursprünglich gedacht. Die Bundeswehr solle entschlossener und mit mehr Soldaten gegen die Aufständischen vorgehen, fordert auch die NATO. Nach langem Zögern werden im Frühsommer 2009 erstmals Schützenpanzer und Mörser in Gefechten eingesetzt. Verteidigungsminister Franz Josef Jung spricht im Juni 2009 davon, dass man in einem Kampfeinsatz sei, im Oktober nimmt er dasWort »Gefallene« in den Mund. Aber erst Karl-Theodor zu Guttenberg verwendet im April 2010 das Wort »Krieg«. Bis heute sind die Meinungen geteilt, ob dieser Duktus den Konflikt richtig beschreibt. Seinerzeit ist die Anpassung der Sprache kaum zu vermeiden. Deutsche Soldaten befinden sich seit Frühjahr 2009 permanent in Gefechten mit Aufständischen, die sich immer selbstbewusster zum Kampf stellen. In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 lässt der damalige Kommandeur des Regionalen Wiederaufbauteams Kundus Oberst Georg Klein zwei von den Taliban entführte Tanklaster bombardieren. Die Zahl der Opfer kann bis heute nicht genau bestimmt werden. Der Generalbundesanwalt beziffert sie auf rund 50 Tote und Verletzte, darunter etliche Zivilisten. Die nicht mehr zu übersehende hässliche Seite des Krieges trägt dazu bei, dass die Zustimmung der Bevölkerung zum Einsatz sinkt. Erstmals lehnt eine Mehrheit den ISAF-Einsatz

11 ab. Allerdings darf man nicht vergessen, dass 2010 immerhin noch 44 Prozent der Mission zustimmen, 2011 sind es gar 48 Prozent. Den Tiefpunkt erreicht der Zuspruch erst ganz am Ende des ISAF-Einsatzes 2014 mit 35 Prozent. Unpopulär wird der Einsatz aber nicht nur bei der deutschen Bevölkerung. Auch US-Präsident Barack Obama hat angesichts der hohen amerikanischen Verluste und der gewaltigen finanziellen Aufwendungen genug vom Engagement in Afghanistan. Die NATO beschließt 2010 auf seinen Druck hin, sich allmählich zurückzuziehen und bis 2014 die Sicherheitsverantwortung der Regierung in Kabul zu übergeben. Mehr und mehr konzentrieren sich die Anstrengungen der Bundeswehr auf die Ausbildung der afghanischen Armee und bald auch auf den eigenen Abzug. Allerdings ist überdeutlich, dass die afghanischen Streitkräfte und die Polizei noch lange nicht so weit sind, selbst für Sicherheit zu sorgen. Deshalb folgt nach dem Ende von ISAF Resolute Support – wieder mit deutscher Beteiligung. Im Umfang deutlich kleiner, konzentriert sich diese Mission nun ganz auf Ausbildungshilfe. Im Sommer 2021 wird auch dieser Einsatz auf DruckWashingtons beendet. Ob der Abzug aus Afghanistan verfrüht war oder nur das längst überfällige Ende einer zum Scheitern verurteilten Operation, wird im In- und Ausland kontrovers diskutiert. Ebenso halten die Diskussionen darüber an, warum der afghanische Staat unter dem Ansturm der Taliban so schnell zusammenbrach und warum diese Entwicklung nicht rechtzeitig erkannt wurde. Identitäten Der Afghanistan-Einsatz zwingt Gesellschaft und Politik dazu, sich mit unangenehmen Fragen auseinanderzusetzen. Auf einmal müssen deutsche Männer und Frauen kämpfen, sie töten und sie sterben. Das Bild des bewaffneten Wiederaufbauhelfers, mit dem sich weite Teile der Gesellschaft, aber auch zunehmend die Bundeswehr selbst anfreunden, bekommt Risse. Gewiss, nur eine Minderheit der deutschen Soldaten nimmt in Afghanistan an einem Gefecht teil. Doch SPIEGEL-Titel »Die Deutschen müssen das Töten lernen.«, Ausgabe vom 20. November 2006

16 Einsatz im Irak – ein Erfahrungsbericht Ilhan Akcay Als ich mich dazu entschied, Offizier bei der Bundeswehr zu werden, war für mich eine Sache klar: Ich wollte zur Fallschirmjägertruppe. Als Sohn türkischer Immigranten hatte ich einen anderen Bezug zumMilitär, in der türkischen Kultur gibt es die typisch deutschen Ressentiments und Berührungsängste gegenüber allem Militärischen einfach nicht. Ich konnte mich schnell mit deutschen militärischen Tugenden identifizieren, zum Beispiel dem Führen mit Vorbild, welches besagt, dass ein:e militärische:r Führer:in durch die eigene Haltung, Selbstverständnis und Leistung den Untergebenen ein Beispiel sein soll. Oder dem Führen mit Auftrag, also den Untergebenen ein Ziel und die Grenzen vorzugeben und diesen so viele Freiräume wie möglich zu lassen, um das Ziel zu erreichen. Die/der deutsche militärische Führer:in sollte die Entbehrungen der Truppe teilen. Das war Erwachsenenausbildung und -führung, das hat mich überzeugt. Meine Migrationsgeschichte konnte ich als Fallschirmjäger positiv einbringen: Viele kulturelle Konflikte, die oft aus Unverständnis der verschiedenen kulturellen Hintergründe resultieren oder angeheizt werden, sind mir vertraut. Daher konnte ich verschiedene Denkansätze und InterpretationenVorgesetzter und Untergebener einfacher einordnen. Die Wahl, zur Fallschirmjägertruppe zu gehen, stellte sich dabei als gute Entscheidung heraus. Entgegen allen Klischees ist diese eine sehr lösungsorientierteTruppengattung, zugleich herrscht ein Zu Gast bei einem irakischen General, 2019

17 strenges Leistungsprinzip. Wer Leistung bringt und bereit ist, sich für das Große und Ganze einzusetzen und sich ständig weiterzuentwickeln, wird akzeptiert und findet Anerkennung. Dabei spielt die Herkunft der jeweiligen Fallschirmjäger:in nur eine untergeordnete Rolle. Dadurch ist die Fallschirmjägertruppe auch ein Melting Pot, der Menschen verschiedenster Herkünfte, Religionen und sexueller Orientierungen zu einer schlagkräftigen und einsatzbereiten Truppengattung macht. Alle diese Erkenntnisse durfte ich 2019 im Auslandseinsatz der Bundeswehr im Irak1 nutzen. Dort war ich eingesetzt als Ausbilder von Methodik und Didaktik und Führer eines Mobile Training Teams (MTT), um irakische Soldaten in der Ausbildungslehre der Bundeswehr zu schulen und es so dem Irak zu ermöglichen, einsatzbereite Streitkräfte aufzustellen. Als Offizier war Ausbildungslehre Teil meiner Ausbildung zum militärischen Führer. Schon beim ersten Sichten der Stundenpläne und Ausbildungsinhalte wurde mir klar: Unser Lehrgang würde nur ein extrem flüchtiges »Kratzen an der Oberfläche« darstellen. Wir hatten nur zehnTage zur Ausbildung zur Verfügung, davon gingen allein schon drei Tage für Organisatorisches und die Anfahrt der Lehrgangsteilnehmer ab. In den restlichenTagen hatten wir nur von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr Zeit, um zu unterrichten. Insgesamt also 21 Stunden, um Menschen, die einem völlig anderen Kulturkreis angehören, deutsche Methodik und Didaktik beizubringen. Die Ausbildung musste daher im »Schweinsgalopp« erfolgen. Konkret sah einer meiner Arbeitstage so aus, dass meinTeam und ich den vorgeschriebenen Unterricht abhielten und um 11 Uhr wieder gingen. Das war Frontalunterricht pur. Es blieb kaum Zeit, tiefer in die Materie einzusteigen, Gruppenarbeiten durchzuführen oder mehr als oberflächlich auf die Fragen der irakischen Lehrgangsteilnehmer einzugehen. Der Rest desTages wurde von uns für administrative Tätigkeiten genutzt. Es gab also keine Zeit für die Lehrgangsteilnehmer, die Ausbildungsinhalte zu verinnerlichen, oder für Diskussionen. Meine Vorschläge, durch eine Anpassung des Lehrplans oder mehr Zeit für den Austausch einzuplanen, indem zum Beispiel die tägliche Unterrichtszeit oder die Anzahl der Lehrgangstage erhöht wird, wurden von internationalen Verantwortlichen abgeblockt.2 Problematisch waren nicht nur die zur Verfügung stehende Zeit, sondern auch die Lehrgangsinhalte. Unser Lehrgang bildete deutsche Ausbildungs- und Führungsprinzipien ab. Die konkrete Ausgestaltung der Inhalte erfolgte durch eines unserer Vorgängerkontingente, wurde von uns in geringem Umfang noch einmal angepasst. Dieser Lehrgang wurde also von deutschen Infanterist:innen gemäß deutscher Prinzipien entworfen. Eine Überprüfung durch Expert:innen, ob diese Prinzipien sich auf die irakischen Streitkräfte übertragen lassen, fand nicht statt. Exemplarisch für dieses Problem waren auch die Erfahrungen des deutschen MTT Logistik, unseres Schwester-MTT. Dieses hatte den Auftrag, die irakischen Lehrgangsteilnehmer in der logistischen Organisation eines Bataillons auszubilden. Dabei wurde wieder nach deutschen Organisationsprinzipien ausgebildet, uns war die Auf dem Flugplatz, Camp Taji 2019

18 logistische Organisation der irakischen Streitkräfte nicht bekannt. Die irakischen Lehrgangsteilnehmer baten das MTT Logistik darum, einen weiteren Lehrgang für Logistik auf Kompanieebene durchzuführen, aber unser diesbezüglicher Antrag an das Hauptquartier der Combined Joint Task Force (CJTF) wurde abgelehnt. Hinzu kam die Sprachbarriere. Sprache lässt sich nicht unabhängig von Kultur betrachten, und da die deutsche und die irakische Kultur grundlegend verschieden sind, muss beim Übersetzen von Texten und beim Dolmetschen mit Bedacht vorgegangen werden. Leider waren die Dolmetscher:innen, die uns zur Verfügung standen, entweder keine Expert:innen (z.B. lokal angeheuerte Iraker:innen mit Englischkenntnissen), oder kannten sich mit militärischen Fachbegriffen und Strukturen nicht aus. Der ganze Aufbau der Ausbildung, die Auswahl der irakischen Lehrgangsteilnehmer, das Verhalten der irakischen militärischen Führung ließen mich zu dem Schluss kommen: Die irakischen Militärs haben wenig Interesse an unserer Ausbildungsunterstützung, sie lassen es aber über sich ergehen, weil sie sich dadurch materielle und finanzielle Hilfsleistungen erhoffen. Militärische Ausbildungsunterstützung ist dazu da, um die Streitkräfte eines anderen Landes immilitärischen Handwerk zu schulen. Diese Herangehensweise ergibt dort Sinn, wo genau das das Problem ist, zum Beispiel wenn die Soldat:innen eines Landes nicht wissen, wie man ein Waffensystem benutzt, in bestimmten Lagen taktisch vorgeht oder wenn es Defizite in der Operationsplanung gibt. Deutsche Soldat:innen sind gut darin, das zu vermitteln, denn das gehört zum alltäglichen Dienst als militärische:r Führer:in. Gerade das ist aber, und das haben meine eigenen Erfahrungen bestätigt, nicht das Problem im Irak. Es geht nicht um das Kämpfen-Können, sondern um das Kämpfen-Wollen. Die Struktur des irakischen Militärs entstand nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und wurde durch Großbritannien geprägt, als das Land noch Teil des britischen Mandats war. Es entspricht einem europäischen Modell, welches die gesellschaftlichen Realitäten im Irak nicht abbildet. Der Grund für die Instabilität des Iraks geht auf das bürgerkriegsähnliche Ringen umMacht verschiedener religiöser, ethnischer und weltanschaulicher Gruppen zurück, das von den Machtinteressen anderer Nationen, in einer Art Stellvertreterkrieg, für eigene Interessen genutzt wird. Dieser Befund wird auch, wie ich selbst im Einsatz beobachten konnte, aus den unterschiedlichen Erfolgserlebnissen der irakischen Streitkräfte im Vergleich zu den Popular Mobilization Forces (PMF), eigenständig organisierten Milizen, die nach dem Fall von Mosul an Da’esh entstanden, ersichtlich: Fehlende militärische Fertigkeiten sind nicht das Problem. Daher Bei der gemeinsamen Ausbildung mit US Kamerad:innen, Camp Taji 2019

19 wird das deutsche Engagement meiner Erfahrung nach im Irak nicht zu einem Erfolg führen, denn man versucht, das falsche Problem zu lösen. Auch der Einsatz unserer internationalen Partner, der sich auf militärische Kräfte in Form von Spezialkräften, Luftkriegsmittel und Feuerunterstützung konzentriert, ohne die Dynamik der irakischen Gesellschaft zu beachten, scheint mir wenig erfolgversprechend. Afghanistan wiederholt sich. Diese Erfahrungen bilden für mich einen Widerspruch zu meinem Selbstverständnis als Offizier und Fallschirmjäger. Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Kamerad:innen, auch solche ohne Migrationshintergrund, teilen diese Sicht. Wir sind, wie gesagt, eine lösungsorientierte Truppengattung. Deswegen fällt es uns schwer, unsere Ausbildung und unser Selbstverständnis auf der einen und die Ergebnisse der Auslandseinsätze auf der anderen Seite miteinander zu vereinbaren. Und ich muss fragen: Haben wir in der Bundeswehr die nötige Ausbildung und auch das nötige interkulturelle Verständnis, um solche Einsätze zu bestreiten? Der Aufbau der Auslandseinsätze erweckt bei mir den Eindruck, dass die Gesellschaftsordnungen der Länder, in denen die Einsätze stattfinden, keinen Einfluss auf die Operationsführung haben. Auffällig finde ich, dass es in der Bundeswehr noch immer sehr wenige Kamerad:innen mit Migrationshintergrund, vor allem als Offizier:innen und auf entscheidenden Dienstposten, gibt. Zumeist beschränkt man sich darauf, diese Menschen für den Sofortbedarf als Übersetzer:innen anzuwerben. Dadurch lässt sich aber ihr besonderer Hintergrund nur eingeschränkt nutzen. Ihre interkulturelle Kompetenz kann so aktuell keinen Eingang in die Bundeswehr finden, interkulturelle Kompetenz ist nicht breit gestreut oder institutionell verankert, sondern auf einige wenige Personen beschränkt. Ich denke, dass das Fehlen dieser Kompetenz großen Einfluss darauf hat, dass unsere Einsätze sehr ähnlich aufgebaut sind, sich meistens auf die Ausbildung von Soldat:innen auf der untersten taktischen Ebene beschränken sowie die gesellschaftlichen Dynamiken und politischen Realitäten der Einsatzländer in der Praxis weitestgehend ignorieren. Ich frage mich, wie es sein kann, dass wir das enorme Potenzial unserer Einwanderungsgesellschaft nicht nutzen bzw. dieses Potenzial nicht für die Bundeswehr anwerben können. Mit meinem eigenen Hintergrund, aber auch mit meinen Erfahrungen im Einsatz sehe ich darin ein Problem, das uns auch in Zukunft begegnen wird. Denn so sehr wir uns auf LV/BV (Landesverteidigung/Bündnisverteidigung) konzentrieren wollen – Einsätze in Ländern mit Kulturen, die uns völlig fremd sind, werden uns in Zukunft weiterhin begleiten. Teile des MTT Leadership, Camp Taji 2019 1 Die Bundeswehr beteiligt sich seit 2015 am Kampf gegen den sog. Islamischen Staat (Counter Daesh) und an der Ausbildung der irakischen Streitkräfte (Capacity Building). Der Einsatz erfolgt zwar innerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit, rechtlich ist dieser aber nicht Teil einer internationalen Mission, sondern bilateral zwischen der deutschen und irakischen Regierung abgestimmt. 2 Deutsche Kräfte sind aufgrund einer bilateralen Vereinbarung mit der irakischen Regierung im Einsatz, d. h. nicht gebunden an Weisungen und Vorgaben der multinationalen US-geführten Combined Joint Task Force – Operation Inherent Resolve (CJTF-OIR). Sie haben sich aber während meiner Zeit im Irak an die Vorgaben von CJTF bezüglich Ausbildungsinhalten gehalten. Das CJTF-Hauptquartier in Kuwait sah keinen Bedarf für eine Anpassung der Ausbildung.

30 Wrack eines Einsatzfahrzeugs Mungo Nordafghanistan, 2008 Mit dem Fahrzeug sind am 20. Oktober 2008 Fallschirmjäger der Bundeswehr im Einsatz südlich von Kundus. Ein Selbstmordattentäter auf einem Fahrrad sprengt sich vor dem Mungo in die Luft. Fünf afghanische Kinder und zwei Soldaten sterben. Zwei Schwerverwundete, ein Kind und ein Soldat, können gerettet werden. Ein Kamerad der getöteten Soldaten hängt 2019 zum Gedenken einen Kranz an das Wrack.

31 Das »Einsatzfahrzeug Spezialisierte Kräfte« Mungo Der Mungo basiert auf dem Nutzfahrzeug »Multicar«. Er ist für asymmetrische Bedrohungslagen ausgelegt. Als luftverladbares Transportfahrzeug soll es im Operationsgebiet wie ein Einwegfahrzeug bei Feindkontakt zerstört und zurückgelassen werden. In Afghanistan wird der Mungo breiter eingesetzt und kommt an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.

Katalog

Anhand von sechs Themen entwickelt die Ausstellung Fragen und Leitgedanken zu Herausforderungen der deutschen Streitkräfte im internationalen Umfeld vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Wo steht die Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen militärischen Anforderungen, humanitären Aufgaben, politischen Vorgaben, gesellschaftlichen Erwartungen und dem eigenen Selbstverständnis? Innerhalb der Themen betrachtet die Ausstellung unterschiedliche Haltungen zur Bundeswehr. Viele Soldat:innen wünschen sich mehr Rückhalt und Anerkennung von der Bevölkerung und der Politik. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus, sind Politik und Gesellschaft aber eher zurückhaltend. Politische Entscheidungsträger sehen die Bundeswehr als Instrument von Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik. Die Gesellschaft schätzt die Bundeswehr als Krisenhelfer, ist aber verhalten bei Kampfeinsätzen. Die Verteidigungsindustrie ist geleitet von wirtschaftlichen Interessen und hängt zugleich vom Staat ab. Die Ausstellung greift Beispiele für diese Bereiche heraus, spitzt zu und macht Widersprüche sichtbar. Damit will das Museum die Diskussion über das heutige Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihren Streitkräften und eine offene Auseinandersetzung über Krieg und Gewalt anregen.

38 Schlüsselexponate Dingo-Tür War Deutschland im Krieg? 20 Jahre dauert der Einsatz in Afghanistan. Von einem Engagement für mehr Sicherheit und Stabilität ist die Rede, von einem vernetzten Ansatz, einer Mission zur Unterstützung des Staatsaufbaus, schließlich auch vom Kämpfen. Von Krieg spricht mit Verweis auf das Völkerrecht niemand, während Soldat:innen in Afghanistan kämpfen und sterben. Insgesamt kommen 59 von ihnen ums Leben. 35 fallen im Gefecht oder werden durch Anschläge getötet. Bundeskanzlerin Merkel äußert sich wenig über Afghanistan. Verteidigungsminister Franz Josef Jung spricht 2008 erstmals in einer Trauerrede öffentlich von Gefallenen. 2009 benutzt sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg den Begriff »kriegsähnliche Zustände«, nach dem Karfreitagsgefecht zum ersten Mal das Wort Krieg, um die Einsatzrealität in Afghanistan zu beschreiben.

39 AbgesprengteTür eines Allschutz- Transportfahrzeugs Dingo Nordafghanistan, 2010 Leihgeber: Fallschirmjägerregiment 31 der Bundeswehr, Seedorf Die beiden Dingo-Türen in der Fallschirmjägerkaserne Seedorf, 2022 Am 2. April 2010 stehen deutsche Soldaten nahe der Ortschaft Isa Khel über acht Stunden im Feuerkampf. Drei von ihnen sterben, fünf werden verwundet. Ein Dingo wird durch eine versteckte Sprengladung zerstört, das Wrack verwenden Aufständische später als Trophäe. Im September 2011 bergen deutsche Truppen die abgesprengten Türen des Fahrzeugs. Sie stehen zunächst im Ehrenhain im Feldlager Kundus. Heute befinden sie sich in Seedorf zum Gedenken an die gefallenen Kameraden und als Ort der Erinnerung. Das Karfreitagsgefecht steht für den Wandel des Afghanistan-Einsatzes vom Stabilisierungs- zum Kampfeinsatz.

40 Schlüsselexponate Tiger Warum ist Rüstung ein Problem? Die Entwicklung des Tigers ist ein anschauliches Beispiel für die Schwierigkeiten großer europäischer Rüstungsprojekte. 1984 beschließen die deutsche und die französische Regierung, gemeinsam einen neuen Kampfhubschrauber zu entwickeln. Ziele sind die Stärkung der beidseitigen Kooperation und der europäischen Verteidigungsindustrie sowie die Senkung der Kosten für Beschaffung und Instandhaltung. Der Hubschrauber ist deutlich leistungsfähiger als seine Vorgänger. Entwicklung, Bau und Einsatzbereitschaft aber verzögern sich erheblich. Die mangelnde Effizienz großer europäischer Rüstungsvorhaben ist bis heute nicht gelöst. Dies wiegt umso schwerer, als die hohen Kosten von Neuentwicklungen eine europäische Zusammenarbeit in vielen Bereichen unumgänglich machen. Modell einesTiger-Kampfschubschraubers 1:5 Airbus Helicopters, 2020 Leihgeber: Airbus Helicopters Deutschland Der Tiger gehört seit 2005 zur Ausrüstung der deutschen, französischen, spanischen und australischen Streitkräfte. Er ist auf Gefechtsszenarien ausgelegt, die von den Out-of-area-Operationen bis hin zur Panzerbekämpfung in der Landes- und Bündnisverteidigung reichen. Von 2009 bis 2014 setzen alle drei europäischen Betreiberstaaten den Tiger in Afghanistan, 2011 in Libyen und 2017 in Mali ein.

Kampfhubschrauber Tiger in der Luft und technische Details Tag der Schulen 2016, Schwarzenborn, 6. Juli 2016 Der Tiger ist schnell und verfügt über eine große Reichweite. Zudem ist er nachtkampffähig. Die deutsche Version unterscheidet sich von den beiden französischen Varianten und ist von außen leicht an dem Mastvisier zur erkennen. Bis heute gibt es technische Probleme mit dem Hubschrauber und seiner Bewaffnung. Der hohe Wartungsaufwand schränkt die Einsatzbereitschaft stark ein.

48 Schlüsselexponate Drohne Nur Aufklärung oder auchWaffe? In Afghanistan und Mali setzt die Bundeswehr unbewaffnete Drohnen des israelischen Typs Heron zur Aufklärung ein. Seit Jahren gibt es eine Debatte über den Einsatz bewaffneter Drohnen, 2020 neu entfacht durch den Einsatz türkischer Kampfdrohnen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Befürworter:innen verweisen auf einen erhöhten Selbstschutz der Soldat:innen in Gefechtssituationen. Sie befürchten für zukünftige Auslandseinsätze einen selbstverschuldeten Nachteil für die Bundeswehr, falls diese keine Kampfdrohnen einsetzt. Kritik hebt auf die Gefahr der Tötung von Zivilist:innen und eine Senkung der Hemmschwelle beim Einsatz tödlicher Waffen ab. Die Gesellschaft könnte einen Krieg mit unbemannten Waffen verharmlosend als Computerspiel wahrnehmen. 1

49 1  Heron-Drohne Gao, Mali, 5. Juni 2019 2  Bayraktar-Drohne Famagusta, Nord-Zypern, 19. Dezember 2019 Deutschland nutzt die in Israel entwickelte Drohne zur Aufklärung in Afghanistan und Mali. Die Drohne kann auch bewaffnet werden. Bewaffnete türkische Bayraktar-Drohnen sind in Syrien, Libyen und in der Ostukraine im Einsatz. Für breite Diskussionen sorgt ihr Einsatz in Bergkarabach 2020. Die aserbaidschanischen Streitkräfte erringen auch dank der Drohnen die Oberhand und können zahlreiche armenische Panzer zerstören. 2 AirRobot AR 100-B (MIKADO = Mikroaufklärungsdrohne für den Ortsbereich) Durchmesser 1 Meter MIKADO-Drohnen liefern Echtzeitbilder zur Aufklärung für ein genaues Lagebild im Nahbereich bis zu einer Entfernung von 1000 Metern und einer Höhe von 30Metern. Die versuchte Bergung einer abgestürzten MIKADO-Drohne am 2. April 2010 in Afghanistan ist Anlass für das Karfreitagsgefecht, als eine deutsche Patrouille in einen gegnerischen Hinterhalt gerät.

Politik

73 Diplomatie undVerantwortung Die politischen Rahmenbedingungen für die Bundeswehr bestimmen die staatlichen Entscheidungsträger:innen auf der Grundlage des Grundgesetzes. Für die Regierung sind dies das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt, zuständig für die Sicherheitspolitik, und das Verteidigungsministerium, zuständig für die Verteidigungspolitik. Das Parlament wirkt entscheidend an der Festlegung des Finanzrahmens der Bundeswehr mit. Ihm obliegt zudem der Vorbehalt der Zustimmung für Auslandseinsätze. Innerhalb des Bundesministeriums der Verteidigung regelt der Dresdner Erlass von 2012 die Führungsorganisation sowie zivile und militärische Zuständigkeiten. Zur Anerkennung und Wertschätzung auch der Soldat:innen verleiht der Staat Orden und Ehrenzeichen. Das offizielle Selbstverständnis der Bundeswehr sollen Innere Führung und Traditionen vermitteln. Zuletzt waren rechtsextreme Vorkommnisse Anlass, den Umgang mit dem historischen Erbe weiter zu schärfen. Das Wachbataillon der Bundeswehr bei einem Empfang eines ausländischen Staatsgastes mit militärischen Ehren vor dem Bundeskanzleramt, 30. Mai 2017

74 Politik Diplomatie undVerantwortung Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch der multinationalen Schnellen NATO-Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force (VJTF)) Munster, 20. Mai 2019 Fotos und Zitate der Verteidigungsminister:innen zwischen 2002 und 2021 1– 6 Peter Struck (SPD) (2002–2005) »Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt [. . .]« (2004) 1

75 Franz Josef Jung (CDU) (2005–2009) »Ich denke, Deutschland sollte dort keine führende Funktion übernehmen, aber wir werden uns, wenn eine solche Entscheidung kommt, dem nicht verweigern können.« (2006) Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CSU) (2009–2011) »Auch wenn es nicht jedem gefällt, so kann man angesichts dessen, was sich in Afghanistan, in Teilen Afghanistans abspielt, durchaus umgangssprachlich – ich betone umgangssprachlich – in Afghanistan von Krieg reden.« (2010) Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) (2019–2021) »Unsere Bundeswehr ist in den letzten Jahren vielfältiger, talentierter, stärker geworden – ich glaube an diverse Teams.« (2021) 2 Ursula von der Leyen (CDU) (2013–2019) »Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem.« (2017) 5 Thomas de Maizière (CDU) (2011–2013) »Die Bundeswehr versteht sich auch als Teil der Friedensbewegung.« (2013) 4 6 3

76 Politik Diplomatie undVerantwortung Abstimmungskarte Dr. Eva Högl (SPD) Berlin, 2021 Eva Högl ist von 2009 bis 2020 Mitglied des Bundestags. In dieser Zeit stimmt sie bei allen anstehenden Abstimmungen den Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu. Mit ihrer Wahl zur Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags im Mai 2020 muss Eva Högl ihr Mandat als Abgeordnete des Bundestags aufgeben. »Gelbes Band« der Aktion »Gelbe Bänder der Verbundenheit«, eine Initiative des Deutschen BundeswehrVerbandes und der OASE-Einsatzbetreuung Berlin, Deutscher Bundestag, 17. November 2021 Viele Soldat:innen leisten auch über den Jahreswechsel fernab der Heimat Dienst im Einsatzgebiet. Dies sollen die »Gelben Bänder« im Bundestag in Erinnerung rufen. Alle Abgeordneten können damit persönliche Grußbotschaften an die Männer und Frauen in den Einsatzkontingenten schicken. Dieses Band hing von Dezember 2021 bis Juli 2022 im Camp Stephan in Erbil im Irak. Broschüre der Bundesregierung: »Das deutsche Engagement in Afghanistan« Frankfurt am Main, Juni 2015 Die Information des Auswärtigen Amtes zum Einsatz vermittelt eine zuversichtliche Einschätzung der Lage. Politischer Aufbau und Sicherheit in Afghanistan befinden sich demnach auf einem guten Weg. Diese politische Bewertung deckt sich nicht zwingend mit den Erfahrungen vieler Soldat:innen vor Ort.

77 1  Rede zum Dresdner Erlass, Originalmanuskript 2  Verteidigungsminister Thomas de Maizière bei der Unterzeichnung des Dresdner Erlasses im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr Dresden, 21. März 2012 Leihgeber: Bundesminister a.D. Dr. Thomas de Maizière Die Trennung zwischen ziviler Verwaltung und militärischen Zuständigkeitsbereichen ist seit Gründung der Bundeswehr 1955 ein fester Grundsatz. Ziel ist die Führung des Militärs aus zivilem Geist heraus. Der Dresdner Erlass ist ein wichtiger Baustein der Neuausrichtung der Bundeswehr zur Berufsarmee. Er will eine geeignete Führungsstruktur für leistungsfähige Streitkräfte schaffen, die »der Politik im Bedarfsfall ein breites Spektrum an Fähigkeiten und damit Handlungsoptionen bietet« (Thomas de Maizière). Der Generalinspekteur ist seitdem truppendienstlicher Vorgesetzter aller Soldat:innen. Gleichzeitig betont der Erlass das »Primat der Politik«, indem er die Dienststellung der Staatssekretär:innen hervorhebt. Darüber hinaus wird die Position ziviler Dienststellen und Behördenleiter:innen gestärkt. Veteranenabzeichen und Überlassungsschreiben von Hauptmann a.D. Ludwig Haug (1932–2022) Deutschland, 2020 Leihgeber: Ludwig Haug Das Abzeichen sowie das Schreiben stammen von einem ehemaligen Berufssoldaten. Haug ist zunächst beim Bundesgrenzschutz. Seit 1956 dient er bei der Bundeswehr im Dienstgrad eines Stabsunteroffiziers. Bis 1985 leistet er Dienst als Fachdienstoffizier. Das Abzeichen dient der Würdigung des Dienstes. Der erstmaligen Verleihung am 15. Juni 2019 geht eine lange Diskussion voraus, was Deutschland, auch im Vergleich mit den USA, unter Veteran:innen versteht. Am Ende wird der Begriff bewusst weit gefasst. Alle aktiven und ehemaligen Soldat:innen können es selbst beantragen. 1 2

Soldatische Selbstbilder

93 Kein Job wie jeder andere Der Soldatenberuf verlangt mit dem Dienst an der Waffe die Bereitschaft zum Kämpfen und Töten nach den Regeln des humanitären Völkerrechts unter Einsatz des eigenen Lebens. Viele Soldat:innen machen Gewalterfahrungen in Einsätzen, die sie verändern und ihr soziales Umfeld beeinflussen. Besonders schmerzlich ist der Verlust von Kamerad:innen. Wie sehen sich Soldat:innen selbst in einer Gesellschaft, die auf Gewaltverzicht setzt und sich schwertut mit Tod und Verwundung infolge bewaffneter Konflikte, die zugleich zur Erreichung politischer Ziele notwendig erscheinen? Soldatische Selbstbilder entsprechen nicht unbedingt dem, was Staat und Gesellschaft erwarten oder für typisch halten. Sie knüpfen häufig an die eigene Lebenswelt an. Dazu zählen Kampfeinsätze und Friedensmissionen ebenso wie der Routinedienst im Inland. Die Vielfalt der Selbstbilder spiegelt die Vielfalt der Truppe. Für Bindung und Ausrichtung jenseits der Inneren Führung sorgen die Zugehörigkeit zur Teilstreitkraft oder Truppengattung und gemeinsame Erfahrungen. Teil der Kampagne »Mach, was wirklich zählt« der Arbeitgebermarke Bundeswehr, 2015

94 Soldatische Selbstbilder Kein Job wie jeder andere 1  Banner »Treue umTreue« Leihgeber: Privatbesitz 2  Banner vor dem ausgebrannten und beim Karfreitagsgefecht zerstörten Einsatzfahrzeug Dingo Afghanistan, Quatliam, 4./5. November 2010 Im Rahmen der Operation Halmazag bergen ISAF-Truppen den im Karfreitagsgefecht zerstörten Dingo. Am 2. April 2010 waren drei deutsche Fallschirmjäger gefallen. Zuvor hatten sie, obwohl zumTeil verwundet, weitergekämpft, um ihrer Einheit das Ausweichen zu ermöglichen. Zur Würdigung dieser Kameradentreue und um die Gefallenen zu ehren, bringen deutsche Fallschirmjäger amWrack dieses Banner an. Die Zeltbahn kommt in die Fallschirmjägerkaserne in Seedorf. 2014 erfolgt das Verbot des Spruchs »Treue umTreue« im Heer mit Hinweis auf seine Verwendung durch die Fallschirmjäger der Wehrmacht. Er sei demnach nicht geeignet, »Traditionen der Bundeswehr zu pflegen und in diesem Zusammenhang Treuepflicht zu symbolisieren«. Das Verbot stößt auch auf Unverständnis und Kritik. 2 1

95 Auswahl Patches Afghanistan, 2015–2021 In den 2000er Jahren wird es üblich, die Abzeichen der Auslandseinsätze mittels Klettverschluss am Oberarm der Uniform zu befestigen. Bald gibt es neben den offiziellen auch eine Vielzahl von inoffiziellen Patches und sogar Ärmelbänder. Sie werden direkt vor Ort von lokalen Händlern hergestellt und sind Teil der soldatischen Selbstinszenierung. T-Shirt »Du sollst nicht stehlen!« Deutschland, ab 2009 Ein unbekannter Urheber entwirft das Motiv mit dem Text des Siebten Gebots kurz nach dem Luftangriff auf die Tanklaster. Das T-Shirt taucht im November 2009 in einem Laden im Camp Marmal in Masar-e Scharif auf. Verkauf und Besitz werden sogleich verboten. Bis heute existieren verschiedene Versionen des T-Shirts, das nach wie vor im Internethandel erhältlich ist. Armreifen von Hauptfeldwebel Naef Adebahr USA, 2010 Leihgeber: Naef Adebahr Naef Adebahr, damals Oberfeldwebel, erleidet am 2. April 2010 beim Karfreitagsgefecht in Afghanistan schwere Verwundungen. Drei seiner Kameraden fallen: Hauptfeldwebel Nils Bruns, Hauptgefreiter Martin Augustyniak und Stabsgefreiter Robert Hartert. Zum Gedenken an die Gefallenen lässt ein weiterer Soldat mehrere Armreifen dieser Art anfertigen. Für Adebahr ist sein Reifen »deutlich wichtiger als irgendeine Medaille.«

96 Soldatische Selbstbilder Kein Job wie jeder andere Objekte von Oberstabsfeldwebel Hermann Rosenberg 1  ID-Karte von Hermann Rosenberg aus seinemAuslandseinsatz in Afghanistan 2 Schießbuch »Perfect Evolution« 3  »Stern« Nr. 3 (13. Januar 2011), S. 56/57 mit handschriftlichem Eintrag 4 Gewehr G22, eingesetzt in Afghanistan 5  Basecap, eingesetzt in Afghanistan Calw, Seedorf, 1990er Jahre bis 2019 Seine Schießfertigkeiten prägen seinen Weg. Seinen Dienst in der Bundeswehr beginnt er als Panzergrenadier in Schleswig-Holstein. Er gehört zu den ersten Freiwilligen im KSK und ist später bei den Fallschirmjägern in Seedorf. Als Scharfschütze ist er unter anderem im Einsatz im Kosovo und in Afghanistan. Als Ausbilder gibt er sein Wissen an Soldat:innen der Bundeswehr und verbündeter Armeen sowie an spezialisierte Polizeieinheiten weiter. 3 2 1

97 Gefechtshelm Nordafghanistan, 2010 Ein Soldat, der im Frühjahr 2010 im Raum Kundus eine Reihe von Feuergefechten erlebt, macht den Überzug seines Gefechtshelms mit einem Filzstift zu einem persönlichen Erinnerungsstück. Auf die Stirnseite zeichnet er das inoffizielle Abzeichen seiner Einheit in Kundus. Auf der rechten Seite notiert er seine, wie er sagt, »Arbeitsergebnisse als Scharfschütze«. 4 5

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