Leseprobe

78 Damit haben Sie Phänomene beschrieben, die sich an idealtypischen Gegenständen festmachen lassen, sozusagen an einer Urform. Was passiert, wenn Sie mit Abläufen konfrontiert sind, Motiven, die sichtlich in Bewegung sind, wie zum Beispiel bei einer Reise nach Norwegen, als Sie von einem Schiff aus die an Ihnen vorbeiziehende Küste gezeichnet haben? Hier hat sich der Naturausschnitt vor Ihren Augen ja ständig verändert. Ich stand an Deck, das Schiff bewegte sich nur langsam mit wenigen Knoten. Die norwegische Küste von dort aus zu zeichnen, war ein Schock für mich. Ich machte die Erfahrung, dass die Linien plötzlich schwankten, der Blickwinkel verflüchtigte sich. Die Horizontlinie und die Perspektive veränderten sich permanent, und dabei entstanden weit verästelte, fließende Strukturen aus Wasser und Land. Die Bewegungen auf dem Blatt oder der Leinwand folgen dieser wechselnden Realität der Formen (Abb. 1). Was ist das Besondere am Zeichnen, was inspiriert Sie? Und wie oft und wie lange zeichnen Sie? Sich ans Zeichnen zu machen, ist wie innere Einkehr. Im Innersten kristallisieren sich die Wandlungsmöglichkeiten der Formen heraus, hier bilden sich Phantasie und das instinktive Erfassen. Zeichnen schafft einen Zugang zur Versenkung und eignet sich wunderbar dazu, dem Alltag zu entkommen. Es geht darum, den Blick für die Gegenwärtigkeit aller Dinge zu schärfen. Allerdings zeichne ich nicht so viel, wie ich eigentlich möchte, denn es verlangt mir extreme Konzentration ab. Zunächst einmal beobachte ich einfach nur sehr lange. Man muss in das Motiv hineingehen, es regelrecht bewohnen – und das braucht enorm viel Zeit. Eine Sitzung dauert etwa zwei bis drei Stunden. Dabei fertige ich mehrere Zeichnungen an. Was ist Ihr Anspruch an eine gelungene Zeichnung? Bewahren Sie alles auf oder treffen Sie eine Auswahl? Ich zerreiße oft mehr als die Hälfte, wenn ich finde, dass die Striche nicht lebendig genug sind, das heißt, wenn sie die Lebendigkeit der Form nicht so vermitteln, wie ich sie einfangen möchte. Die Zeichnung muss für mich das Leben ausdrücken, und wenn sich diese Vitalität nicht mitteilt, wenn die Zeichnung nicht aus sich heraus atmet, zerreiße ich sie lieber. Quelle est la particularité du dessin, qu’est-ce qui vous inspire ? Et à quelle fréquence et pendant combien de temps dessinez-vous ? La mise en route du dessin est comme une retraite solitaire. C’est dans les cavernes du cerveau que se conçoivent les mutations des formes et que s’opère une mise en mouvement de l’imaginaire et de l’instinct. Le dessin est une voie d’accès à la contemplation, un moyen d’évasion merveilleux. Il s’agit de travailler l’aptitude du regard à saisir la présence de toutes choses. Je ne dessine pas autant que je voudrais, car le dessin me demande en fait une extrême concentration. Il y a d’abord une très longue phase d’observation, il faut habiter le sujet, y entrer et cela prend un temps fou. À chaque séance, qui dure deux à trois heures, je réalise de nombreux dessins. 1 Fabienne Verdier, zeichnend an Deck eines Schiffes an der norwegischen Küste. Fabienne Verdier, Memories of Norway Nr. 26, 2011, Fettkreide auf getöntem Vélin d’Arches, 15 × 21 cm. Fabienne Verdier en train de dessiner sur un bateau le long de la côte norvégienne. Fabienne Verdier, Memories of Norway No 26, 2011, pastel gras sur vélin d’Arches teinté, 15 × 21 cm.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1