Leseprobe

— 145 — chische Einflüsse vermuten. Typisch für frühere Darstellungen von Löwen und Sphingen im Alten Ägypten ist hingegen eine flache, weniger differenzierte Gestaltung der einzelnen Prankenglieder. So erscheint die Pranke im Alten Reich oft kantig, die Krallen sind nicht immer ausgearbeitet. Auch in der Folgezeit wird sie nicht so detailliert wiedergegeben wie im vorliegenden Fall. Erst mit der 30. Dynastie, also ab etwa 380 v. Chr., erscheinen Pranken in ihrer künstlerischen Wiedergabe weich und gerundet. Löwe und Sphinx wurden seit frühdynastischer Zeit als Gottheiten verehrt beziehungsweise mit dem Gottkönig identifiziert. In der Folgezeit avancierten sie zu den beliebtesten Darstellungsformen des Pharaos, wobei der Löwe in dieser Hinsicht einen schleichenden Bedeutungsverlust erfuhr. Unter einem religionsphilosophischen Aspekt stehen beide in einer engen Beziehung zueinander, die sich beispielsweise in der Übertragung der magischen Abwehrkraft des Löwen auf die Sphinx äußert. Als am weitesten verbreiteter Sphinxtyp erscheint die synkretische Abbildung eines Gottkönigs mit menschlichem Gesicht und Löwenkörper. Signifiziert wurde der Pharao in seinem Status durch das Königskopftuch. Daneben gab es auch widder- und falkenköpfige Sphingen beziehungsweise solche, die Körper und Haupt des Löwen unter Einfügung des menschlichen Gesichts darstellten. Der unvermittelt gerade Rückabschluss der Pranke mit quaderförmiger Aussparung lässt ein Anstückungselement für einen überlebensgroßen Löwenkörper vermuten. Da sich die Gestaltung der Plinthe unterhalb der Pranke allerdings nur auf diese bezieht und es keinen anderen Sockelkontext gibt, der auf einen größeren figuralen Zusammenhang hindeuten würde, könnte es sich möglicherweise auch um ein Dekorationsdetail oder Bildhauermodell handeln. Mit Ausbreitung der hellenistischen Kunstauffassung in ptolemäischer Zeit bestand für die ägyptische Bildhauertradition zunehmend die Gefahr, ihre Formensprache und künstlerischen Gesetzmäßigkeiten zu verlieren. Bildhauermodelle sollten dieser Entwicklungstendenz entgegenwirken. Sie wahrten den altägyptischen Darstellungskanon und dienten den Bildhauern als Vorlage. Oftmals äußert sich in diesen Modellen allerdings bereits eine gewisse Unsicherheit in der kanonischen Wiedergabe. Das Wirken zeitgenössischer Stileinflüsse wird spürbar, wie es sich auch in der gesteigerten Detailliertheit der vorliegenden Löwentatze zeigt. Ulrich Jasper Seetzen vermerkte in seiner Erwerbungsliste zur Pranke: »Fuss von der Kolossalstatue eines Löwen oder vermuthlich eines Sphinxes; von weißem Marmor. Von Mitrehene.« Hiermit hielt er nicht nur ihre Provenienz als wesentliche Information fest, sondern äußerte sich bereits richtig zu den Deutungsmöglichkeiten dieses Marmorobjekts. UW Quellen und Literatur SSFG, Schlossarchiv, Nr. 94, Inventarium der Herzoglichen Kunst-Kammer auf Friedenstein, II. Teil, 1832, 1 (ergänzt); ebd., Inventarium der Herzoglichen Kunst-Kammer auf Friedenstein, II. Teil, 1843, Kap. VI.I, Nr. 24; ebd., Nr. 141, Katalog der Ägyptischen Alterthümer des Herzoglichen Museums zu Gotha, 1879–1890, Abt. I, fol. 6r, Nr. 28. Seetzen 1810a, Nr. 1800; Wallenstein 1995, S. 72, 74, Abb. 9; Wallenstein 1996, S. 102, Kat.-Nr. 34; zur Ikonografie von Löwe und Sphinx vgl. Schweitzer 1948; zu Kulturbegegnungen in ptolemäischer Zeit vgl. Weber 2010.

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