Leseprobe

206 daher wohl in Grenzen gehalten haben, zumal sich die Spannungen zwischen den lutherischen und reformierten Gemeinden zu dieser Zeit verstärkt hatten, nachdem der lutherische hanau-lichtenbergische Zweig der Familie 1642 die reformierte hanaumünzenbergische Linie abgelöst hatte. 1689 schwärmte dann Georg Ludwig Handwerck (1674–1717), ein Sohn des damaligen lutherischen Kammer- und Konsistorialrats, von der Neustadt. Anlässlich seines 15. Geburtstages hielt er am 11. Januar 1689 eine lateinische Rede an der Hohen Landesschule. Diese »Oratio« wurde von ihm ins Deutsche übersetzt und erschien 1691.5 Bemerkenswerterweise nennt er das Jahr 1600 als Baubeginn, also drei Jahre nach der Kapitulation vom 1. Juni 1597 und dem Baubeginn auf dem Neustadtgelände.6 Offenbar war für ihn die Grundsteinlegung der wallonischniederländischen Kirche am 9. April 1600 der entscheidende Akt. In seinem Geleitwort betonte der reformierte Theologe und damalige Rektor der Hohen Schule, Nikolaus Gürtler (1654–1711),7 das Verdienst des Hanauer Grafen als »sehr treuen Vattern des Vatterlandes«, »gottseelige / wohlvermögliche und sehr fleissige Leute / so umb der Religion willen auß Niederland vertrieben« aufgenommen zu haben, und dass diese die Stadt dann »angelegt / hernach auch nach und nach zu völligem Stand und Zierde gebracht« hätten.8 Selbstverständlich versäumte es auch sein Schüler Handwerck nicht, dieses Verdienst des Grafen mehrfach zu erwähnen. Er betonte besonders die Rolle der Grafenwitwe Katharina Belgia (1578–1648), die nach dessen Tod dieses Projekt »ganz männlich / und mit solchem Muthe fortgesetzt, daß diese Neue Stadt an Häusser und Gebäuen fast täglich zugenommen« habe.9 Er beließ es aber nicht bei diesem erwartbaren Fürstenlob, vielmehr führte er den Aufschwung der Neustadt auf strukturelle Standortvorteile zurück: etwa die Lage an der »Landstraße auf Nürnberg und Leipzig«, die »Wöchentliche / zwey Ordinari- und zwey Extra-Ordinari Zeitungen in Teutscher / Lateinischer / Frantzösisch- und Niederländischer Sprach«, die Mehrsprachigkeit vieler Einwohner sowie die »Nutzbarkeit […] von dem vorbey fliessenden Mayn-Strohm«.10 Diese Prosperität sah er gleichsam gespiegelt in dem 1670 geschlossenen Hauptrezess, der den Lutheranern und Reformierten in Alt-Hanau und der Neustadt die gleichen Rechte einräumte, sodass zwischen diesen »fast kein Unterscheid zu finden / und sich darbey über die gute Verständnuß / solcher beederley Religions-Verwandten / nicht genugsam zu verwundern ist«.11 Damit griff Handwerck gewissermaßen einen Akkord auf, den sein Vater Johann Volprecht (1630–1700) bereits vier Jahre zuvor in einer Sammlung von Trauergedichten anlässlich des Todes des lutherischen Grafen Friedrich Casimir (1623–1685) angeschlagen hatte. Jedermann habe ihn »gerühmt […] / Wie wundersam Er auch das differente Wesen / der Kirchen hat vereint / und in Verständnuß bracht« hätte.12 Was sich hier andeutet, kann als ein Ansatz zur Überwindung der religiös-konfessionellen Gegensätze gelten. Dies war nicht allein für den inneren Frieden in der Doppelstadt wichtig, sondern wurde auch als Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der sich als weltoffen begreifenden Stadt gesehen. Dass dies in der Realität nicht so friedlich-schiedlich ablief, fand seinen Niederschlag in den umfangreichen Akten zu entsprechenden Klagen der Untertanen bei der Landesherrschaft bzw. zwischen konfessionsverschiedenen Untertanen, die einige Regalmeter füllen.13 Diese Tendenz zur Verflachung der konfessionellen Gegensätze setzte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts fort. So konzentrierten sich der 1761–1775 als Jurist und Historiker an der Hohen Landesschule lehrende Johann Balthasar Hundeshagen (1734– 1800)14 sowie der Bibliothekar und Regierungsrat Otto August Wegener (1727– vor 1790)15 zwar ebenfalls stark auf den Grafen, jedoch stärker unter aufklärerischen Vorzeichen. Sein Handeln sahen sie als einen Akt der Staatsklugheit und Güte gegenüber Verfolgten, ohne auf die Konfessionsfrage überhaupt einzugehen.16 Die Gründung der Neustadt war für sie ein Unternehmen, das der Graf »richtig überdacht hatte [und] das seinem Namen in der Folge Unsterblichkeit und seiner Residenzstadt ausser der vielfältigen Nahrung einen neuen Glanz gegeben hat.«17 In dieser Perspektive wird auch die Ansiedlung der jüdischen Gemeinde im Jahre 1603 beschrieben. »Auch begünstigte Graf Philipp Ludwig […] die Juden dadurch, daß er dieser Nation verstattete […] ihre eigene Gasse unter dem Namen der Judengasse anzulegen […]. Auch dieses sonst gewöhnlich nicht sehr geachtete Volk hielt der Graf nicht unwürdig Antheil an seiner Gnade zu haben, die er jedem darbot, von dem er glaubte, daß er solche verdiene, oder derselben nicht unwürdig sey.«18 In der Bewertung seiner Person und seines Handelns wird der Graf gewissermaßen zum vorbildlichen aufgeklärten Absolutisten, denn in der Summe seiner Herrschaft ließ sich unschwer »auf diejenigen glücklichen Folgen schliessen, die daraus entstehen müssen, wenn der Regent ein Mann ist, der die Seinigen liebt, aber auch nach weisen und richtigen Grundsätzen handelt«.19

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