Leseprobe

27 Der vorliegende Beitrag möchte einen bislang vernachlässigten Aspekt der frühneuzeitlichen Migrationsforschung etwas genauer unter die Lupe nehmen – nämlich den Anteil der Frauen, die als Migrantinnen, oft im Familienverband, oft auch alleine ihr Heimatland verließen und sich in der neuen Umgebung zurechtfinden mussten, der sie auch ihren eigenen Stempel aufdrücken konnten. Das traditionelle Bild vom Migranten als jungem, alleinreisendem Mann ist in den Forschungen zur modernen und zur zeitgenössischen Migrationsgeschichte mittlerweile gründlich revidiert. Hier sind die Rolle und der hohe Anteil von Frauen in Migrationsgesellschaften in den letzten Jahren stärker herausgestellt worden.1 Für die sogenannte Konfessionsmigration, die eine Signatur frühneuzeitlicher Wanderungsbewegungen ist, steht eine Revision überkommener Vorstellungen größtenteils noch aus.2 Hier überwiegt nach wie vor das Bild von Familienwanderungen. Eine Reihe von Faktoren spielen hierfür eine Rolle. Da ist zum einen die Selbstbeschreibung der Migranten, die vielfach die Vorstellung von solidarischen Familienverbänden auf der Flucht präsentierten. Ein Beispiel für diese Selbstdarstellung findet sich etwa in Carolyn Lougee Chappel’s Studien zu Hugenottenfamilien und besonders in ihrer Arbeit zu den Briefen und Reflexionen von Marie de La Rochefoucauld († 1730) und ihrer Tochter Suzanne de Robillard (1670–1740) über ihre gefährliche Reise von Frankreich in die Niederlande im Jahr 1688. In den Texten der beiden Frauen werden negative Erfahrungen ausgeblendet und ein Bild von Familienzusammenhalt in der Diaspora gezeichnet, das in der Tat nicht der Flüchtlingsgeschichte der Familie entsprach.3 Die Bilder, die von den Migranten selbst aufgerufen wurden, orientierten sich zudem vielfach an biblischen Vorbildern, wie etwa der Flucht der Israeliten aus Ägypten oder der Heiligen Familie vor den Verfolgungen des Königs Herodes. Diese Vorstellungen wurden auch in der zeitgenössischen Druckgraphik, etwa von dem berühmten niederländischen Graphiker Jan Luyken (1649–1712) popularisiert, nicht zuletzt um Sympathien für die Exulanten und ihre Sache zu wecken.4 (ABB. 1) Zum anderen reflektiert dieser Fokus auf Familienverbände auch die Ordnungskategorien der Gastgesellschaften, die beispielsweise ihre statistischen Erhebungen zu Umfang und Aktivitäten der Immigranten an Familien festmachten. Diese Kategorisierung finden wir auch in der Hanauer Kapitulation von 1597, der Ansiedlungsübereinkunft für 58 Frankfurter Reformierte der französischsprachigen Kirche und ihre Familien, denen von Graf Philipp Ludwig II. (1576–1612) die Ansiedlung in der aufzubauenden Neustadt Hanau zugestanden wurde.5 Die Festlegungen von Sozialprofil und Umfang der Einwanderung anhand von Hausständen und Berufen beziehungsweise Qualifikationen wurden auch in vielen anderen Immigrationsverordnungen aufgezeichnet. Im Patent der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603) vom 5. November 1565 wurden beispielsweise 30 niederländische Exulantenfamilien, die das Textilhandwerk beherrschten, eingeladen, sich in der Stadt Norwich im Südosten Englands anzusiedeln.6 Der Fokus auf Familienverbände reflektiert auch die Selbstdarstellung der Immigrantengremien wie der Kirchenräte und Ältesten, die gegenüber den Gastgemeinden ein Bild geordneter Verhältnisse in ihrer Gruppe erzeugen wollten. Familienvätern fiel in einer solchen Darstellung eine dominante Rolle zu, und in vielen Erhebungen tauchen nur ihre Namen auf, während die ihrer Ehefrauen oder anderer Familienmitglieder anonym bleiben. Schließlich verengt auch der noch immer starke Fokus auf die Kirchenratsprotokolle der calvinistischen Exulanten als Quellen für Migrationsgeschichte die Sicht auf die führenden männlichen Figuren dieser Gruppen.7 Calvinistische Exulanten vor allem aus den Niederlanden spielten in der ersten Phase der Konfessionsmigration, also dem 16. und 17. Jahrhundert, eine wichtige Rolle. Sie ließen sich meistens in der Nachbarschaft ihres Heimatlandes nieder. Wie das Hanauer Beispiel zeigt, gelang es ihnen, auch in der neuen Heimat ihre Netzwerke sowohl mit Glaubensgenossen im Auswanderungsland als auch zu den anderen Fremdengemeinden aufrecht zu erhalten. Nicht selten war ihre erste Anlaufstelle in der Fremde nur ein Zwischenaufenthalt für weitere Migrationsbewegungen, die teilweise durch die sich verändernden Rahmenbedingungen im ersten Refugium, teilweise aus den attraktiveren wirtschaftlichen Möglichkeiten anderswo bestimmt wurden. Dass die Exulanten hierbei nicht (nur) die Rezipienten landesherrlicher Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik waren, sondern durchaus auch ihr eigenes ökonomisches Profil bei Verhandlungen um Neuansiedlungen und Umsiedlungen einbrachten, macht ebenfalls das Hanauer Beispiel deutlich.8 Die Geschichte calvinistischer Migranten, vor allem was die Refugiantengemeinden in den Exulantenstädten des Heiligen Römischen Reiches und Englands angeht, ist in vieler Hinsicht gut erforscht.9 Es bestehen allerdings noch erhebliche Lücken, die die vor allem konfessions-,

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