Leseprobe

DIE NEUSTADT HANAU EIN DREHKREUZ IM EUROPÄISCHEN KUNST- UND WISSENSTRANSFER

DIE NEUSTADT HANAU – EIN DREHKREUZ IM EUROPÄISCHEN KUNST- UND WISSENSTRANSFER

6 VORWORTE Claus Kaminsky, Oberbürgermeister der Brüder-Grimm-Stadt Hanau Jutta Nothacker, Geschäftsführerin der Stiftung Flughafen Frankfurt/Main für die Region Karin Wolff, Geschäftsführerin des Kulturfonds Frankfurt RheinMain 8 EINFÜHRUNG Victoria Asschenfeldt, Holger Th. Gräf und Markus Laufs 10 »UEBERHAUPT IST DIESE STADT ANMUTHIG«. DIE HANAUER NEUSTADT IN REISEBERICHTEN UND ERINNERUNGEN Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz 26 NIEDERLÄNDISCHE UND WALLONISCHE MIGRANTINNEN IN FRÜHNEUZEITLICHEN EXULANTENGEMEINDEN Raingard Esser 34 PRIVILEGIERTE EXULANTEN? RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DIE AUFNAHME VON ›KONFESSIONSMIGRANTEN‹ IN DEN DEUTSCHEN TERRITORIALSTAATEN DER FRÜHEN NEUZEIT Ulrich Niggemann 44 »GUTE UND VERTREULICHE CORRESPONDENTZ UND FREUNDSCHAFFT«? GESELLSCHAFTLICH-KULTURELLE STRUKTUREN DER FRÜHNEUZEITLICHEN NEUSTADT HANAU INFOLGE von Zuwanderung Markus Laufs 54 DER HANAUER RELIGIONSREZESS VON 1670: HANAU AUF DEM WEG ZUM MODERNEN MULTIKONFESSIONELLEN MITEINANDER? Alexander Jendorff DAS PHÄNOMEN DER EXULANTEN 70 DIE NEUSTADT HANAU IM KONTEXT DER EUROPÄISCHEN PLANSTADT DER FRÜHEN NEUZEIT Andrea Pühringer 82 ARCHITEKTUREINFLÜSSE IN DER HANAUER NEUSTADT (1600–1800) Angela Göbel 92 DIE WALLONISCHNIEDERLÄNDISCHE KIRCHE IN HANAU: ARCHITEKTUR ALS FREMDHEITSZUSCHREIBUNG Esther Meier DIE NEUSTADT HANAU IM VERGLEICH

204 DIE REZEPTION DER NEUSTADT HANAU UND IHRES GRÜNDERS Holger Th. Gräf 218 LITERATURVERZEICHNIS 230 BILDNACHWEIS 232 IMPRESSUM NETZWERKE I: KUNST UND KUNSTGEWERBE 104 BILDNISSE DER HANAUER GRAFEN IM KONTEXT DER ORANIEN-NASSAUISCHEN PORTRÄTMALEREI Justus Lange 114 KUNST FÜR DEN EXPORT. DIE STILLLEBENMALER IN NEUSTADT HANAU UM 1600 Andreas Tacke 126 KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER, »DIE AUCH IN DER FERNE IHRER VATERSTADT EHRE MACHEN«. DIE HANAUER ZEICHENAKADEMIE ZWISCHEN KUNSTPOLITISCHER AMBITION UND AKADEMISCHER VERNETZUNG Sophie-Luise Mävers 136 GOLD UND SILBER – DIE NEUSTADT HANAU ALS EIN FÜHRENDES ZENTRUM DER LUXUSWARENPRODUKTION Lorenz Seelig 170 DIE HOHE LANDESSCHULE HANAU ALS TOR ZUR WELT – DIE AKADEMIE-STUDENTEN UND IHRE HERKUNFT André Griemert 186 BUCHDRUCK UND BUCHHANDEL IN HANAU IM 16. UND FRÜHEN 17. JAHRHUNDERT Thomas Fuchs REZEPTION UND NACHHALL 148 MIGRATION, PRIVILEGIEN UND UNTERNEHMERGEIST: FABRIKANTEN UND KAUFLEUTE IN DER HANAUER NEUSTADT Mark Häberlein 158 HANAUISCH-INDIEN IM KONTEXT DER FRÜHMERKANTILISTISCHEN KOLONIALPOLITIK KLEINER FÜRSTENSTAATEN Andreas Weigl NETZWERKE II: HÄNDLER NETZWERKE III: GELEHRTE UND DRUCKER

8 »Die Neustadt Hanau – ein Drehkreuz im europäischen Kunst- und Wissenstransfer?« vom 11. bis zum 13. November 2021, deren Ergebnisse in diesem Band zusammengefasst sind, hat hingegen einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, verstärkt in dem durch den aggressiven Nationalismus bestimmten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde zunehmend versucht, Künstler und ihre Werke für eine jeweilige national begriffene Kultur zu vereinnahmen. Das heißt, Kunst- und Kulturräume wurden anhand von Grenzen geschieden, die es bis in das 18. Jahrhundert so überhaupt nicht gegeben hatte. Das Gleiche gilt für die Scheidung anhand der Konfessionsgrenzen des 16. und 17. Jahrhunderts. Überspitzt formuliert wurde – gerade in der deutschen Perspektive – die Gotik, mit Abstrichen noch die Renaissance und dann die deutsche Klassik dem katholisch-welschen Barock – sei er italienischer oder französischer Provenienz – gegenübergestellt. Die (kunst-)historische Kulturtransferforschung hat hier in den vergangenen dreißig Jahren zu einer neuen Sicht geführt. Zunächst gilt es festzustellen, dass in der Frühen Neuzeit – also den Jahrhunderten zwischen Reformation und Industrialisierung – die wichtigsten Träger der kulturellen Transfers in der Regel eben keine staatlichen Akteure waren, sondern unterschiedliche Netzwerke (Exulantenfamilien, humanistische Gelehrtenzirkel, Kaufleute, Künstler, Militärs, Musiker, Handwerker u. v. a.m.). Dabei wurde sehr deutlich, dass letztlich das Nichtnationale am Nationalen in einer jeden Kultur im Grunde genommen das gesamteuropäische kulturelle Profil kennzeichnet, also die interkulturellen Aspekte. Sie bestimmen den transkulturellen Charakter Europas, der jedoch aus nationalpolitischen Gründen phasenweise systematisch geleugnet wurde und gegenwärtig zunehmend wieder geleugnet wird. Gelegentlich wurde der Kulturtransfer zunächst monodirektional gerichtet aufgefasst: also beispielsweise der Einfluss der italienischen Renaissancekultur im nordalpinen Europa oder die Prägung des rechtsrheinischen Mitteleuropas durch die höfische Kultur des ludovizianischen Frankreichs nach dem Dreißigjährigen Krieg; auf Hanau heruntergebrochen wäre dies konkret der Einfluss der niederländischen Kunst und Kultur ab 1597. Bald ging man jedoch von einer bidirektionalen Ausrichtung kultureller Transfers aus. Das heißt, kulturelle Transfers waren keine Einbahnstraße, auf der eine bestimmte Kultur von einem Land in ein anderes rollte und sich das Empfängerland dem Entsenderland annäherte, sondern sich das Entsandte durch den Transferprozess eben EINFÜHRUNG VICTORIA ASSCHENFELDT, HOLGER TH. GRÄF UND MARKUS LAUFS Am 1. Juni 1597 schloss Graf Philipp Ludwig II. mit reformierten Flüchtlingen aus den Spanischen Niederlanden einen Vertrag, der ihre dauerhafte Niederlassung in der zu gründenden Neustadt Hanau regelte. Damit war die Voraussetzung für eine nachhaltige und wegweisende Entwicklung für die Geschichte Hanaus geschaffen, die bis in die Gegenwart spürbar geblieben ist. Bereits zum 400. Jubiläum im Jahre 1997 bot dies Anlass für eine aufwendige Ausstellung und einen entsprechenden Katalog.1 Dieses verdienstvolle und für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema unverzichtbare Werk spannt den zeitlichen Bogen von der Gründung der Neustadt bis in die unmittelbare Gegenwart. Fokussiert wurde dabei vor allem der künstlerische, kulturelle und nicht zuletzt wirtschaftliche Nutzen, den der Ort durch den Zuzug der teilweise hochqualifizierten und international vernetzten Kunsthandwerker, Künstler, Gewerbetreibenden und Kaufleute hatte. Die gemeinsam vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde und dem Historischen Museum Hanau Schloss Philippsruhe ausgerichtete Tagung

9 auch veränderte. Schließlich ist man heute so weit, Kulturtransfer als einen pluridirektionalen, also vielgerichteten, Prozess zu begreifen. Genau hier setzen die Beiträge dieses Bandes an, indem sie Hanau nicht als Profiteur eines mono- oder bidirektionalen Kulturtranfers, sondern als ein Drehkreuz in vielfältigen europäischen Kunst- und Wissenstransfers auf unterschiedlichen Ebenen untersuchen. Bezüglich des betrachteten Raums ist festzuhalten, dass zwischen dem 16. und frühen 19. Jahrhundert unterschiedliche Zentren kultureller und künstlerischer Innovation erhebliche Konjunkturen erlebten und sich durchaus in einem Konkurrenzverhältnis zueinander befanden, das sich aber eben nicht durch Abschottung auszeichnete, sondern durch einen Austausch und offenen Wettbewerb. Das Rhein-Main-Gebiet war dabei durch seine geographische Lage und seine seit demMittelalter gepflegten Handelsbeziehungen und Verkehrswege gleichsam das Zentrum von zwei kulturellen Bezugssystemen: Zum einen, im kleineren, auf das Alte Reich bezogenen Rahmen, zwischen dem Niederrhein mit Köln und Aachen im Nordwesten, Nürnberg im Südosten, sowie Straßburg und Augsburg im Süden; zum anderen ist das Rhein-Main-Gebiet als Schnittfläche des Kunst- und Wissenstransfers in einem weiteren europäischen Rahmen zu sehen, nämlich zwischen den Niederlanden im Nordwesten, Italien im Süden sowie dem Kaiserhof in Prag beziehungsweise Wien im Osten. Die prägnanten, pointierten Beiträge geben einen Einblick in die Vielfalt von Bereichen, in denen es zu fruchtbarem kulturellen Austausch in der Planstadt Hanau kam – von der Kunst und Architektur über die Ausübung des Gold-, Silberschmiede- und Druckgewerbes bis hin zur Lehreinrichtung der Hohen Landesschule. Die Abbildungen unterstreichen die Erkenntnisse der Beiträge und geben zugleich einen Eindruck der frühneuzeitlichen in und um Hanau entstandenen Kunst- und Druckerzeugnisse wieder. So zeigt dieser Band neueste Forschungstendenzen zum Kulturtransfer anhand der Neustadt Hanau auf und präsentiert zugleich anschaulich die künstlerischen Folgen ihrer Gründung. Der Publikation dieses Bandes folgt im Frühjahr 2023 eine neue Dauerausstellung des Historischen Museums Hanau Schloss Philippsruhe, die sich mit der Gründung und Entwicklung der Neustadt Hanau beschäftigen wird. Die Beiträge dieses Bandes haben erheblich zur inhaltlichen Erarbeitung dieser Ausstellung beigetragen. Sie wird sich mit den Kernthemen der Stadtplanung und ihrer Aushandlung befassen und Migration, Innovation und Kulturtransfer anhand von Hanauer Erzeugnissen vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts beleuchten. Die Ausstellung wird Zusammenleben und Austausch im beschränkten Raum der Planstadt mit einer Bevölkerung zeigen, die sich aus verschiedenen Sprach-, Glaubens- und Berufsgemeinschaften zusammensetzte. Ebenso wird ein Fokus auf die Interaktion mit den Netzwerken und Verflechtungen außerhalb der Neustadt gelegt werden, von der direkten Nachbarschaft bis hin zu den Netzwerken der Exulantinnen und Exulanten in ganz Europa. Durch eine Interaktionsspur auf analoger und digitaler Ebene werden die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung Verknüpfungen zu aktuellen Themen und Fragen herstellen und die Bedeutung der Gründung und Entwicklung der Neustadt für die Gegenwart diskutieren können. Ganz im Lichte des 425-jährigen Jubiläums der Neustadtgründung werden die Publikation des Bandes und die Ausstellungseröffnung von vielen weiteren attraktiven Veranstaltungen und Aktionen zur reichen Geschichte Hanaus sowie seiner Bewohnerinnen und Bewohner begleitet sein. Ein Dank gilt dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain und der Stiftung Flughafen Frankfurt/Main für die Region sowie dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde für die Förderung von Tagung, Band und Ausstellung sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, in deren Förderung zur Modernisierung von Schloss Philippsruhe die genannten Projekte eingebettet sind. Ein Dank gilt ebenso Herrn Martin Hoppe und Herrn Christian Krüger für die aufmerksame und eingehende Korrekturlektüre der Beiträge, Herrn Stephan Loquai und Herrn Jan Nils van der Pütten vom Stadtarchiv Hanau für biographische Recherchen sowie Frau Nele Bielenberg, Frau Una Giesecke und dem Sandstein Verlag für die gelungene graphische Gestaltung, Satz, Endkorrektorat und Druckbetreuung des Bandes. | 1 | Auswirkungen einer Stadtgründung, hg. vom Magistrat der Stadt Hanau, der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde und dem Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V., Hanau 1997.

»UEBERHAUPT IST DIESE STADT ANMUTHIG«. DIE HANAUER NEUSTADT IN REISEBERICHTEN UND ERINNERUNGEN HEINER BOEHNCKE MAINTAL HANS SARKOWICZ GELNHAUSEN

11 Die beiden berühmtesten Hanauer, Jacob (1785– 1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), sind wie ihre drei Brüder Carl Friedrich (1787–1852), Ferdinand (1788–1845) und Ludwig Emil (1790–1863) in der Neustadt geboren (ABB. 1). 1791 ging die Familie nach Steinau, wo Schwester Lotte (1793–1833) geboren wurde. Die fünf Brüder kamen nur noch als Gäste nach Hanau. Aber ihre Geburtsstadt blieb ihnen Sehnsuchts- und Erinnerungsort. Die Familie wohnte zunächst am Paradeplatz 1. 1787/88 zog sie in das Haus Zur Grünen Linde in der damaligen Langen Gasse, heute Langstraße 41. Daran erinnerte sich Jacob Grimm im März 1814 in einem Text, den er mit 29 Jahren als hessischer Legationssekretär im Hauptquartier der Alliierten gegen Napoleon schrieb. Jacob Grimm sah sich in einer beklemmenden Situation und fühlte sich einsam in der Trennung von Wilhelm und seiner Familie. Das Manuskript wurde in den sogenannten GrimmSchränken der Preußischen Staatsbibliothek aufbewahrt und erstmals 1923 publiziert. Seither ist es nur selten nachgedruckt worden. Jacob Grimm versucht, sich an möglichst viele Details aus seiner frühen Kindheit zu erinnern, auch an die Einrichtung seines Elternhauses: »Ich weiß mir das Haus, wo die Eltern in der langen Gasse zu Hanau lebten, noch ziemlich vorzustellen. Es war hellroth angestrichen, neben links (wenn man inwendig aus dem Fenster guckte) lag ein anderes von dunkeler Steinfarbe, das zu dem auf der Gegenseite des Viertels liegenden Neustädter Rathhaus gehörte. […] In unserm Haus wohnten wir (zur Miethe) ganz allein, unten war ein Besuchzimmer, gewöhnlich leer, mit Jägern auf der Tapete. In dieser Stube an den gefrornen Fenstern wurden einmal Münzen ins Eis abgedruckt. Die Haus und Hofthüre war gelbbraun angestrichen. Der Hof war eng, es wurde darauf Holz gesägt und rechts war die Waschküche, wo einem die Wäscherin einen Tropfen Branntwein auf schwarzes Brot zu eßen gab, auch waren Hühner auf dem Hof, weil ich mich erinnere einmal mit dem Vater hinuntergegangen seyn, der einem am Pips kranken Huhn das Maul aufsperrte und die Haut vornen von der Zunge abschnitt. Wenn ABB.1 Geburtshaus Ludwig Emil Grimms und Wohnhaus der Familie Grimm bis 1791, Lange Gasse 41, Fotografie, 1921, Medienzentrum Hanau/Bildarchiv, ohne Inv.-Nr.

12 Das zweite Gedicht stammt aus dem »Liber unus Miscellaneorum« von 1632. Autor ist der Arzt, Poet und Theologe Johannes Narsius (1580–1637). Es preist die Hanauer Regenten und feiert die Neustadt mit der Wallonisch-Niederländischen Doppelkirche. Hier ein Auszug: »(Es ist) eine mit breiten und geraden Straßen und mit Häusern prunkende Stadt, in der die Gesetze und die religiösen Gebräuche der Christen blühen, wo die Frömmigkeit zwei heilige Gebäude gründete, welche (nur) eine einzige Wand trennt, (ein Werk) von ganz neuer Bauart. Wie die Bewohner sich nicht in der Religion, sondern nur in der Sprache unterscheiden, weil ein Teil eben Französisch, der andere Holländisch spricht, so steht ein einziges Gebäude unter einem einzigen Dach; darinnen aber kann man zwei getrennte Tempel sehen.«3 »Ihr, meine Brüder, richtet eure Blicke hierhin und betrachtet genau den Glanz des neuen Hanau! Glaubt mir: hier, wo ihr schon die aus so mächtigen Mauern errichteten prächtigen Gebäude sehen könntet, waren kürzlich noch Felder und Wiesen. Welche (andere) große Stadt fordert (Hanau) jetzt nicht heraus Durch die Schönheit seiner hervorragenden Lage und durch die Pracht seiner Häuser?«2 man die Treppe hinaufkam ging es links neben der Bodentreppe vorbei in die Wohnstube, wo die Mutter war. […] In der Wohnstube war glaub ich eine grünliche Tapete, einen Tisch mit schwarzem rothfleckigem Wachstuch besinne ich mir genau, woran gegeßen und des Abends geseßen wurde. Der Ofen war von der Stubenthüre (vornen) links in der Ecke. Am Ofen wurde ich angezogen von der Mutter und gewaschen, oft mit warmem Waßer und Wein, welches süßlich roch, das ärgerlichste war, wenn es an die Ohren kam, weil es immer weh that. […] Bei dem Nägelbeschneiden hatte ich immer eine Art Grauen, und litt es nicht gern. Das Kämmen und Lausen litt ich schon lieber, ich legte mich mit dem Gesicht an den Leib der Mutter und es that immer wohl, wenn eine Laus knickte, der Langenweile wegen sagte die Mutter, das wäre eine gemeine, nun müßte auch der Fähnrich gesucht werden, worauf man geduldig wurde, auch wurden die jedesmal Getödteten gezählt, um zu wißen, ob man sich beßere oder schlimmere.«1 FRÜHE LOBGEDICHTE AUF DIE NEUSTADT Jacob Grimm schilderte eine Idylle mit Kopfläusen. Wie in seinem Elternhaus dürfte es zu seiner Zeit in vielen Wohnungen der Hanauer Neustadt ausgesehen haben. Die 1597 gegründete Neustadt hatte schon früh Bewunderer angezogen, die ihre Begeisterung auch lyrisch ausdrückten. Eckhard Meise hat 1990 im »Neuen Magazin für Hanauische Geschichte« »Zwei lateinische Gedichte zum Preis Neuhanaus aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts« wieder abgedruckt und übersetzt. Das erste stammt von dem 1560 in Kitzingen geborenen Theologen Salomon Codomann († 1637) oder Codomannus. Es erschien 1616 in dem in Gießen gedruckten Werk »Iter Giessenum« (Reise nach Gießen).

13 ABB.2 Ars Dulcis vitae nutricula, Daniel Meisner, 1625, Historisches Museum Hanau Schloss Philippsruhe, Inv.-Nr.: HMH B 1989/94 HGV. GRIMMELSHAUSENS »SIMPLICISSIMUS«, MERIANS »TOPOGRAPHIA« UND DAS »POLITISCHE SCHATZKÄSTLEIN« Während des Dreißigjährigen Krieges, in dem das zweite lateinische Lobgedicht entstand, hielt sich für kurze Zeit auch der junge Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1620–1676) in Hanau auf. In seinem Hauptroman »Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch« ist Hanau der Ort, wo der Waisenknabe Simplicius seinen Namen Simplicissimus erhält und erfährt, dass der Stadtkommandeur Jacob oder James Ramsay (1589–1639) sein Onkel ist. Grimmelshausen wurde wahrscheinlich 1622 in Gelnhausen geboren. Lange Zeit las man seinen Roman als erweiterte Autobiographie des Autors. Das geht nicht auf! Dennoch gibt es nicht wenige, gut dokumentierte Parallelen zwischen dem Autor und seiner Romanfigur. Nach Hanau fliehen aus dem verwüsteten Gelnhausen der junge Simplicissimus wie der wohl zwölfjährige Hans Jacob im September 1634. Da war die Neustadt noch nicht einmal 40 Jahre alt. Zwar ist Grimmelshausens Roman keine Reise-, sondern eine Fluchtbeschreibung; mit großem Gewinn aber lässt sich das Hanau-Kapitel des »Simplicissimus« sowohl topographisch als auch historisch lesen. Die Neustadt wird allerdings nicht ausdrücklich erwähnt. Sie zog bereits seit ihrer Gründung zahlreiche Besucher an. Als der Frankfurter Verlag von Matthäus Merian (1593–1650) zwischen 1642 und 1688 seine 30-bändige »Topographia« veröffentlichte, nahm Hanau einen hervorragenden Platz ein. Denn der Text über Hanau im zuerst 1646 erschienenen Hessen-Band wurde mit zwei doppelblattgroßen Stichen

NIEDERLÄNDISCHE UND WALLONISCHE MIGRANTINNEN IN FRÜHNEUZEITLICHEN EXULANTENGEMEINDEN RAINGARD ESSER GRONINGEN

27 Der vorliegende Beitrag möchte einen bislang vernachlässigten Aspekt der frühneuzeitlichen Migrationsforschung etwas genauer unter die Lupe nehmen – nämlich den Anteil der Frauen, die als Migrantinnen, oft im Familienverband, oft auch alleine ihr Heimatland verließen und sich in der neuen Umgebung zurechtfinden mussten, der sie auch ihren eigenen Stempel aufdrücken konnten. Das traditionelle Bild vom Migranten als jungem, alleinreisendem Mann ist in den Forschungen zur modernen und zur zeitgenössischen Migrationsgeschichte mittlerweile gründlich revidiert. Hier sind die Rolle und der hohe Anteil von Frauen in Migrationsgesellschaften in den letzten Jahren stärker herausgestellt worden.1 Für die sogenannte Konfessionsmigration, die eine Signatur frühneuzeitlicher Wanderungsbewegungen ist, steht eine Revision überkommener Vorstellungen größtenteils noch aus.2 Hier überwiegt nach wie vor das Bild von Familienwanderungen. Eine Reihe von Faktoren spielen hierfür eine Rolle. Da ist zum einen die Selbstbeschreibung der Migranten, die vielfach die Vorstellung von solidarischen Familienverbänden auf der Flucht präsentierten. Ein Beispiel für diese Selbstdarstellung findet sich etwa in Carolyn Lougee Chappel’s Studien zu Hugenottenfamilien und besonders in ihrer Arbeit zu den Briefen und Reflexionen von Marie de La Rochefoucauld († 1730) und ihrer Tochter Suzanne de Robillard (1670–1740) über ihre gefährliche Reise von Frankreich in die Niederlande im Jahr 1688. In den Texten der beiden Frauen werden negative Erfahrungen ausgeblendet und ein Bild von Familienzusammenhalt in der Diaspora gezeichnet, das in der Tat nicht der Flüchtlingsgeschichte der Familie entsprach.3 Die Bilder, die von den Migranten selbst aufgerufen wurden, orientierten sich zudem vielfach an biblischen Vorbildern, wie etwa der Flucht der Israeliten aus Ägypten oder der Heiligen Familie vor den Verfolgungen des Königs Herodes. Diese Vorstellungen wurden auch in der zeitgenössischen Druckgraphik, etwa von dem berühmten niederländischen Graphiker Jan Luyken (1649–1712) popularisiert, nicht zuletzt um Sympathien für die Exulanten und ihre Sache zu wecken.4 (ABB. 1) Zum anderen reflektiert dieser Fokus auf Familienverbände auch die Ordnungskategorien der Gastgesellschaften, die beispielsweise ihre statistischen Erhebungen zu Umfang und Aktivitäten der Immigranten an Familien festmachten. Diese Kategorisierung finden wir auch in der Hanauer Kapitulation von 1597, der Ansiedlungsübereinkunft für 58 Frankfurter Reformierte der französischsprachigen Kirche und ihre Familien, denen von Graf Philipp Ludwig II. (1576–1612) die Ansiedlung in der aufzubauenden Neustadt Hanau zugestanden wurde.5 Die Festlegungen von Sozialprofil und Umfang der Einwanderung anhand von Hausständen und Berufen beziehungsweise Qualifikationen wurden auch in vielen anderen Immigrationsverordnungen aufgezeichnet. Im Patent der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603) vom 5. November 1565 wurden beispielsweise 30 niederländische Exulantenfamilien, die das Textilhandwerk beherrschten, eingeladen, sich in der Stadt Norwich im Südosten Englands anzusiedeln.6 Der Fokus auf Familienverbände reflektiert auch die Selbstdarstellung der Immigrantengremien wie der Kirchenräte und Ältesten, die gegenüber den Gastgemeinden ein Bild geordneter Verhältnisse in ihrer Gruppe erzeugen wollten. Familienvätern fiel in einer solchen Darstellung eine dominante Rolle zu, und in vielen Erhebungen tauchen nur ihre Namen auf, während die ihrer Ehefrauen oder anderer Familienmitglieder anonym bleiben. Schließlich verengt auch der noch immer starke Fokus auf die Kirchenratsprotokolle der calvinistischen Exulanten als Quellen für Migrationsgeschichte die Sicht auf die führenden männlichen Figuren dieser Gruppen.7 Calvinistische Exulanten vor allem aus den Niederlanden spielten in der ersten Phase der Konfessionsmigration, also dem 16. und 17. Jahrhundert, eine wichtige Rolle. Sie ließen sich meistens in der Nachbarschaft ihres Heimatlandes nieder. Wie das Hanauer Beispiel zeigt, gelang es ihnen, auch in der neuen Heimat ihre Netzwerke sowohl mit Glaubensgenossen im Auswanderungsland als auch zu den anderen Fremdengemeinden aufrecht zu erhalten. Nicht selten war ihre erste Anlaufstelle in der Fremde nur ein Zwischenaufenthalt für weitere Migrationsbewegungen, die teilweise durch die sich verändernden Rahmenbedingungen im ersten Refugium, teilweise aus den attraktiveren wirtschaftlichen Möglichkeiten anderswo bestimmt wurden. Dass die Exulanten hierbei nicht (nur) die Rezipienten landesherrlicher Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik waren, sondern durchaus auch ihr eigenes ökonomisches Profil bei Verhandlungen um Neuansiedlungen und Umsiedlungen einbrachten, macht ebenfalls das Hanauer Beispiel deutlich.8 Die Geschichte calvinistischer Migranten, vor allem was die Refugiantengemeinden in den Exulantenstädten des Heiligen Römischen Reiches und Englands angeht, ist in vieler Hinsicht gut erforscht.9 Es bestehen allerdings noch erhebliche Lücken, die die vor allem konfessions-,

28 wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Studien der jüngsten Jahrzehnte nicht geschlossen haben. Es sei an dieser Stelle zudem darauf hingewiesen, dass auch Katholiken in der Frühen Neuzeit in großer Anzahl ihr Heimatland verließen. Zu nennen sind hier beispielsweise die katholischen Exulanten aus England und aus den (nördlichen) Niederlanden, die in den letzten Jahren besonders im Fokus der frühneuzeitlichen Migrationsforschung standen.10 Angesichts der relativen Unsichtbarkeit weiblicher Migranten sowohl in den offiziellen Quellen der Migrantengesellschaften selbst als auch in der Dokumentation der jeweiligen Gastgesellschaft, erscheint es schwierig, ein Bild weiblicher Migrationserfahrungen zeichnen zu können. Die folgenden Ausführungen sollen die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Spurensuche nach Frauen in den Exulantengemeinden näher beleuchten. Fokussiert wird dabei auf zwei Aspekte. Erstens: Frauen als Haushaltsvorstände. Neben der Sichtbarmachung dieser Gruppe sollen zweitens auch ihre wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten innerhalb des doppelten institutionellen Rahmens von Exulantengemeinde und Gastgesellschaft beispielhaft ausgeleuchtet werden. Hierfür herangezogen werden für die Fragestellung noch wenig systematisch untersuchte AllABB.1 Protestanten fliehen aus Frankreich nach der Widerrufung des Edikts von Nantes, Jan Luyken, Radierung, 1696, Rijksmuseum Amsterdam, Inv.-Nr.: RPP-1896-A-19368-1049.

29 tagsquellen außerhalb der Rechts- und Verwaltungsdokumente der Exulantengemeinden und der Gastgesellschaft. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf vergleichendem Material von Migrantengemeinden in den englischen Exulantenstädten Norwich und Sandwich, die in dieser Hinsicht besser erforscht sind.11 Beispiele weiblicher Präsenz und deren Einfluss in der Hanauer Fremdengemeinde ergänzen diese Studien. Hier wären vertiefende Untersuchungen wünschenswert. Zwei Statistiken zu Frauen als Haushaltsvorständen in niederländischen und wallonischen Exulantengemeinden in Norwich und Sandwich können einen ersten Einblick in den Anteil der Frauen in den Immigrantengemeinden bieten. Die Angaben geben allerdings nur einen zeitlichen Schnappschuss wieder. Für Norwich ist das Erhebungsjahr 1568 (drei Jahre nach der Ausstellung des Ansiedlungspatentes für die Stadt), für Sandwich 1574 (13 Jahre nach der ersten Einwanderung von niederländischen Exulanten). In beiden Jahren fragte die städtische Obrigkeit nach der Anzahl der Haushalte und deren Haushaltsvorständen. Von den 339 in der wallonischen Gemeinde in Norwich registrierten Personen waren 89 Frauen und 90 Männer. Der Rest waren Kinder unter 16 Jahren. Von den 1.132 Personen in der niederländischen Gemeinde der Stadt waren 399 Frauen. Fast ein Drittel von ihnen, 98, waren Witwen oder alleinstehende Frauen. In Sandwich waren im Erhebungsjahr unter den Wallonen 99 männliche und 16 weibliche Haushaltsvorstände verzeichnet. Von den 195 niederländischen Haushalten wurden 56 von Frauen geleitet. Um die Zahlen in Relation zu setzen, kann man vergleichende Untersuchungen zu alleinstehenden Frauen und Witwen in England heranziehen. Hierbei zeigt sich, dass es im untersuchten Zeitraum etwas weniger Witwen in den Exulantenfamilien gab als im nationalen Durchschnitt, dafür aber deutlich mehr alleinstehende Frauen (was vermutlich auch damit zu tun hat, dass diese Frauen eben doch nicht auf bestehende Familiennetzwerke zurückgreifen konnten, die sie in der alten Heimat zurückgelassen hatten). Hier sei allerdings vermerkt, dass die englischen Statistiken landesweit kollationiert wurden und dass die Zahlen für alleinstehende Frauen und Witwen in Städten höher lag als auf dem Land.12 Dennoch bietet sich ein relativ aussagekräftiges Bild, das die Annahme der Konfessionsmigration als eine Familienangelegenheit deutlich infrage stellt. Es bleibt zu fragen, ob die hier solchermaßen Aufgeführten bereits als Witwen ins Land kamen oder ob sie im Laufe ihres Aufenthalts ihre Ehemänner verloren. Für die alleinstehenden Frauen, die oft mit anderen Frauen, etwa ihren Schwestern, einen Haushalt bildeten, gilt das jedenfalls nicht. Es ist hier nicht der Raum für weitere demographische Analysen, die diese Momentaufnahmen komplementieren, aber dennoch kann diese Beobachtung als Anstoß für ein Überdenken traditioneller Migrationsvorstellungen dienen. Ein Blick in die Hanauer Quellen unterstützt das Bild eines relativ hohen Frauenanteils. Auch hier kann ein demographischer Schnappschuss aus dem kirchlichen Milieu erste Aufschlüsse geben: So nahmen an der Abendmahlfeier in der wallonischen Kirche am 5. Februar 1609 257 Männer und 319 Frauen teil. Bei der zweiten Abendmahlfeier, die am 12. Februar 1609 nach der ersten Predigt des aus Frankfurt nach Hanau gezogenen Predigers Clément Dubois († 1640) stattfand, nahmen 210 Männer und 250 Frauen teil.13 Es ist von Migrationshistorikern darauf hingewiesen worden, dass die kirchlichen Netzwerke für Migrantinnen wichtiger waren als für männliche Migranten.14 Nicht zuletzt hing ihr guter Ruf und ihre Reputation von dem tadellosen Verhalten ab, das ihnen durch die Zulassung zum Abendmahl gleichsam bescheinigt wurde. Dennoch sind die Zahlen meines Erachtens aussagekräftig für die deutliche Präsenz, vielleicht sogar Überzahl von Frauen innerhalb der Gemeinde. Witwen spielten ABB.2 Unbekannte Bürgerin der Neustadt Hanau, unbekannt, Öl auf Leinwand, 1635, Eigentum der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde – selbstständige ev.-­ reformierte Kirche zu Hanau/© Norbert Miguletz, ohne Inv.-Nr.

30 auch im hanauischen Kontext eine wichtige Rolle. Nach dem Tod ihres Mannes konnten sie in vielen Fällen dessen Geschäfte übernehmen. Ein solches Verfahren finden wir beispielsweise festgeschrieben in den Regeln der Graffgrün Compagnia, die die Herstellung und den Vertrieb von Grosgrain, einer bestimmten, oft mit Seidenzeug in Verbindung stehenden Textilware, regelte. In dem Dokument, das dem Rat der Hanauer Neustadt am 22. Dezember 1612 von führenden niederländischen und wallonischen Vertretern des von den Exulanten betriebenen Gewerbes zur Begutachtung und Diskussion vorgelegt wurde, wurde in Artikel 8 den Witwen und Kindern verstorbener Gesellschaftsmitglieder freigestellt, der Gesellschaft beizutreten. Die Geschäftsbedingungen wurden ausführlich diskutiert, wobei dieser Artikel jedoch nicht zur Debatte stand und also keine Kontroversen hervorrief. Am 20. Februar 1613 wurde das Dokument schließlich dem hanauischen Hof zur Besiegelung vorgelegt.15 Aus der von Heinrich Bott zusammengestellten Liste der höchstbesteuerten Exulanten für die Jahre 1601 bis 1620 lässt sich zudem ablesen, dass in 14 von insgesamt 72 Fällen die Witwen der Genannten oft noch Jahre nach dem Tod ihres Gatten die jeweiligen Unternehmen unter Bezahlung desselben Spitzensteuersatzes weiterführten.16 Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings eine Anmerkung der Prediger der beiden Fremdengemeinden Frédéric Billet († 1621) und Isaak Boots († 1634) auf die Frage des gräflichen Rates Dr. Wilhelm Sturio († 1620), wie nach der Pestwelle von 1606/07 die Wiederverheiratung von Witwen innerhalb der Gemeinden geregelt werden sollte. Scheinbar hatte die Stadt selbst hierfür keine Richtlinien aufgesetzt. In ihrem Schreiben verwiesen beide auf die Notwendigkeit schneller erneuter Eheschließungen von verwitweten Migrantenfrauen, da Gewerbe und Handel Schaden erleiden würden, wenn sie allzu lange in den Händen von Frauen blieben.17 Die Witwen auf der Spitzensteuerliste hatten es allerdings offensichtlich nicht eilig, bereits nach der mit der Stadt vereinbarten Wartezeit von fünf Monaten und zwei Wochen wieder zu heiraten.18 Die Witwe des Seidenhändlers und Färbers Anselm Binoit, Jeanne van Wingen, stand beispielsweise von 1616 bis zum Ende des Berechnungszeitraums 1620 in der Liste eingeschrieben. Dasselbe gilt für die Witwe des Seidenwebers Charles alias Karl van der Hoyken, die seit 1613 die Geschäfte ihres Mannes in Hanau führte.19 Auffallend in diesen Fällen ist allerdings auch die hohe Mobilität dieser Familien. Anselm Binoit († 1615) war ursprünglich aus Tournai zunächst nach Köln und anschließend nach Frankfurt migriert, bevor er nach nur einem Jahr in Hanau im Mai 1615 starb. Sein Sohn gleichen Namens starb 1651 in Frankfurt. Es ist anzunehmen, dass Anselm Junior eine Zweigstelle des familiären Seidengeschäftes in Frankfurt aufmachte und somit das Unternehmen ausweitete. Wir wissen wenig über alleinstehende Frauen und ihre Gewerbe in Hanau. Die summarische Liste aller Berufsgruppen in der Stadt, die Heinrich Bott aus verschiedenen Quellen zusammengestellt hat, verzeichnet Tätigkeiten im Textilgewerbe, die etwa im Herkunftsland der Exulanten in den Niederlanden zum niedrig bezahlten Sektor der Frauenarbeit passen würden, wie etwa Wollkämmerinnen und Spinnerinnen.20 Dass es alleinstehende Frauen auch zu Reichtum bringen konnten, macht das Norwicher Testament und Inventar von Jacomyne Begote († 1603) aus dem Jahr 1603 deutlich, die als »Single woman and alyan born« bezeichnet wird. Das sechs Seiten umfassende Inventar ihres Haushalts listete nicht nur zwei Seidenwebstühle und eine große Anzahl Handwerksgegenstände aus der Feintextilindustrie auf, sondern auch Wolle, Garne und hochwertige Stoffe im Wert von mehr als 20 Pfund. Sie hinterließ unter anderem mehrere nicht genau beschriebene Bücher und Landkarten sowie Landbesitz in Flandern und sie stiftete 20 Schilling für die Armen der niederländischen Gemeinde in Norwich. Was Jacomyne als unabhängiger Unternehmerin in einer Zeit ansteigender Regulierungen des Arbeitsmarktes für Frauen sicherlich half, waren ihre guten Verbindungen zu wohlhabenden und einflussreichen niederländischen Unternehmerfamilien in der Stadt, wie etwa den Bonnells, die in ihrem Testament genannt werden. Das Wirtschaften im Familienverband, in dem Frauen als Töchter und Schwiegertöchter, Gattinnen und Witwen eine wichtige Rolle etwa in der Diversifizierung des ökonomischen Portfolios oder durch Erweiterung von bestehenden wirtschaftlichen Netzwerken spielten, gehört sicherlich zu einer wichtigen Strategie vor allem der wohlhabenderen Exulantenfamilien. Sie hat auch die Vorstellung von Familienwanderungen als dem typischen Migrationsprofil weiter verstärkt. Wichtige Fallstudien hierzu sind in den letzten Jahren etwa von Klaas-Dieter Voss und Sandra Langereis vorgelegt worden, die sich besonders mit den reichen Druckerfamilien in Exil, beispielsweise in Emden und Antwerpen, beschäftigt haben.21 Auch hier bieten sich weitere Studien etwa für die obengenannten, aber auch andere Hanauer Exulantenfamilien an, die leider bislang noch nicht vorliegen. Ein weiteres, nun vorgestelltes Beispiel zum Quellenwert von Testa-

31 menten und Inventaren auf der Spurensuche nach weiblichen Migranten kann ebenfalls Licht auf die Rolle von Frauen und ihren Aktionsradius in der neuen Umgebung werfen. Das folgende Norwicher Testament ist auch ein wichtiges Beispiel für die Möglichkeiten von Frauen, sowohl in den Institutionen ihrer Glaubensgemeinschaft als auch in den sozialen Netzwerken ihrer Gastgesellschaft erfolgreich zu agieren. Unter dem Datum des 5. Mai 1612 verzeichnete der Prerogative Court of Canterbury das Testament der Witwe Mary Wallewein, Matriarchin einer weitverzweigten, wohlhabenden Exulantenfamilie, die in der niederländischen Auswanderungswelle der 1560er Jahre von Ypern nach Norwich gezogen war.22 Die Tatsache, dass das Testament bei diesem Diözesangerichtshof und nicht in ihrem Wohnort registriert wurde, deutet bereits darauf hin, dass Mary über ein beträchtliches Vermögen verfügte, dessen Nachlass sie nun ordnen wollte. Hierfür legte sie genaue Instruktionen fest, die auf insgesamt vier Blättern Papier in englischer Sprache zusammengestellt und jeweils eigenhändig von ihr unterzeichnet wurden. Zunächst regelte sie die Beerdigung, die in ihrer englischen Heimatpfarrei St. Peter Mancroft stattfinden sollte. Marys Pläne für die Trauerfeier waren ambitiös: Sie wollte in der Kirche selbst neben ihrem 1601 verstorbenen Mann Adrian Wallewein begraben werden. William Welles († 1620), der die Pfarrstelle von St. Peter Mancroft bekleidete, aber auch Hofprediger der Gattin König Jakobs I. (1566–1625), Anna von Dänemark (1574–1619), war, sollte die Leichenpredigt halten. Anschließend sollte ein Festbankett stattfinden, zu dem Marys Norwicher Familie, Freunde und Nachbarn eingeladen werden sollten. Aus diesem Anlass sollten außerdem jeweils 10 Schilling an arme Insassen zweier Norwicher Gefängnisse ausgeteilt werden. Mit umfangreichen Geldgeschenken wurden zudem bedacht: der Prediger der Norwicher Niederländergemeinde, Johannes Elison (1581–1639), und die Gemeinde selbst, um damit die Aufrechterhaltung der spirituellen Wohlfahrt ihrer Mitglieder zu garantieren. Zur weiteren Unterstützung der niederländischen Armenfürsorge ordnete Mary Wallewein den Aufbau einer Stiftung an, deren beträchtliches Startkapital aus 25 Pfund bestand, das von den Ältesten der niederländischen Gemeinde verwaltet werden sollte. Bei guter Anlage sollte den Armen der Gemeinde hieraus eine jährliche Ausschüttung von 30 Schilling zur Verfügung gestellt werden. Neben dieser Langzeitinvestition stiftete sie einmalig 50 Schilling für diejenigen unter den niederländischen Armen, die nicht in den bestehenden Unterstützungsnetzwerken aufgefangen wurden, und 40 Schilling für die Armen der englischen Pfarrgemeinde St. Peter Mancroft. 40 Pfund gingen an Aquila Cruso († 1660), der mit einem Stipendium der niederländischen Gemeinde am Gonville and Caius College in Cambridge studierte; weitere Geldsummen waren für andere Familienmitglieder der Crusos bestimmt – auch diese waren wohlhabende und einflussreiche Exulanten in Norwich. Daneben verordnete Mary finanzielle Zuwendungen an diverse andere englische und niederländische Einwohner der Stadt. Kinder hatte sie offenbar keine (mehr). Ihren scheinbar umfangreichen Landbesitz in Flandern vermachte sie ihrer dortigen Familie, die zudem mit weiteren Geldgeschenken bedacht wurde. Die Verteilung von Land und Geld sollte nach flandrischer Gesetzgebung erfolgen. Die intimste Aufgabe in ihrem Nachlass, die Waschung und Einkleidung ihrer Leiche, überließ Mary Wallewein einer Engländerin, Frances Curvett, die für ABB.3 Unbekannte Bürgerin der Neustadt Hanau, unbekannt, Öl auf Leinwand, 1635, Eigentum der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde – selbstständige ev.-­ reformierte Kirche zu Hanau/© Norbert Miguletz, ohne Inv.-Nr.

DIE NEUSTADT HANAU IM KONTEXT DER EUROPÄISCHEN PLANSTADT DER FRÜHEN NEUZEIT ANDREA PÜHRINGER GRÜNBERG

71 »Die Einfahrt nach Hanau, welches in seiner Länge vom Frankfurther bis zum Nürnberger Thor durchschritten werden mußte, machte einen großen Eindruk auf mich. Eine solche große Stadt hatte ich nach meiner Meinung noch nicht gesehen, ob ich gleich an demselben Tag in Frankfurth, das sich wie eins zu vier verhält, gewesen war.«1 So schildert Philipp Jakob Hildebrandt d. J. (1770–1840), Sohn des gleichnamigen Hanauer Jägerleutnants, der mit seinen Eltern 1777 von Homburg nach Hanau kam, seine Eindrücke beim Betreten der Stadt. Diese ergaben sich daraus, dass die Hanauer Straßen – im Gegensatz zur engen Frankfurter Altstadt in der Neustadt breiter und die Anlage regelmäßiger war, denn sie war eine »nach Schnur und Winkelmaß angelegte, neue Stadt plötzlich aus dem Boden [ge]stieg[en], zu einer Zeit, wo Ähnliches in Deutschland noch nicht geschehen war und wodurch sie späterhin als Vorbild der Stadtanlagen zu Berlin, Cassel, Mannheim etc. angesehen werden mußte«, wie Carl Arnd und Johann Peter Ruth in ihrer Geschichte der Neustadt Hanau schrieben.2 Die planmäßige Anlage war eben ausschlaggebend für die positive Beurteilung der Stadt, wie bereits 1675 Joachim von Sandrart (1606–1688) ausführt: »Die welt-berühmte neue Stadt Hanau, als eine der zierlichsten und ganz neu-erbauten Stätt in Teutschland, wurde anfänglich nach den Regeln der Bau-Kunst abgestochen, damit alle Gassen schön weit werden, und auf einander correspondieren auch die herrlichen Behausungen ordent- und zierlich seyn möchten […].«3 Ausgehend von diesen Zitaten sollen nun die frühneuzeitlichen Planstädte unter folgenden Kriterien betrachtet werden: So wird nach den Vorbildern und Nachahmern, vielleicht sollte man besser »Vorläufer« und »Nachfolger« sagen, ebenso zu fragen sein wie nach den grundsätzlichen Ideen der Planstädte, nach den Auslösern und Motiven ebenso wie nach der Realität, sprich den Aufwendungen und Unwägbarkeiten bei der Realisierung. ZUR IDEE DER PLANSTADT Die Planstadt ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern geht in ihren Ursprüngen bis in die Antike zurück. Selbst das Mittelalter kennt die Planstadt, auch wenn dies heute nicht mehr eindeutig nachvollziehbar ist, aber es gab regelmäßige Anlagen – etwa Lemgo im östlichen Nordrhein-Westfalen, ehemals Grafschaft Lippe, das südböhmische Budweis (České Budějovice) oder das toskanische San Giovanni Valdarno – um nur einige in willkürlicher Auswahl zu nennen. In Lemgo etwa verliefen drei Parallelstraßen, die dann im Osten vor der Toranlage zusammenliefen. Bei der Eingliederung der Neustadt wurde dieses Planprinzip der Parallelen beibehalten. In Budweis hingegen war ein zentraler Platz ohne Einbauten angelegt, auf den die von außen kommenden Straßen mündeten. Auch San Giovanni Valdarno wies einen rasterförmigen Grundriss mit zentralem Platz auf.4 Zwar fehlen mittelalterliche kartographische Quellen, die Auskunft über die Anlage der zahlreichen im Hochmittelalter entstehenden Städte geben könnten, doch ist davon auszugehen, dass es Überlegungen zur Ordnung des Stadtraumes gab – sei es aus fortifikatorischen, Repräsentations- oder gesellschaftlichen Motiven. Herrschaftssitze, Rathäuser oder Kirchen dominierten den Stadtraum.5 Daher ist nicht von einer direkten Dichotomie zwischen Planstädten und historisch gewachsenen Städten auszugehen, denn auch in Städten, die sich sukzessive und unregelmäßig entwickelten – etwa Nürnberg – sind Planungen festzustellen und in den Gründungsstädten blieb Freiraum für Ungeplantes.6 Voraussetzungen für geplante Städte sind ausreichend Platz und finanzielle wie technische Ressourcen, wobei die Utopie der Idealstadt immer mit zu bedenken ist. Doch zum einen veränderten sich diese Idealvorstellungen im Verlauf der Jahrhunderte7 und zum anderen waren Städte immer auch an ihre topographischen Voraussetzungen gebunden bzw. wurden gerne an Orten angelegt, die verkehrs- oder sicherheitstechnisch günstige Lagen boten – etwa an Flussläufen. Ein Blick nach Italien zeigt, dass dort im ausgehenden 14. Jahrhundert ein qualitativ neues Interesse für die Architektur der Antike entstand, der formensprachliche Charakter von antiken Bautypologien, Proportionen und Gliederungssystemen wurde als Vorbild für neue Bauten genommen. Den Ansprüchen Vitruvs nach Firmitas (Festigkeit), Utilitas

72 (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit) in der Architektur kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Leon Battista Alberti (1404–1472) war einer der ersten, der diese Forderungen seinerseits in seinem Architekturtraktat aufgriff. Wie überhaupt die Bedeutung des Architekten, der über Kenntnisse in der Malerei und der Mathematik ebenso wie im Zeichnen und imModellbau zu verfügen hatte, enorm zunahm. Die Fürsten und Päpste der Renaissance bedienten sich gern dieser an der Antike geschulten Architekten und Künstler.8 So beeinflussten diese Entwicklungen auch die Kriterien, nach denen das Aussehen der Städte bewertet wurde. Neben mathematischen und geometrischen Kenntnissen befassten sich Verfasser von staats- und architekturtheoretischen Schriften vermehrt mit der Planung von idealen und utopischen Städten. Mit dem Anspruch der Zeit an eine mathematisch erfassbare Lebenswelt verband sich die Vorstellung von Schönheit als rationaler Ordnung – in der Städteplanung war darunter ein mathematisch beschreibbarer Grundriss zu verstehen. Dieses veränderte ästhetische Empfinden verband sich jedoch mit lebensweltlichen Motiven, wie die Städte besser vor Schäden durch Feuer oder Erdbeben zu schützen. In vielen Städten führte dies sukzessive zu Planung und Einführung einheitlich gestalteter Straßenzüge und Platzanlagen – besonders bei der Neuplanung ganzer Städte oder bei der Erweiterung oder Sanierung bestehender Stadtstrukturen.9 Doch anfänglich übten die Architekten ihre Ideale von Proportion und Gleichmäßigkeit nur an einzelnen Bauwerken, denn den Städten und Stadtstaaten fehlten für groß angelegte, langfristige Bauprogramme die nötigen finanziellen Mittel wie auch die politische Stabilität. Die Idealstadt blieb projektierte Utopie. Anfänglich wurden bereits existierende Stadtstrukturen überbaut, selten neue geplant und errichtet, oft erwiesen sich die Planungen als überzogen oder undurchführbar.10 Einer der ersten, der sich mit der Idealstadt befasste, war Antonio di Pietro Averlino, genannt Filarete († 1469), der in seinem »Architettonico Libro« (um 1460–1464), einem in Form des höfischen Romans verfassten Architekturtraktat, die sternförmig befestigte, hierarchisch durchstrukturierte Planstadt Sforzinda präsentierte, deren Grundriss ein Kreis eingeschrieben ist und deren Wegesystem radial auf den Mittelpunkt ausgerichtet ist. (ABB. 1) Francesco Sforza (1401–1466) war namengebend für Sforzinda und Filarete widmete sowohl ihm als auch Piero de’ Medici (1416–1469) jeweils ein Exemplar seines Traktats.11 Die Diskussion der nun zahlreich entstehenden Architekturtraktate schwappte auch über die Alpen in den Norden.12 Die erste tatsächliche Umsetzung eines solchen Projektes war Pienza, das durch die Umgestaltung des Dorfes Corsignano, dem Geburtsort Pius’ II. (1405– 1464), entstand. Da die Gesamtplanungen beim Tod des Papstes 1459 eingestellt wurden, kam es nur zu einer partiellen Verwirklichung des Idealstadtgedankens, allerdings nicht im Hinblick auf eine ideale Stadtgesellschaft, sondern auf eine hierarchisch strukturierte – auf den Papst als Gründer ausgerichtete – Stadtrepublik.13 ABB.1 Plan der Idealstadt Sforzinda, in: Filarete: Libro architettonico, um 1460–1464, Wikimedia Commons (https://commons. wikimedia.org/wiki/ File:Idealstadt.jpg). ABB.2 Bastionierte Idealstadt, in: Joseph Furttenbach: Architectura martialis. D.i. ausführliches Bedencken über das zu dem Geschütz und Waffen gehörigen Gebäw, 1630, Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2 Stw 141.

73 Das Aussehen städtischer Anlagen mit mehr oder weniger geometrischen Grundrissen entsprang aber nicht nur ästhetischen, sondern vorwiegend auch fortifikatorischen Bedürfnissen. Gerade sie sollten das Aussehen entscheidend prägen und auch dazu führen, dass selbst »gewachsene« Städte von außen einen geregelten Eindruck vermittelten – auch wenn in der Stadt der Straßenverlauf keineswegs geometrischen Vorgaben folgte. Mit Türmen und Toren versehene Stadtmauern waren bereits imMittelalter sozusagen ein notwendiges Übel und dienten der Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung. Doch mit der Einführung der Feuerwaffen traten grundlegende Veränderungen ein: Die Türme mussten vergrößert werden, um Geschütze aufzunehmen und tragen zu können. Sie wurden zu massiven Rondellen und Basteien ausgebaut und ragten damit weiter vor die Linie der Mauern als die ursprünglichen Türme, was zum typischen polygonalen Grundriss führte.14 Diese Neuerungen wurden in der Folgezeit zum Bastionärsystem weiterentwickelt, zu dessen wichtigsten Teilen neben Mauern und Türmen die Gräben und Kasematten sowie Raveline zur Verteidigung der Stadttore gehörten.15 Innerhalb der Stadtmauern mussten nun nicht nur zunehmend Soldaten, sondern auch fortifikatorische Infrastruktur wie Geschütze, Zeughäuser und Magazine untergebracht werden. Zwar sollte diese Entwicklung erst im Barock ihren Höhepunkt erreichen, doch waren schon im 16. Jahrhundert zunehmend weniger Zivilarchitekten als vielmehr Militärbaumeister in die Stadtplanung eingebunden oder traten als Planer und Ausführende auf.16 Einer der ältesten Traktate zur Bastionierung von Giovanni Baptista della Valle († ca. 1550) von 1524 stammt wiederum aus Italien, während sich nördlich der Alpen Daniel Specklin (1536–1589) 1589 mit seiner »Architectura von Vestungen« und in seiner Folge Joseph Furttenbach (1591–1667) mit seiner »Architectura martialis« von 1630 einen Namen machten. Er wie auch Francesco de Marchi (1504– ABB.3 Stadtplan von Palmanova, Frans Hogenberg, Radierung, 1598, Rijksmuseum Amsterdam, Inv.-Nr.: RP-P-OB-44.174.

74 1576) zeigen in ihren Plänen ebenfalls die Feuerlinien des in den Flanken postierten Verteidigungsgeschützes. Handelte es sich hier um Idealanlagen, so wurde das Bastionärsystem vom Reißbrett auf die Landschaft übertragen.17 (ABB. 2) Wichtig war neben der fortifikatorischen Stärke allerdings auch die Sicherstellung der Versorgung sowie die Anbindung an ein überregionales Wegenetz – diese Bedingungen waren entscheidend, ob sich eine Stadt etablieren konnte, verlegt oder aufgegeben werden musste.18 FRÜHE UND ZEITGLEICHE PLANSTÄDTE Eine der frühesten nahezu perfekt angelegten Städte war Palmanova, das Vincenzo Scamozzi (1548–1616) ab 1593 als Grenzfestung der Republik Venedig im radial-polygonalen Prinzip errichten ließ. Vom zentralen Exerzierplatz führten anfänglich sechs breite Straßen zu den Befestigungsanlagen. (ABB. 3) Selbst die Unterbringung der Soldaten war hierarchisch geregelt, die Offiziere wohnten im Zentrum, die Söldner entlang der Festungsanlagen. Bereits 1554 hatte sich der Militäringenieur Pietro Cataneo in seinen »Quattro primi libri di architettura« für eine rationale Entwurfslösung ausgesprochen und gemeint, kreisförmige Grundrisse sollten aufgrund der besseren Funktionalität durch eckige ersetzt werden. So konnten die Mauern in Form eines Polygons mit Bastionen bestückt werden. Ein weiteres frühes Beispiel ist Sabbioneta, das sich über einem Hexagon mit sechs Bastionen erhebt – oder auch La Valletta, die ab 1566 nach dem Rasterschema erbaute Festungsstadt des Johanniterordens auf Malta.19 Etwas jüngeren Datums ist Nancy, dessen Neustadt zwischen 1588 und 1600 errichtet wurde. Es weist sehr viel Ähnlichkeit mit Hanau auf, auch hier blieben Alt- und Neustadt bis ins 18. Jahrhundert getrennt. Erst mit der damaligen Schleifung der großen Bastionen entstand prestigeträchtiger Stadtraum, der in der Neustadt neue Möglichkeiten der Platzgestaltung bot.20 Diesseits der Alpen setzten sich eher quadratische bzw. rechteckige Grundrisse für Planstädte durch. Bereits 1515 schilderte Thomas Morus (1478–1535) in seinem Roman »Utopia« die Idee eines Inselstaates mit 54 Städten von quadratischem Grundriss mit schachbrettförmigem Wegenetz ohne Zentrum – als Basis für ein gerechteres Gesellschaftsmodell. Albrecht Dürer (1471–1528) definierte in seiner Befestigungslehre 1527 den Prototyp nach Morus für viele, nördlich der Alpen entstehende quadratische Planstädte. Dieser war Vorbild bei der Anlage von Freudenstadt ab 1599 nach Plänen von Heinrich Schickhardt (1558–1635). (ABB. 4) Hier sind drei Häuserzeilen mühlbrettartig um einen quadratischen Platz angelegt, dessen Mittelpunkt ein Schloss hätte zieren sollen, das allerdings nicht zur Ausführung kam, während die Kirche in das Zeilenschema der Gesamtbebauung eingefügt wurde, also keine eigene Platzgestaltung erhielt. Bedingt durch den frühen Tod des Stadtgründers, Herzog Friedrich I. von Württemberg (1558–1608), wurde der Plan nur teilweise verwirklicht.21 ABB.4 Idealplan von Freudenstadt (rechts unten das auf dem zentralen Platz geplante, aber nie errichtete Schloss), Heinrich Schickhardt, Zeichnung, um 1600, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, N 220 A 177.

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