Leseprobe

196 einem jahrmarktähnlichen Parcours, der an verschiedenen Stationen Erlebnisse optischer, physischer, akustischer und psychischer Art bot.27 Diese Art komplexer und dynamischer Erlebnislandschaft kuratierte später auch JimWhiting in seinen »Bimbo Towns«. Sie erfüllen sich erst im Erlebnis der Besuchenden und Benutzenden, die keine reinen Betrachtenden, sondern Zielobjekt und Spielball der Aktionen und Emotionen, die die Erlebnisse und Erfahrungen auslösen, sind. In den 1970er-Jahren gewann die Musik in seinen Installationen an Gewicht und es entstanden die berühmten »Méta-Harmonien«, große, motorengetriebene, mit diversen Musik- und insbesondere Schlaginstrumenten bestückte Räderwerke, die, einmal in Gang gesetzt, ein lärmendes, theatrales Erlebnis liefern. Sie markieren den Höhepunkt von Tinguelys Beschäftigung mit Klang als künstlerischem Mittel.28 Neben Musik spielte auch Wasser eine Rolle bei Brunnenprojekten 1977 für Basel (Abb. 2) und 1983 in Paris. Zu der Zeit zieht zudem eine Art Totentanzmotivik ins Werk ein: Tinguely integrierte Tierschädel in seine Installationen, die den Anschein vergangener Lebendigkeit wecken. Wenngleich diese für den Künstler eher das Skurrile und Burleske betonten, sind sie ein Zeichen seiner zunehmenden Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und dem Tod, dem »Übergang von einer Bewegung in die andere.«29 In diese Phase datiert auch »Montesquieu« (Kat.-Nr. 57). Hier ist ein beeindruckender Schweineschädel auf einer Assemblage aus diversen, meist schmiedeeisernen Metallresten arrangiert, die wiederum auf einem ausgedienten aufgestellten Metallfass oben aufsitzt. Technik und Mechanik des motorisierten Objekts sind ebenfalls sichtbar angebracht und Teil der Ästhetik. Unter Stromzufuhr, die mittels Schalter manuell geregelt werden kann, klappen die Kiefer des Schädels in einer Art Sprechbewegung unentwegt auf und zu. Ist es Kritik oder eher Spott, wenn Tinguely die Vanitas-Thematik der Vergänglich- und Vergeblichkeit mit dem Verweis auf den französischen Klassiker und Universalgelehrten Montesquieu verbindet, der als »Erfinder« der Gewaltenteilung gilt und mit den »Perser Briefen« einen Schlüsseltext der Aufklärung schrieb? Während Tinguelys Werkgruppen kontinuierlich aufeinander aufbauen und sich logisch erweitern, gehen bei Whiting die neuen meist aus den alten hervor. Beider Werke arbeiten mit beweglichen Groß- und Rauminstallationen und einemMoment der Überwältigung, allein durch ihre Dimension, den ‚lauten Auftritt‘ und die damit bezweckten sinnlichen Erfahrungen und evozierten Gefühle. Die Betrachtenden werden zu Benutzenden und gehen selbst an und in den Kunstwerken auf. Metamorphosen – Rebecca Horn Auch Rebecca Horn (geb. 1944) gehört zu den Protagonistinnen und Protagonisten, die wie Tinguely bereits ab den 1960er-Jahren die traditionellen Vorstellungen vom Wesen der westlichen bildenden Kunst mit neuen Ausdrucks- und Gestaltungsstrategien veränderten. Die gebürtige Hessin wurde 1972 als jüngste Teilnehmerin der epochemachenden »documenta 5« bekannt und zählt heute zu den außergewöhnlichsten und vielseitigsten Künstlerinnen ihrer Generation. Nicht wenige Elemente ihres Schaffens – vor allem bei den Installationen und kinetischen Objekten, für die sie hauptsächlich bekannt ist – teilt Rebecca Horn mit Tinguely,30 auch wenn ihre Arbeiten poetischer, sinnlicher, fragiler wirken und melancholischer, nachdenklicher und tiefsinniger sind. Ihre Werke und Medien sind facettenreich und interdisziplinär: Ausgehend von vor allem frühen (Körper-)Skulpturen und Performances entstehen erst später kinetische Skulpturen, ortsspezifische Installationen und Spielfilme, ein literarisches sowie ein malerisches und grafisches Œuvre, in dem der Zufall durch den Einsatz von Mal- und Zeichenmaschinen bildgebend ist. Die unterschiedlichsten Genres sind inhaltlich und medial hochgradig miteinander verflochten und das künstlerische Gesamtwerk wird von einer ihr eigenen konsequenten Logik zusammengehalten. Jede neue Arbeit scheint sich stringent aus vorherigen zu entwickeln. Das lässt sich auch an ihrem Werk »Floating Souls« (Kat.-Nr. 59) feststellen. Es entstand als eines von drei ganz ähnlichen kinetischen Objekten aus den Dreharbeiten des englischsprachigen Films »Buster’s Bedroom«, den Horn 1990 drehte.31 Eine Frau mit obsessiver Verehrung für den amerikanischen Schauspieler Buster Keaton besucht jenes kalifornische Sanatorium, in dem der Schauspieler therapiert worden sein soll. In einer Szene sitzt einer der Patienten am Flügel, umgeben von einemHaufen auf dem Boden liegender Notenblätter. Diese werden durch einen Luftzug aufgewirbelt und tanzen in der Luft. Der ästhetische Reiz dieses bewegten und beweglichen Bildes inspirierte Rebecca Horn zu dem Set der »Floating Souls«, die sich in Art und Anzahl der Notenblätter unterscheiden. Nur in der letzten, der Dresdner Version, fanden die originalen, im Film verwendeten Notenblätter Verwendung. Sie tragen die Noten zur komischen Oper »H.M.S. Pinafore; or, The Lass that Loved a Sailor« mit Musik von Arthur Sullivan.32 Diese elf originalen Blätter sind fächerartig um eine zentrale mit Motorik ausgestattete Halterung angebracht. Durch die Reaktion eines Sensors setzt die herantretende – und damit interagierende – betrachtende Person den Motor in Gang und löst ein langsames Heben und Senken der Bögen aus, so als ob sie gleichmäßige Atembewegungen mitmachen. Die elegante Fragilität des Notenpapiers und die Leichtigkeit der Bewegung verleihen demObjekt seine poetische, aber zugleich melancholische Natur und Seele. Ebenso wurde das Piano aus derselben Filmszene im unmittelbaren Anschluss an die Filmarbeiten in der Installation »Concert for Anarchy« weiterverwandelt.33

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