Leseprobe

192 Die Faszination, Dinge bewegen zu können und aus Unbelebtem Leben schaffen zu können, war seit der Antike eine starke Triebkraft. Bewegung, heute eine physikalische Größe, war noch bis ins 18. Jahrhundert hinein ein Mysterium und der Unterschied zwischen Lebendigem und Leblosem.1 Automaten, Androiden, Roboter und andere Selbstbeweger wurden geschaffen, um die Natur, den Menschen und seine Tätigkeiten nachzuahmen. Sie sollten die Betrachtenden entzücken, unterhalten und ihnen schließlich auch Arbeit abnehmen. Es geht darin aber vor allem um Illusion und Imagination. Die jeweiligen Apparate und ihre Technik sind oft ein Spiegel von Geist und Kultur ihrer Zeit.2 Wie reflektieren nun die bewegten Objekte zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung die Gegenwart des technikgewöhnten 20. und des digitalisierten 21. Jahrhunderts?3 Anarchische Welt des Schabernacks – Jim Whiting Die durch regulierte Stromzufuhr ausgelöste und sich gleichmäßig wiederholenden Kreisbewegung der »Lilith« (Kat.-Nr. 56) ist vielen der Roboter-, Maschinenmenschen und belebten Skulpturenlandschaften des Künstlers eigen. Jim Whiting (geb. 1951) baut Maschinen der einen oder anderen Art, seit er fünf Jahre alt ist.4 Der Impuls ist verschiedenen einprägsamen Kindheitserfahrungen zu verdanken: Aufgrund einer rachitischen Erkrankung musste er als Junge eine Art Beinkorsage tragen, ein Erbstück, welches über Generationen in seiner Familie weitergegeben wurde. Der Künstler ist überzeugt, dass jenes »furchtbare, braune, alte Ledergestell mit Bändern und einer Stange«, eine altertümlich anmutende orthopädische Hilfe, die die Beweglichkeit einschränkte, um sie später uneingeschränkt möglich werden zu lassen, seinen »Blick auf die Kombination von Maschinen und Mensch gelenkt hat.«5 Bewegung wurde ihm demzufolge früh zu einem Lebensthema. Dazu gesellte sich das Interesse an Anatomie, das von einem Geschenk seiner Eltern angeregt wurde, einem Marionettenbuch, in dem er Zeichnungen von Gelenken studieren konnte. Diese autobiografische Saat wurde genährt durch Albträume mit abgetrennten, mechanischen tanzenden Körpern und Puppen,6 darunter ein besonderer, der ihm die Begegnung mit einem Maschinengewehr auf einer Drehkonsole bescherte, das sich automatisch bewegte. Die Faszination, die von dieser (menschengemachten) Kombination von Horror mit Automatik ausging – und dem damit verbundenen (Er-)Schrecken und dem Zufall der Betroffenheit –, ist eine unmittelbare Triebkraft seines ausgefallenen künstlerischen Schaffens. Wie viel familiäre Veranlagung er mitbekommen hat, ist nur zu erahnen: Der zu früh verstorbene Großvater hatte bei Silke Wagler Moving Art – bewegliche, bewegte und bewegende Kunst E I NE ASSOZ I AT I VE ANNÄHERUNG

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