Leseprobe

5 0 0 J A H R E M E C H A N I S C H E F I G U R E N A U T O M A T E N

5 0 0 J A H R E M E C H A N I S C H E F I G U R E N A U T O M A T E N Herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Peter Plaßmeyer, Hagen Schönrich, Igor Jenzen Sandstein Verlag

8 Vorwort Marion Ackermann 10 Grußwort Helmut Schleweis 11 Grußwort Wilhelm Schmid 12 Einleitung Peter Plaßmeyer 1 18 Und dann bewegten sie sich ... Figurenautomaten um 1600 20 Frauensache. Die Automaten der Kurfürstin Sophia für die Dresdner Kunstkammer Susanne Thürigen 31 Exponate 52 DerTisch als Bühne. Tafelautomaten am Dresdner Hof Ulrike Weinhold 61 Exponate 2 78 Der künstliche Mensch. Androiden des 18. Jahrhunderts 80 Androiden des 18. Jahrhunderts. Sich selbst bewegende Automaten und der Versuch der perfekten Imitation Peter Plaßmeyer 92 Mit Pauken und Trompeten. Zur Geschichte der Musikautomaten Peter Plaßmeyer 95 Exponate 108 Die sprechende Maschine. Von mechanischen zu elektronischen Stimmen Rüdiger Hoffmann 117 Exponate I NHALT

3 128 Die Dramaturgie der Nockenwelle. Mechanisches Theater im 19. Jahrhundert 130 Das Theatrum mundi oder: Die Welt im Kleinen Lars Rebehn 140 Die mechanischen Theater des Elias Augst Igor Jenzen 151 Exponate 4 162 Münzautomaten und Roboter. Mechanische Automaten im 20. Jahrhundert 164 Die Entwicklung der Münzautomaten. Eine »automatische« Revolution Jessica Midding 173 Exponate 180 Das Leben als Vorbild. Der lange Weg zur modernen Robotik Frank Dittmann 5 190 Und sie bewegen sich immer noch ... Kinetische Kunst und ihre digitalen Geschwister 192 Moving Art – bewegliche, bewegte und bewegende Kunst. Eine assoziative Annäherung Silke Wagler 201 Exponate 209 Anhang 210 Bibliografie 220 Bildnachweis 221 Leihgeber 222 Autorinnen und Autoren 223 Impressum

12 Mit einem Schlüssel aufzuziehende Kreaturen – vom kleinen emaillierten Maikäfer aus dem frühen 17. Jahrhundert (Kat.-­ Nr. 20) bis zum Wind-Up der Firma Kikkerland (Abb. 2) aus den Kinderzimmern heutiger Tage – bilden unsere Vorstellung von mechanischen Automaten. Die kleine Aufzugsfeder, die ein dem Uhrwerk verwandtes Räderwerk antreibt, bot über Jahrhunderte einen ortsunabhängigen Antrieb für faszinierende mechanische Apparate. Die berühmtesten mechanischen Objekte der Zeit um 1600 sind sicherlich die spektakulären Figurenautomaten des Augsburgers Hans Schlottheim (1547–1625), doch stehen sie eher am Ende einer Entwicklung, die mit den großen astronomischen Uhren in und an Kirchen und Rathäusern begann. Diese monumentalen Apparate vereinen astronomische Funktionen, wie den Lauf von Gestirnen und Planeten, die Zeitanzeige auf Zifferblättern, wie auch durch ein Schlagwerk und den Kalender. Wir finden aber auch bewegte Kreaturen, wie den zur Stunde krähenden Hahn, Glocken schlagende Männer und die berühmten Figurenläufe. Einen mechanischen Hahn, der wohl zu einer Kirchenuhr gehörte, zeigt bereits das Bauhüttenbuch des Villard d’Honnecourt1 (um 1200–nach 1235) aus der Zeit um 1235. Die berühmPeter Plaßmeyer Einleitung teste dieser Uhren ist sicherlich die im Straßburger Münster. Die erste Uhr aus dem Jahr 1353 wurde an anderer Stelle des Querhauses durch die 1574 vollendete zweite Münsteruhr ersetzt.2 Bereits die erste Uhr zeigte neben dem Kalendarium Anzeigen der Gestirne und die Heiligen Drei Könige als bewegte Figuren, die zu jeder Stunde die Köpfe vor Maria neigten. Die großen astronomischen Uhren wurden von Gewichten angetrieben, die eine große Fallhöhe benötigten, um nicht ständig aufgezogen werden zu müssen. Mit der Erfindung der Aufzugsfeder entstanden im 16. Jahrhundert kompakte Uhrwerke, die kleinere Automaten ermöglichten. Dabei wurde die Komplexität der astronomischen Uhren zerlegt in astronomische Tischautomaten und in Figurenautomaten. Alles vereinende Tischautomaten blieben die Ausnahme. Eine solche bildet die prächtige Tischuhr des Nürnberger Uhrmachers Paulus Schuster (Meister 1587, gest. 1624) von 1587 (Abb. 1). Herrlich kontrastierende Silber- und Goldflächen und fragile Tiefenschnittemails bieten eine Bühne für vier kleine Meeresgötter an den Ecken des Sockels, die jede Minute abwechselnd für jeweils 15 Sekunden ihre Köpfe bewegen. Weiter oben schlagen zwei Männer die Glocken des Stunden- und Viertelstundenschlagwerks und der Hahn kräht flügelschlagend.

Abb. 1 Türmchenuhr. Paulus Schuster, Nürnberg, 1587. SKD, Mathematisch-­ Physikalischer Salon, Inv.-Nr. D V 8

14 Die berühmtesten »kleinen« astronomischen Uhren wurden für Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559) in Heidelberg (1554–1560, Philipp Imsser)3, den hessischen Landgrafen Wilhelm IV. (1568– 1592) in Kassel (1557–1562, Eberhard Baldewein u. a.)4 und den sächsischen Kurfürsten August (1526–1586) in Dresden (1563– 1568, Eberhard Baldewein u. a.)5 gefertigt. Sie bilden die komplexesten mechanischen Apparate des 16. Jahrhunderts. Eine bedeutende Rolle spielte bei der Entwicklung der hessische Landgraf Wilhelm IV., der die astronomischen Berechnungen für die Uhren in Kassel und Dresden vornahm.6 Wilhelm IV. war ein anerkannter Astronom und neigte dazu, seine neu vermessenen Sternpositionen mithilfe von Himmelsgloben aus vergoldetem Messing zu publizieren. Diese Globen wurden zunächst von Eberhard Baldewein (1525–1593), der auch federführend den Bau der astronomischen Uhren für Kassel und Dresden organisierte, gebaut und von Jost Bürgi (1552–1632) fortgesetzt. Sie wurden dann an andere Fürsten und Forschungseinrichtungen verschenkt. Während die Kasseler Globen zum Festhalten und Verbreiten eigener Beobachtungsergebnisse dienten, griffen die Augsburger Uhrmacher Johann Reinhold (1550–1596) und Georg Roll (1546–1592) für ihre mechanischen Himmelsgloben (Abb. 3) auf bereits publizierte Sternkarten zurück. Ihre Globen bestehen aus einemmechanischen Himmelsglobus, auf dem die auf zwei mechanischen Bügeln montierten Figuren von Mond und Sonne ihre Positionen am Himmel zeigen. Unter der Himmelskugel finden wir einen Erdglobus und über ihm eine Armillarsphäre. Sonnenuhren und ein Kompass auf der Grundplatte halfen beim Einstellen der Himmelskugel. Heute finden wir Exemplare dieses Automaten in Wien7 (1588), Neapel8 (1586), Paris9 (1588), London10 (1584), Sankt Petersburg11 (1584) und Dresden12 (1586).13 Bei diesen astronomischen Modellen können wir zweifellos von mechanischen Automaten sprechen. Auch die bewegten Kreaturen der großen astronomischen Uhren fanden ihre Umsetzung Ende des 16. Jahrhunderts in kompakten Automaten.14 Die berühmtesten dieser Automaten schuf der Augsburger Hans Schlottheim. An seinem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Krippenautomaten (Kat.-Nr. 4) finden wir die sich vor Maria verneigenden Heiligen Drei Könige der Straßburger Münsteruhr wieder, in seinen Tafelschiffen in Écouen und London (Kat.-Nr. 15), die sich bis 1832 in der Dresdner Kunstkammer befanden, verneigen sich die Kurfürsten vor dem Kaiser, wie wir es seit 1509 beim »Männleinlaufen« am Westgiebel der Nürnberger Frauenkirche finden (Abb. 4).15 Die Frauenkirche wurde 1355 von Karl IV. als kaiserliche Hofkapelle gestiftet und sollte Reichsinsignien (Kaiserkrone, Zepter und Mantel) aufnehmen. Das »Männleinlaufen« erinnert an die Verkündung der Goldenen Bulle 1356. Schlottheims Automaten sind komplexe mechanische Gebilde mit mehreren Antriebswerken, die das Gehwerk, das Schlagwerk, die Automatenfunktionen und nicht selten auch noch einen Musikautomaten antreiben. An den meisten Automaten findet sich irgendwo ein Zifferblatt als Hinweis auf den Antriebsmechanismus. Nur ein Krebs (Kat.-Nr. 19) und eine Spinne aus Dresden (Kat.-Nr. 21) sowie ein Maikäfer aus Kassel (Kat.-Nr. 20) verzichten darauf. Den komplexen Automaten folgten am Ende des 16. Jahrhunderts die sogenannten Augenwender; einfachere Figurenautomaten, bei denen sich vor allem die Augen bewegten. Sie waren über ein Gestänge mit dem Uhrwerk verbunden, und an ihnen konnte abgelesen werden, ob Abb. 2 Aufzieh-Spielzeug »Spinney«. Kikkerland Design Inc., USA, 2021

Abb. 3 Mechanischer Himmelsglobus. Johannes Reinhold, Georg Roll, Augsburg, 1586. SKD, Mathematisch-­ Physikalischer Salon, Inv.-Nr. E II 2

52 Ein Fest für alle Sinne: die Schauessen Die fürstliche Tafel diente in der Zeit der Renaissance und des Barock keineswegs ausschließlich dem Servieren einer opulenten Speisefolge. Eng eingebunden in die höfischen Repräsentationsstrategien, war sie zugleich ein Podium für aufwendige Inszenierungen und kuriose Dekorationen, die sich durch vielfältige allegorisch-symbolische Bezüge etwa zum Anlass der Festlichkeit, zum Gastgeber oder zu einer anwesenden Persönlichkeit auszeichnen. Den Höhepunkt eines Festmahls bildeten die Schauessen und Schaugerichte, die über schriftliche und bildliche Quellen überliefert sind. Wie Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) in seinem Mitte des 17. Jahrhunderts in mehreren Auflagen erschienenen »Trincir-Buch« berichtet, bestanden die figürlichen Gegenstände aus gefärbtem Zucker, Tragant1, Butter, Rüben oder Obst, die architektonischen Elemente, Berge oder Brunnen aus nicht essbaren Materialien wie Wachs, Leinen, Stroh oder Holz.2 Derlei exklusive Festessen sollten nicht nur den Geschmack, sondern alle Sinne ansprechen, denn sie wurden zumeist begleitet von Musik, und auf der Tafel fanden sich nicht selten Tischbrunnen und wohlriechendes Rauchwerk.3 Und schließlich sei auch das »Gesicht, als der übertrefflichste unter allen Sinnen mit den Sinnreichen Schaugerichten vergnüget worden; dardurch man zu guten Gespräche veranlasst wird«.4 Ein seltenes Beispiel einer bildlichen Darstellung ist das »Bancket von allerhandt Zuckerwerck« anlässlich der Hochzeit Johann Wilhelms von Jülich-Kleve-Berg mit Jacobe von Baden im Jahr 1585 im Düsseldorfer Schloss (Abb. 1).5 Auf der Tafel präsentiert sich zwischen Lorbeerbäumen eine weitläufige Landschaft mit Tieren sowie emblematischen Elementen: Löwen mit Wappenhaltern und eine Herrscherallegorie in Gestalt eines Pelikans, der seine Jungen mit dem eigenen Blut nährt. Philipp Hainhofer in der Dresdner Kunstkammer In unmittelbarem Zusammenhang mit derartigen ephemeren Inszenierungen sind die Tafelautomaten zu sehen, die den dort bereits angelegten Aspekt der Verlebendigung fortführen. Insbesondere die Dresdner Kunstkammer bewahrte um 1600 eine der umfangreichsten Sammlungen unterschiedlicher Automaten, welche der Augsburger Patrizier und Kunstkenner Philipp Hainhofer (1578–1647) bei seinem Besuch am 16. September 1629 bestaunen konnte.6 In seinem Reisebericht beschreibt er einzelne Figuren und Figurengruppen, Tiere und Schiffe, die mittels ihres im Inneren verborgenen Mechanismus über den Tisch rollten und einfache Bewegungen oder gar komplexere Bewegungsabläufe ausführten. Zusätzlich konnten einige dieser kleinen Bronze- oder Silberplastiken auch Musik spielen oder Geräusche produzieren, Böllerschüsse abgeben, die Zeit anzeigen oder aber zu einem Trinkritual auffordern.7 Als Mischung zwischen Uhr, Musikautomat, Trink- und Scherzgefäß sorgten sie Ulrike Weinhold Der Tisch als Bühne TAFELAUTOMATEN AM DRESDNER HOF

53 für Belustigung oder boten Stoff für den gelehrten Diskurs. In jedem Fall enthüllten diese Automaten ihr Geheimnis nicht sofort – vielmehr wollten sie erkundet werden, denn individuell verschieden und nur schwer vorhersehbar waren ihre Funktionen, sobald das Triebwerk in Gang gesetzt wurde. Die Genauigkeit, mit welcher der neugierige Gast aus Augsburg viele der ihm präsentierten Stücke auch in ihren Bewegungsabläufen beschrieb, legt nahe, dass sie ihm tatsächlich vorgeführt worden sind. Seine Schilderungen beflügeln heute nur zu leicht die Fantasie und zeichnen das Bild vom Amüsement einer trinkfreudigen und zu teils derben Späßen aufgelegten höfischen Gesellschaft. Demgegenüber stehen die sehr spärlichen Schilderungen vom Gebrauch der Automaten durch eine festlich tafelnde Gesellschaft. Es stellt sich daher die Frage, ob sie tatsächlich regelmäßig bei einem Festmahl zum Einsatz kamen oder ob sie lediglich als technische Wunderwerke im Rahmen von Besichtigungen der Kunstkammer präsentiert wurden, wie sie Philipp Hainhofer 1629 erleben durfte. Einige der von ihm erwähnten Tafelautomaten haben sich bis heute erhalten, von anderen erfahren wir über die entsprechenden Inventare der Kunstkammer, sodass ein genauer Blick auf diese bis heute faszinierenden Kunstwerke möglicherweise weiteren Aufschluss über deren tatsächliche Verwendung geben kann. Abb. 1 Das Zuckerbankett. Franz Hogenberg, 1587. Kupferstich aus Dietrich Graminäus: Beschreibung derer Fürstlicher Güligscher ec. Hochzeit. Stadtmuseum Düsseldorf, Inv.-Nr. D V-8

54 »auch zucker fallen leßet«: Vögel als Zuckerspender Die unmittelbare Verbindung der Tafelautomaten zu den eingangs beschriebenen Desserttafeln wird besonders deutlich angesichts einer Gruppe tiergestaltiger Exemplare, die im Kunstkammer-Inventar von 1640 aufgeführt wird: Ein Pfau, der – wie Hainhofer berichtet – »im herumbgehen schreyet, den Kopf wendet, die augen glisset, entlichen den ganzen leib, vnd ain rad oder aine wannen mit dem schwanz drehet aufrichtet, auch zucker fallen lasset«,8 ein Papagei, der »an stadt des schlagens schreit, auch zucker fallen leßet«,9 sowie ein Kuckuck, der »mit seinem schnabel vnd geschrey die viertelstunden andeutet, die stunden mit den flüglen schleget, vnd beym schwaif Zucker aussprizet.«10 Alle diese schreitenden Vögel, die sich leider nicht erhalten haben, hielten neben den mit der Zeitanzeige gekoppelten Bewegungen wie Flügel- beziehungsweise Radschlagen und Kopfdrehung sowie Geschrei auch eine weitere Überraschung parat: Sie fungierten als Zuckerspender. Der Figurenautomat »Papagei« mag den zugrunde liegenden Mechanismus veranschaulichen (Kat.-Nr. 14):11 In ihrem Inneren verbirgt sich ein Magazin zur Aufnahme von (Zucker-)Kugeln, die mittels einer Mechanik durch eine Klappe am After des Tiers herausfielen. Die Funktionsweise dieser Automaten, die schon relativ früh in der Dresdner Sammlung nachweisbar sind, unterscheidet sich damit von den Trinkspielen im engeren Sinne.12 Multifunktional, bedeutungsschwer und unterhaltsam: die Trinkspiele Bei einer anderen Gruppe von Tafelautomaten handelt es sich um fürstliche Kunstkammerobjekte par excellence, die kunsthandwerkliche Fertigkeiten mit intellektuellem Anspruch vereinen. Die beiden Augsburger Globuspokale (Kat.-Nr. 25 und 26) mit den Trägerfiguren des Herkules und des Heiligen Christophorus konnten mittels eines Laufwerks im Inneren der Sockel über den Tisch fahren. Die jeweils obere Hälfte der entlang des Äquators geteilten Erd- beziehungsweise Himmelskugel ließ sich abnehmen, sodass die untere Hälfte als Trinkgefäß benutzt werden konnte. Vermutlich musste die Person, vor der der Automat zum Stehen kam, dessen Inhalt leeren – was zugleich beherztes Zugreifen wie Trinkfestigkeit erfordern würde, denn die schweren Metallgefäße fassen jeweils ganze zwei Liter. Die beiden monumentalen Goldschmiedewerke luden aber auch zu genauer Betrachtung und gelehrter Konversation ein, etwa über die Kartografie der Globen, die hochaktuellen Vorbildern folgte,13 oder aber über ihren Sinngehalt. Dem gebildeten Höfling dürfte die hohe Symbolkraft der beiden Pokale kaum entgangen sein, die mit Herkules als Tugendhelden und Christophorus als Sinnbild für den gläubigen Christen letztlich Macht und Glaubensstärke ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin preisen. Abb. 2 Tischautomat mit Diana auf dem Kentauren. Hans Jakob I. Bachmann, Augsburg, 1602–1606. Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, Inv.-Nr. 1166 »Ain schönes vhrwerck, wie Nessus dem Herculi sein weib entführet, von ganzem silber, schönen rubinen, smaragden vnd perlen geziert, geht auf ainer tafel fort, schiesset auch pfeil von sich, bewögt samt etlichen hunden kopff vnd augen.« (Hainhofer 1629 bei einem Besuch der Kunstkammer zu dem Dresdner Kentauren-Automaten, zit. n. Doering 1901, S. 168)

55 Auch wenn die beiden Globuspokale höchst qualitätsvolle Goldschmiedeplastiken stattlicher Größe repräsentieren – technisch deutlich raffinierter stellt sich ein anderes Trinkspiel dar, der Figurenautomat »Kentaur« (Kat.-Nr. 22). Es ist gleichermaßen ein Erzeugnis der Goldschmiedemetropole Augsburg, deren Werkstätten in Kooperation mit Uhrmachern oder Automatenbauern sowie Bildhauern komplexe Tafelautomaten für die anspruchsvollen europäischen Fürstenhöfe herstellten. Das Trinkspiel konnte mithilfe eines im Sockel verborgenen Laufwerks über den Tisch fahren, wobei es insgesamt eine Strecke von 2,8 Metern zurücklegte und nach 70 Zentimetern jeweils eine 90-Grad-Drehung vollzog. Darüber hinaus verfügte es nicht nur über eine Zeitanzeige, sondern hielt auch so manche Überraschung bereit: So sprang der eine Jagdhund auf und nieder und der andere drehte seinen Kopf, während der Kentaur und seine Reiterin die Augen bewegten und Ersterer einen Pfeil abschoss. Abstürze von der Tischkante konnten mittels eines Stoppmechanismus verhindert werden.14 Eine vergleichbare Funktion begegnet uns bei einem bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Schiffsautomaten des Nürnberger Schlossers Caspar Werner (gest. 1545): Wie der Schreib- und Rechenmeister Johann Neudörffer der Ältere (1497–1563) berichtet, stand auf dessen Heck ein geflügelter Putto mit Pfeil und Bogen, der »also zugerichtet [war], welchen man am Tisch wollt haben, auf denselben wendet sich das Kindlein und schoss auf ihn ab.«15 Die historische Beschreibung dieses Tafelschiffs legt tatsächlich einen spielerischen Einsatz an der Tafel nahe, bei dem der Pfeil gezielt auf einen bestimmten Gast geschossen und dieser damit möglicherweise zu einem Trinkritual aufgefordert werden konnte – ein Gebrauch, wie er auch bei dem Figurenautomaten »Kentaur« vorstellbar ist. Dieser Typus gehört mit seiner Vielfalt von Funktionen und Bewegungsabläufen zu den anspruchsvollsten seiner Art und ist nur in einem einzigen weiteren Exemplar überliefert, das sich heute im Kunsthistorischen MuseumWien befindet und in Details abweicht (Abb. 2).16 Dieses dürfte Kurfürst Christian II. von Sachsen (1583–1611) bei seinem Besuch in der Prager Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. (1552–1612) im Jahr 1607 so begeistert haben, dass er bei demselben Augsburger Meister das Dresdner Stück in Auftrag gab. Ähnliche Bewegungsabläufe kennzeichneten den Automaten mit Elefant (Kat.-Nr. 23), der bereits im Inventar der Kunstkammer von 1587 aufgeführt wurde, sich aber nur in Fragmenten erhalten hat.17 Der Dickhäuter konnte über den Tisch fahren und die Augen bewegen, während der ihn reitende »Mohr« eine Pauke schlug und ein »mohren konigk«18 von seinem Tragsessel aus einen Pfeil abschoss. Das Motiv dürfte unmittelbar auf die höfischen Feste am Dresdner Hof anspielen, wo als afrikanisch ausgegebene Verkleidungen im Rahmen von Erdteilallegorien gang und gäbe waren. Im Vergleich zu dem Kentauren- und dem Elefantenautomaten besitzt das Trinkspiel mit demHeiligen Georg als Drachentöter (Kat.-Nr. 24) einen vergleichsweise einfachen Mechanismus, Abb. 3 Trinkspiel »Diana auf demHirsch«. Mathias Walbaum (oder Umkreis), Augsburg, um 1600. Residenz München, Schatzkammer, Inv.-Nr. ResMüSch. 588 »Ein hirsch, darauf die göttin Diana sitzet, gantz von silber, undten 2 hunde ziemblicher größe, auch ein reiterlein mit kleinen hunden und etzliche silberne sträußlein, welcher durch ein uhrwergk in quadrato herumb getrieben wird.« (Kunstkammer-Inventar 1640, fol. 492 v, zu einem heute verlorenen Diana-Automaten)

56 welcher die Figurengruppe in einer größeren, längsovalen Runde über den Tisch fahren lässt, ansonsten aber keine weiteren Bewegungsabläufe steuern kann. Der Körper des Pferdes, der auf die Sockelplatte aufgesteckt, aber nicht festmontiert ist, war nach Abnahme des Kopfes als Trinkgefäß zu verwenden. Stilistisch wie technisch unmittelbar verwandt sind die ebenfalls in Augsburg entstandenen Trinkspiele mit Diana auf einem Hirsch (Abb. 3), welche die Jagd als feudales höfisches Privileg thematisieren und weitaus verbreiteter waren – knapp 30 Exemplare sind heute nachweisbar.19 Von den drei im Dresdner Kunstkammer-Inventar von 1640 aufgeführten Diana-Automaten hat sich allerdings kein einziger erhalten.20 Wie aus den Beschreibungen hervorgeht, konnten sich zwei davon im Dreieck, das Dritte im Viereck über die Tafel bewegen und – laut Hainhofers Kommentar – »zue ainem trinckgeschirr gebraucht werden.«21, denn der nur auf der Sockelplinthe aufgesteckte Leib des Hirsches war innen hohl und diente, wie der des zuvor erwähnten Pferdes, der Aufnahme von Wein. Es liegt die Vorstellung nahe, dass es der gleichzeitige Einsatz aller drei Automaten war, der Erstaunen hervorgerufen hat, wenn ihre Fahrt auf der Tafel unerwartet unterschiedlichen Mustern folgte und es bis zuletzt spannend blieb, vor wem sie letztlich Halt machten. Inszenierte Kaisermacht: die Schiffsautomaten von Hans Schlottheim Besondere Aufmerksamkeit verdient Philipp Hainhofers recht ausführliche Beschreibung eines »schiff[s], so auf ainer tafel etliche bootsleuth darinn forttreiben«, denn er nennt seinen Schöpfer: Hans Schlottheim (1547–1625), einen der erfindungsreichsten Uhrmacher seiner Zeit.22 Der aus dem sächsischen Naumburg stammende Augsburger Meister war Hainhofer gut bekannt, denn bei der Vermittlung seiner Arbeiten an fürstliche Auftraggeber hatte der gut vernetzte Patrizier großen Anteil. Schlottheims seit 1580 entstandene aufwendige Automaten erlangten bereits zu seinen Lebzeiten Berühmtheit und fanden auch Eingang in die kaiserliche Kunstkammer Rudolfs II. Der schon vor 1587 nach Dresden gelangte Schiffsautomat, den Hainhofer 1629 in der dortigen Kunstkammer bewundern konnte, wurde im 19. Jahrhundert veräußert (Abb. 4, Kat.-Nr. 15a).23 Er teilt damit sein Schicksal mit einem zweiten, sehr ähnlichen Exemplar desselben Meisters, das 1595 erstmals im Kunstkammer-Inventar erwähnt wird. Das später als »ganz verdorben«24 bezeichnete Objekt ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit identisch mit einem Schiff im British Museum in London, das sich auch heute noch in einem schlechten Erhaltungszustand befindet (Abb. 5, Kat.-Nr. 15b).25 Auch wenn die Mechanik nur unvollständig erhalten ist, lassen sich die höchst komplexen Funktionen der beiden Schiffe weitgehend rekonstruieren. Das zu den Viertelstunden und Stunden einsetzende Schlagwerk der Uhren war mit einem Mechanismus im Hauptmast gekoppelt. Eine umgedrehte Glocke, Abb. 4 Detail des Figurenautomaten »Nef de Charles Quint«. Hans Schlottheim, Augsburg, ca. 1585. Musée National de la Renaissance, Château d’Écouen, Inv.-Nr. E. Cl. 2739 »1 Vorguldt kunstreich schiff oder nave mit einer virtel und stunden schlagenden uhr, welche alle 24 stunden muß ufgezogen werden. Oben mit dreien mastbeumen, uf welchen die bußknechte in mastkorben umbgehen und die virtel und stunden uf den glöcklein mit hemmern schlagen.« (Kunstkammer-Inventar 1587, fol. 254 v)

Abb. 5 Detail des Figurenautomaten »The Mechanical Galleon«. Hans Schlottheim, Augsburg, ca. 1585. The British Museum, London, Inv.-Nr. 1866, 1030.1

80 Androiden des 18. Jahrhunderts Peter Plaßmeyer Im Unterschied zu den Automaten, die um 1600 die Kunstkammern der Fürstenhöfe füllten und erstmalig Figuren im Detail bewegen konnten, zeichneten sich die Androiden des 18. Jahrhunderts dadurch aus, dass sie selbstbewegend waren. Wenn ein Automat über den Tisch fuhr, wurde er von (Zahn-) Rädern, die aus dem Boden ragten, fortbewegt – seine Beine bewegten sich also in der Luft. Spielte eine Figur des 18. Jahrhunderts Trompete, so öffnete sie die Ventile mit den Fingern ihrer Hand und die Luft wurde über den Mund in das Mundstück des Instruments geblasen. Man versuchte, menschliche Funktionen zu simulieren. Gleichzeitig wurden sie nicht mehr als höfische Sammelobjekte konzipiert, wenngleich sie durchaus zunächst auch an den Höfen präsentiert wurden. Sie waren Marketing-Instrumente ihrer Schöpfer und wurden so populär, dass sie bis weit über deren Tod hinaus von Schaustellerfamilien an wechselnden Orten vermarktet wurden. So eroberten sie das breite Publikum, das die Automaten aus den Kunstkammern erst nach deren Auflösung erreichte. Den Androiden lagen Überlegungen von René Descartes (1596– 1650) zugrunde, die später von Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) auf den menschlichen Organismus konkretisiert wurden. Descartes verglich den menschlichen Organismus mit einer Mechanik. Seine 1632 entstandene »Abhandlung über den Menschen« (»Traité de l’homme«) erschien erst nach seinem Tod 1662 (»De homine«). De la Mettrie führte diese Überlegungen weiter und betrachtete den Menschen als eine mechanische Maschine, die sich selbst steuert.1 In beider Folge starteten Versuche, den Organismus als Ganzen wie auch einzelne seiner Funktionen mithilfe der Mechanik nachzubauen. Dabei scheinen De la Mettries 1748 erschienene Schrift »L’Homme Machine« und seine unmittelbaren Kontakte zu französischen Mechanikern einflussreicher. An fünf Beispielen soll dargelegt werden, welche Intentionen hinter den Automaten des 18. Jahrhunderts standen. Den Anfang machen drei Automaten aus der Werkstatt eines aus La Chaux-de-Fonds in der Schweiz stammenden Uhrmachers, dem die Automaten zu Ruhm verhalfen und die das Repertoire einer klassischen Uhrmacherwerkstatt erweiterten. S I CH SELBST BEWEGENDE AUTOMATEN UND DER VERSUCH DER PERFEKTEN IMI TAT ION

Abb. 1 Rückansicht des »Schreibers« (frz. »L’Ecrivain«). Automat von Pierre Jacquet-Droz, seinem Sohn Henri-Louis und Jean-Frédéric Leschot, La Chaux-de-Fonds, zwischen 1768 und 1774. Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel, Inv.-Nr. AA2

82 Jaquet-Droz: Schreiber, Zeichner und Musikerin Zu den herausragenden Automaten ihrer Zeit gehören die drei Automaten der Schweizer Uhrmacherdynastie Jaquet-Droz: ein Schreiber, ein Zeichner und eine Musikerin (Abb. 2).2 Die Knaben waren noch jung an Jahren, die Musikerin etwas älter, adrett gekleidet, so stellte man sich »Wunderkinder« vor und wohl auch den jungen Mozart, wie er vor den Regenten in den europäischen Metropolen auftrat. Der Schreiber kann jeden beliebigen Text bis maximal 40 Zeichen mit einer Tintenfeder schreiben, dabei folgt er dem Lauf der Feder mit seinen Augen. Der Text kann geändert werden, indem die Nockenscheiben im Körper des Schreibers gewechselt werden. Von den drei Automaten besitzt er den kompliziertesten Mechanismus, dabei ist die gesamte Mechanik im Körper des Knaben eingebaut (Abb. 1). Sie verfügt über zwei Räderwerke, die sich gegenseitig auslösen. Im oberen Teil des Körpers ist der Mechanismus untergebracht, der die Hand mit der Feder steuert. Dabei wird jeweils eine der waagerecht liegenden Nocken abgetastet. Nach einer Umdrehung kommt der zweite Mechanismus ins Spiel, der die Abtastung zur Nocke für den folgenden Buchstaben befördert und bestimmte Bewegungen steuert, wie den Zeilenwechsel und das Nachfassen der Tinte. Der Zeichner funktioniert ähnlich. Er kann zwischen vier Motiven wechseln, benutzt aber statt der Tintenfeder einen Bleistift. Den Staub des Bleistifts bläst der Zeichner regelmäßig vom Blatt. Auch hier lassen sich die Nockenscheibensätze in seinem Körper tauschen. Es sind drei an der Zahl. Auf einem befinden sich ein Porträt Ludwigs XV. und der Hund TouTou, auf einem weiteren der englische König Georg III. und seine Gemahlin und auf dem dritten ein von einem Schmetterling gezogener Wagen. Als letzter dieser Automaten entstand die Musikerin. Sie spielt ein Harpsichord, ein dem Harmonium verwandtes Tasteninstrument. Die Tasten betätigt sie mit ihren Fingern, mit dem Kopf blickt sie immer wieder zum Publikum und den Brustkorb hebt und senkt sie, als würde sie atmen. Zum Abschluss ihres Vortrags nickt sie den Gästen zu. Fünf Musikstücke wurden eigens für diesen Automaten komponiert und sind auf einer Stiftenwalze notiert. Die Hersteller der Automaten waren der Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz (1721–1790), sein Sohn Henri-Louis (1752– 1791) und sein Mitarbeiter Jean-Frédéric Leschot (1746–1824). Sie bauten die Androiden zwischen 1768 und 1774. Pierre Jaquet-­ Droz begann zunächst ein Theologiestudium in Basel, um dann aber doch zwischen 1740 und 1747 in La Chaux-de-Fonds Uhrmacher und Mechaniker zu werden. Jean-Fréderic Leschot war sein Schüler und später Teilhaber der Firma, die er nach Pierres Tod weiterführte.3 Abb. 2 Zusammenstellung der drei erhaltenen Jaquet-Droz-­ Automaten: Der Zeichner, die Musikerin und der Schreiber. Pierre und Henri-­ Louis Jacquet-Droz sowie Jean-Frédéric Leschot, La Chaux-de-Fonds, zwischen 1768 und 1774. Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel, Inv.-Nr. AA3, AA1 und AA2

83 Abb. 3 Einst vom »Schreiber«-­ Automaten in Dresden verfasst. Dresden, 2. Hälfte 19. Jahrhundert. Abgedruckt in: Platzhoff-Lejeune 1906, S. 529 Abb. 4 Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Verbildlichung der vermeintlichen Funktionsweise der mechanischen Ente von Jacques de Vaucanson. Abgedruckt in: Bley 1899 Ihren ersten Auftritt hatten die Automaten 1774 in La Chaux-deFonds, ein Jahr später wurden sie in Paris gezeigt. 1787 erwarben sie spanische Schausteller, tauchten aber erst wieder in den 1830er-Jahren als Attraktion eines tourenden Illusionstheaters auf.4 Etwa 100 Jahre tourten die drei Androiden durch Europa und entzückten zunächst die Fürstenhöfe und später die Jahrmärkte. 1894 sind die Automaten im Besitz einer Familie Martin in Dresden nachgewiesen, die sie wahrscheinlich schon vor 1850 in Paris erwarb (Abb. 3). Diese verkaufte sie etwa 1896 an den Berliner Kunsthändler und Sammler Carl Marfels, der die Automaten gemeinsammit seiner Uhrensammlung in Neuchâtel ausstellte. Im Anschluss an die Ausstellung wurden die Automaten durch eine gemeinsame Initiative der historisch-archäologischen Gesellschaft, der Stadt Neuchâtel, des Kantons und des Bundes erworben und sind bis heute im Musée d’Art et d’Histoire in Neuchâtel ausgestellt. Großen Einfluss auf diese Automaten hatten diejenigen von Jacques de Vaucanson, dessen Ente zu den legendären mechanischen Organismen zählt.5 Vaucanson: Ente, Flötenspieler, Trommler »Junger Mann, Sie fangen dort an, wo ich aufgehört habe […]«6, so soll Jacques de Vaucanson (1709–1782) zu Pierre Jaquet-Droz gesprochen haben, als er dessen Androiden das erste Mal sah. Dabei hatte er vor allem den Bewegungsmechanismus der Glieder genauestens untersucht. Jaquet-Droz’ Automaten unterschieden sich in einem entscheidenden Punkt von denen Vaucansons: Ihre Mechanik befand sich in ihrem Körper und nicht in einem monumentalen Sockel. Im Zentrum von Vaucansons Automaten steht eine Ente, etwa lebensgroß. Da ihre Mechanik, die aus mehr als 1 000 Einzelteilen bestand,7 irgendwo Platz finden musste, ist ihr Aktionsradius eingeschränkt, denn sie steht auf einem Sockel. Von keinem der drei Automaten Vaucansons gibt es Fotografien im vollständigen Zustand, nur Zeichnungen und Beschreibungen regen unsere Fantasie an (Abb. 4). Zunächst baute Vaucanson einen Flötenspieler und einen trommelnden Schäfer. Vaucanson spielte selbst die Flöte und hatte den Anspruch, eine Figur zu schaffen, die das Instrument über den Luftstrom aus dem Mund zum Klingen bringen und mit den Fingern die Ventile der Flöte öffnen und schließen konnte. Der Musiker konnte drei Oktaven spielen, wobei für jede Oktave der Ansatz des Mundes verändert werden musste. Was der Automat nicht schaffte, war das Modulieren des Tones. Der Flötenspieler saß auf einem Felsen, der wiederum auf einem Säulenstumpf stand, in dem sich die Mechanik befand.8 Er konnte zwölf sehr einfache Stücke spielen. Der Schäfer spielte mit der linken Hand eine typische provenzalische Pfeife mit drei Löchern, während er mit der rechten auf einer Langtrommel den Takt schlug. Sein Repertoire bestand aus Arien, Tänzen und Rigadous.9

Abb. 5 Titelkupfer zu Vaucansons »Beschreibung eines mechanischen Kunst-Stucks und Avtomatischen Flöten-­ Spielers« (Vaucanson 1748). Hubert-François Gravelot, 1748. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, TREW1759

85 Abb. 6 Fotografie der mutmaßlichen mechanischen Ente von Jacques de Vaucanson. Etwa 1840. Musée des arts et métiers-Cnam, Archive N.C. Pièce 9 Die Ente stand auf einemmächtigen Sockel, der den größten Teil des Antriebsmechanismus barg (Abb. 5). Vielen Beschreibungen können wir entnehmen, dass sie mit den Flügeln schlagen, die Federn sträuben, schnattern, Körner picken, Wasser trinken, verdauen und eine naturgetreue grünlich-breiige Konsistenz ausscheiden konnte.10 1738 wurden die Automaten der Akademie der Wissenschaften in Paris präsentiert, die den Flötenspieler genau untersuchten ließ.11 »Zuerst wollten viele Leute nicht glauben, dass die Töne tatsächlich aus der Flöte kamen, die der Automat in Händen hielt, und nicht von einer Orgel im Inneren der Figur, aber bald waren selbst die größten Skeptiker überzeugt, dass der Automat tatsächlich die Flöte blies und der Atem über seine Lippen kam, und die Bewegungen seiner Finger für die verschiedenen Töne verantwortlich waren«, schrieb Rigollay de Juvigny über eine der Vorstellungen.12 Vaucanson selbst hatte eine technisch detaillierte Beschreibung des Flötenspielers und der Trommlers veröffentlicht, den inneren Mechanismus der Ente hielt er stets geheim.13 1740 sahen sie mehr als 2 000 Gäste im Hôtel de Longueville, wo die Automaten für zwei Monate ausgestellt waren. Auch Voltaire befand sich unter ihnen und berichtete umgehend dem preußischen Kronprinzen Friedrich, der Vaucanson kurz nach seinem Regierungsantritt nach Berlin holen wollte. Er wurde aber im selben Jahr zum Inspektor der Seidenmanufakturen des Königreichs ernannt und führte den mechanischen Webstuhl ein.14 Vaucanson verkaufte die Automaten an drei Geschäftsleute aus Lyon. 1742 waren sie im Haymarket Opera House in London zu sehen, 1746 in Straßburg, 1747 in Hamburg. In der Folge wechselten sie wiederholt den Besitzer, bis sie 1781 bei Gottfried Christoph Beireis (1730–1809), Professor an der Universität Helmstedt und Raritätensammler, landeten.15 1805 besuchte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) Beireis wegen der Automaten in Helmstedt und beschrieb seinen Eindruck: »Die Vaucansonischen Automaten fanden wir durchaus paralysiert. In einem alten Gartenhause saß der Flötenspieler in sehr unscheinbaren Kleidern; aber er flötete nicht mehr […]. Die Ente, unbefiedert, stand als Gerippe da, fraß den Haber noch ganz munter, verdaute jedoch nicht mehr. An allem dem ward er aber keineswegs irre, sondern sprach von diesen veralteten, halbzerstörten Dingen mit solchem Behagen und so wichtigem Ausdruck, als wenn seit jener Zeit die höhere Mechanik nichts frisches Bedeutenderes hervorgebracht hätte.«16 Nach Beireis’ Tod 1809 ging die Odyssee der Automaten weiter. 1879 wurde die Ente bei einem Brand in Russland zerstört. Von der Ente sind ein paar Fotografien erhalten, die sich heute im Musée des Arts et Métiers in Paris befinden und den handschriftlichen Vermerk »Ansichten der Ente von Vaucanson erhalten aus Dresden« tragen (Abb. 6). Sie sollen etwa 1840 entstanden sein.17 »Sie [die Ente] strecket ihren Halß in die Höhe, um Körner aus der Hand zu nehmen, sie verschluckt, verdauet, und giebt das verschluckte durch die gewöhnliche Wege, nachdem sie es verdauet hat, wieder von sich. […] Die in dem Magen verdauete Materie wird durch Röhren, wie bey einem Thiere durch seine Gedärme, in den Hindern abgeführt, allwo eine Oefnnung ist, durch welche das verdauete einen Ausgang findet.« (Vaucanson 1748, S. 21)

130 Lars Rebehn Was ist eigentlich ein Theatrum mundi oder Welttheater? Im späten 19. Jahrhundert hätte man diese Frage nicht stellen müssen. Die meisten Menschen hatten es selbst auf einem Jahrmarkt oder in einem Theatersaal erlebt. Um es einfacher zu machen, stellen wir die Frage, was es nicht ist: Es ist weder ein historisches Ereignis meist kriegerischer Natur gemeint, noch eine überspitzte Bezeichnung für höfisches Leben im Barock oder ein literarisches Werk mit umfassendem Anspruch.1 Vielmehr bezeichnet es eine spezielle Form der darstellenden Künste. In einem Theatrum mundi werden perspektivische Ansichten von Landschaften und Städten gezeigt, belebt durch sich veränderndes Licht und sich bewegende Menschen, Tiere und Fahrzeuge (Abb. 1). Grundidee der Aufführung ist die perfekte Illusion, die Schaffung einer künstlichen Welt (Abb. 2). Die Figuren aus Pappe, Holz oder Blech mit einer Höhe von gewöhnlich zehn bis 40 Zentimetern wurden auf eine von meist sechs hintereinander angeordneten Schienen gesetzt und durch ein sich darin drehendes Laufband mit Kurbeln bewegt (Abb. 3). Die Kulissen waren überwiegend aus Pappe hergestellt, in ihren Umrissen ausgeschnitten und illusionistisch bemalt. Manche dieser Theater hatten eine Breite von bis zu fünf Metern und konnten so gleichzeitig von bis zu 500 Personen im Zuschauerraum gut betrachtet werden (Abb. 4 und 5). Entstanden in der Hochzeit des Barock, erfreuten sich diese Theater bis um 1900 in ganz Europa einer großen Beliebtheit. Der Gründer der Dresdner Puppentheatersammlung, Otto Link (1888–1959), nannte sie »Die Wochenschau des 19. Jahrhunderts«. Neben Genreszenen mit Sommer- und Winterlandschaften, Volksfesten und berühmten Städten wurden gern Naturkatastrophen und insbesondere Land- und Seeschlachten gezeigt. Nur mit der Aktualität haperte es ein wenig, da ja zunächst Kulissen und passende Figuren hergestellt werden mussten. Dafür wurden gewöhnlich mehrere Wochen benötigt.2 Das Theatrum mundi oder: Die Welt im Kleinen

Abb. 1 Preußischer Ulan zu Pferde aus dem Deutsch-Französischen Krieg. Figur aus dem Theatrum mundi von Richard Bonesky (1867–1930). Das Pferd konnte sich aufbäumen, der Reiter ausgewechselt werden. SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. A 8490,1-2

132 Abb. 2 Funktionsfähige Rekonstruktion einer Theatrum-mundi-­ Szene, Radebeul, 1999 Abb. 3 Einsicht in das Theatrum mundi »Venedig« von Max Kressig junior. Reproduktion nach einem Foto von 1930. SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. 477 b Perspektivische Ansichten mit mechanischen Figuren hatte es schon im 16. Jahrhundert gegeben. Diese wurden vermutlich mit Kurbeln oder Gewichten angetrieben und hatten eine »Programmierung« auf einer Walze oder Nockenwellen. Solche »Figurenwerke« waren klein, boten nur wenig Zuschauenden eine freie Sicht, waren kostspielig, empfindlich, schwer zu transportieren und boten auch nur wenig Abwechslung.3 Erfinder des Theatrummundi war vermutlich der kaiserlich-privilegierte Maschinenmeister Johann Samuel Brede (auch Breede oder Breda) aus Hamburg. Über seinen Werdegang wissen wir wenig. Erstmals ist er 1710 zur Messe in Frankfurt am Main nachweisbar, dann 1719 in Solothurn und Zürich in der Schweiz. Zur Leipziger Michaelismesse 1721 gastierte er in Zotens Hof in der Nicolaistraße, anschließend im Neustädter Gewandhaus in Dresden.4 Nach eigenen Angaben hatte er zuvor ganz Westeuropa bereist. »[E]s nennet dieser Künstler diese Maschine: Un Theatre des vues & perspectives, oder einen natürlichen Schauplatz der Welt, und siehet man darinnen die anmuthigsten Prospecten und Ausbildungen, so nirgends anzutreffen, in Specie aber erscheinet aus darzu inventirten Machinen, unter andern die Dämmerung, wenn die Sonne untergegangen, und auffgehen will, die Abwechselung des Mond-Scheins, der Himmel mit Mond und Sternen gezieret, da das ab- und zunehmende Licht des Mondes, vom ersten Vierthel bis zum vollen Schein, und dann wieder bis zum letzten Vierthel zu sehen. […] Noch mehrere Curiositäten werden in dieser Machine denen Augen so exact mit aller Zierlichkeit vorgestellet, daß ein jeder gestehen muß, nichts dergleichen gesehen zu haben. Es haben viele Potentaten diesem

Abb. 4 Oswald Bäßler vor seiner Marionettenbühne mit dem Theatrum mundi »Völkerschlacht bei Leipzig« im Hintergrund, Chemnitz, 1906. Der Bühnenausschnitt beträgt zwei mal fünf Meter, die Tiefe etwa fünf Meter. SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. 163 Abb. 5 Szene aus dem Theatrum mundi »Roßwein im Winter« von Bruno Wünsch. Roßwein, 1920er-Jahre. SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. 2845 d

134 Künstler ansehnl. Summen Geldes gebothen, nur die innere Structure zu zeigen, er hat aber solches mit aller Gelassenheit revociret.«5 Über seinen Besuch in Breslau zu Jahresbeginn 1722 liegen weitere Details vor. Die Aufführung im Ballhaus wurde von einem Augenzeugen »ex avtopsia« in einer wissenschaftlichen Zeitschrift ausführlich beschrieben. »Vor dem Aufzug war ein ziemlich weiter Platz auf dem Theatro, daß man auch mit keinem Stabe leichtlich an die Gardine langen konte. Die Oefnung mochte etwan 3. Ellen in die Länge, und 2 Ellen in die Höhe haben.6 Vor der Gardine hingen zu beyden Seiten Aufziehe-Leuchter, ieder mit 5. oder 6. Lichtern, die, wenn das Spectacul geöffnet werden solte, in die Höhe unter eine runde Capsul gezogen, und also das Licht verstecket wurde, daß es alsdenn gantz finster auf und vor dem Theatro war, wornach die Gardine aufgezogen, und das Perspectiv geöffnet wurde. In dieses Werck nun sahe man, wie durch einen Flohr [= Schleier, Anm. d. Verf.], ins Demmriche, und da præsentirete sich die Vestung oder Stadt im Perspektiv gar angenehm, doch ziemlich dunckel, gleichwol erkenntlich. […] Der Himmel selbst schien convex oder concav, und in den ersten 2. Phasibus præsentirete sich die Abend-Demmerung hinter der Vestung Batavia oder dem Schloß Friedrichsburg seitwärts gen West röthlich, und ziemlich natürlich; so wie in den letzten zweyen die Morgenröthe Ostlich auf die gleiche Weise. Der Mond præsentirete sich gehörnt und voll durch den Himmel in einem accuraten Ausschnitt, in einem gelb-röthlichen Schein, doch nicht, wie nach der Natur, etwas lichter um denselben, als im übrigen Horizont. Die Vestung und was um und an selbiger lag, sahe man vertiefft oder perspectivisch und demmrich. Bey den See-Vestungen kamen von beyden Seiten Schiffe, mit unbeweglichen, doch gespanneten Seegeln langsam daher, doch ohne See-ähnliche Motitation, sondern gantz gleiche und stille hin: Auf selbigen fuhr, gleich als zu den Schuß-Löchern ein helles Feuer heraus mit Rauch nach Art einer Canone, und darauf (nach Proportion der Weite,) folgte ein ho[h]ler Thon, wie wenn man eine Canone in der Ferne hörete, nur daß der Thon im kleinen muß verstanden werden, und in die Weite. In dieser Beschaffenheit antwortete die Vestung mit 3. 6. oder mehr Schüssen, die nach Proportion der Entlegenheit langsamer und schwächer, oder contra zu hören waren. Und so gieng es auch mit denen entgegen kommenden Schiffen, die einander mit der so genannten feurigen Begrüssung complimentireten.«7 Gezeigt wurden unter anderen Glasgow, Rom, der dänische Sund mit Helsingør und Helsingborg, Versailles, Dresden, das dänische Schloss Frederiksborg, Brüssel, Bordeaux, eine Tiroler Gebirgslandschaft, Alexandria in Ägypten und Batavia auf Java. Die einzelnen Szenen dauerten jeweils etwa zehn Minuten. Zwischendurch wurde der Saal erleuchtet und Musik gespielt. Eine Vorstellung bestand aus fünf verschiedenen Szenen, die in größeren Städten zwei Mal am Tag wiederholt wurden. Dies bedeutete aber auch, dass zwischen den Vorstellungen alle Dinge wieder auf ihren Platz mussten, dass die Lampen geputzt und Abb. 6 Fahrradkurier für Gebr. Pfund, Dresden-Neustadt. Figur aus dem Theatrum mundi von Heinrich Apel senior (1875–1920) und Heinrich Apel junior (1895–1975). SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. 25483 »Neue Stücke, Garderobe und Dekorationen, sowie interessante Nachspiele bestehend in englischen Fantochens und Methamorphosen-Figuren und Theatrum mundis werden wir zur größten Zufriedenheit des Publikums aufführen. Da die Eintrittspreise sehr gering sind, so kann sich jeder einen recht vergnügten Abend bereiten.« (Löbtauer Anzeiger, 30. 8. 1896)

135 Abb. 7 Frau mit Korb. Theatrum-­ mundi-Figur aus dem Theater Büttner, Sachsen, um1890. SKD, Puppentheatersammlung, Inv.-Nr. A 3546 Pyrotechnik ergänzt wurden. Sicherlich wurde auch während der Aktion auf der Bühne Musik gespielt. In jedem Fall gab es ein großes Repertoire an Geräuschen. In fast allen Szenen überquerten Boote, Schiffe oder Schlitten die Bühne. Die Figuren selbst hatten noch keine beweglichen Elemente. »Die Festungs- und anderer Plätze Figuren sollen von gepaptem Papiere gemacht und aufgerichtet seyn. Die Schiffe werden vermuthlich in einem subtilen Faden oder Haare gezogen oder geführt, daher sie auch nur ein gleich Mouvement machen: Wie auch die Schwäne.«8 Im Gegensatz zu den vermuteten »subtilen« Fäden ist davon auszugehen, dass sich die Figuren und Fahrzeuge bereits bei Brede auf Laufbändern in Schienen fortbewegten. Das Besondere an Bredes Erfindung war, dass er für alle Szenenbilder den gleichen Unterbau, Hintergrund und Bühnentechnik verwendete. Es mussten also jeweils nur die Kulissen und die Figuren ausgetauscht werden. Diese waren aus Pappe und daher preiswert herzustellen und leicht zu transportieren. So konnte er ein großes Repertoire aufbauen und sich vor allem auf die Lichteffekte konzentrieren. Von Breslau reiste Brede nach Leipzig zur Michaelismesse, zur Ostermesse 1723 nach Frankfurt amMain und weiter nach Köln und Hamburg, wo er mit seiner »Weld-Machine« im Oktober des Jahres letztmalig nachweisbar ist.9 Die Witwe Anna Maria Brede gastierte 1732 in Berlin (auf dem Rathaus) und Dresden (im Breyhahn-Haus), schließlich 1733 in Wien. Hier wird das Unternehmen erstmals als Theatrum mundi bezeichnet. Dann verlieren sich seine Spuren.10 Insbesondere die Gastspiele in Leipzig waren nicht ohne Einfluss auf andere Künstler geblieben. Eine erste Nachbildung schuf Johann Gottfried Platzer in Leipzig und führte diese im März 1723 dem Kurfürsten August dem Starken vor. »Allein, ohngeachtet derselbe so rar damit gewesen, so hat sich demnach in Leipzig ein berühmter Mechanicus und Mathematicus Herr Johann Gottfried Placer gefunden, welcher durch penetrantes Nachsinnen und Nachgrübeln die Arcana directionis und investionis dieser Machine glücklich gefunden, und durch Gottes Gnade eine dergleichen Machine völlig verfertiget, die jene in verschiedenen Stücken annoch übertrifft [...]«11 Gelobt wurden vor allem die bessere Beleuchtung sowie die differenzierteren Geräusche im Vergleich zu Brede. Zur gleichen Zeit präsentierte auch der »Universitäts-Laquirer in Halle« Johann Georg Tietz seinen Schauplatz der Welt, der verschiedene Verbesserungen enthalten haben soll. Er wollte diese zu einem »billigen Preis« verkaufen.12 Weder von Platzer noch Tietz hörte man in diesem Zusammenhang wieder etwas. Das eine war die Konstruktion eines solchen Theaters, das andere die Organisation der Aufführungen und das Finden eines zahlungskräftigen Publikums. Daher ist das Unternehmen von Johann Ferdinand Beck umso bemerkenswerter. Der ehemalige Marionettenspieler und jetzige Schauspielprinzipal kreuzte nachweislich 1721 und 1722 die Wege von Brede in Leipzig. Er ließ sich dann von einem »Meister« (Brede selbst?) eine Weltmaschine

180 Bereits antike Mythen zeugen vom Wunsch der Menschen, künstliche Lebewesen zu schaffen. Im 18. Jahrhundert hatte die Uhrmacherkunst den Stand erreicht, dass mechanische Automaten in Form von nachgebildeten Tieren und Menschen ihren Vorbildern verblüffend ähnlich sahen. Mit Blick auf die faszinierenden Mechanismen stellte der deutsche Arzt, Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894) in einem Vortrag von 1854 die Frage, inwieweit die herausragenden Fähigkeiten der Mechaniker Auswirkungen auf den Maschinenbau jener Zeit hatten: »Das Staunen des vorigen [18.] Jahrhunderts waren Vaucanson’s Ente, welche frass und verdaute, desselben Meisters Flötenspieler, der alle Finger richtig bewegte, der schreibende Knabe des älteren und die Klavierspielerin des jüngeren Droz, welche letztere beim Spiele ihren Händen auch gleichzeitig mit den Augen folgte, und nach beendeter Kunstleistung aufstand, um der Gesellschaft eine höfliche Verbeugung zu machen. Es würde unbegreiflich sein, dass Männer, wie die genannten, deren Talent sich mit den erfindungsreichsten Köpfen unseres Jahrhunderts messen kann, eine so ungeheure Zeit und Mühe, einen solchen Aufwand von Scharfsinn an die Ausführung solcher Automaten hätten wenden können, die uns nur als eine äusserst kindliche Spielerei erscheinen, wenn sie nicht gehofft hätten, dieselbe Aufgabe [die Ergründung des Lebens; Anm. d. Verf.] auch in wirklichem Ernste lösen zu können [...] Das Ziel also, welches sich die erfinderischen Köpfe der vergangenen Jahrhunderte [...] vorsteckten, war kühn gewählt und wurde mit einem Aufwande von Scharfsinn verfolgt, der nicht wenig zur Bereicherung der mechanischen Mittel beigetragen hat, mit deren Hilfe die spätere Zeit einen fruchtbringenderen Weg zu verfolgen verstand.« Nach dieser Analyse formulierte Helmholtz als zukünftige Aufgaben für den Berufsstand der Ingenieure: »Wir suchen jetzt nicht mehr solche Maschinen zu bauen, welche die tausend verschiedenen Dienstleistungen eines Menschen vollziehen, sondern verlangen im Gegentheil, dass eine Maschine eine Dienstleistung, aber an Stelle von tausend Menschen, verrichte.«1 Helmholtz nahm hier offensichtlich die maschinelle Produktion in den Blick, hatte doch die Industrialisierung die Zielsetzung technischer Entwicklungen radikal verändert. Nicht mehr die Nachahmung eines Lebewesens und dessen Bewegungen durch mechanische Automaten oder die Perfektionierung künstlicher Kreaturen stand im Mittelpunkt, sondern die Konstruktion von Maschinen, die die Arbeit schneller und zuverlässiger ausführen konnten als Menschen. Frank Dittmann Das Leben als Vorbild DER LANGE WEG ZUR MODERNEN ROBOT I K

Abb. 1 Statue des Maschinenmenschen aus Fritz Langs Metropolis. Walter Schulze-­ Mittendorff, Nachbau, 1972. WSM Art Metropolis, Bertina Schulze-Mittendorff »Nun, Joh Fredersen -?! Lohnt es sich nicht, eine Hand zu verlieren, um den Menschen der Zukunft – den Maschinen-Menschen – geschaffen zu haben -?!« (Der Erfinder Rotwang stellt ­ seinen Maschinenmenschen dem Herrscher von Metropolis vor. Filmzitat aus: Metropolis, 1927)

182 Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Literatur In die forcierte technische Entwicklung gingen viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Eines dieser Phänomene war die Elektrizität. Kannte man im 18. Jahrhundert lediglich die Elektrostatik, die – vorgeführt in spektakulären Präsentationen – große Aufmerksamkeit auf sich zog, stand nach 1800 mit der Voltaischen Säule eine Quelle für elektrischen Strom zur Verfügung, wie wir ihn heute kennen und vielfach nutzen. Aufsehenerregende Experimente an toten Tierkörpern und menschlichen Leichen zeigten, dass Elektrizität Muskelbewegungen auslösen kann. Bald wurden damit neue chemische Elemente entdeckt sowie Nachrichten über weite Entfernungen übertragen; Elektrizität ermöglichte die Erzeugung eines bis dahin ungekannten hellen Lichtes und bald wurde klar, dass sie sich auch zum Energietransport eignete. Daher kann es nicht verwundern, dass diese Phänomene rasch Eingang in Literatur und Kunst fanden, wobei sich Realität und Fiktion verwoben. So wird etwa das künstliche Wesen im Roman Frankenstein,2 den Mary W. Shelley (1797–1851) im Alter von 21 Jahren 1818 veröffentlichte, durch Elektrizität belebt, während Rabbi Löw der Legende nach im Prag des 16. Jahrhunderts für den von ihm geschaffenen Golem noch Magie einsetzen musste.3 Auch der amerikanische Erfinder Thomas A. Edison (1847–1931), eine der herausragenden Personen der jungen Elektroindustrie, avancierte zur Hauptfigur in einem 1886 erschienenen satirischen Roman.4 Darin bittet ihn ein junger englischer Lord aus enttäuschter Liebe, eine perfekte Frau zu erschaffen, die einen makellosen Körper mit hohem Intellekt vereint. Man mag diese Geschichte als pubertäre Männerfantasie abtun, aber man kann sie auch als Frage nach möglichen Perfektionierungsstrategien diskutieren, die uns heute angesichts der modernen Vermessungs- und Selbstoptimierungstechniken gar nicht so fremd sind. Die aufstrebende Elektrotechnik bot ein großes Potenzial für neue technische Lösungen, in deren Beschreibung auch auf biologische Metaphern zurückgegriffen wurde. So stellte etwa 1916 der amerikanische Ingenieur Benjamin Miessner (1890–1976) in einer Monografie zur Funkfernsteuerung von Torpedos einen »elektrischen Hund« vor.5 Mit zwei lichtempfindlichen Selenzellen ausgestattet, folgte dieser dem Licht. Auf der gleichen Technik beruhten etwa 40 Jahre später auch die »Schildkröten«, mit denen der Neurophysiologe William Grey Walter (1910–1977) die Lernfähigkeit von Lebewesen demonstrieren wollte.6 Miessner hatte im erwähnten Buch das Ziel formuliert, rasch zu einem »dog of war« zu kommen, der emotionslos und unerbittlich kämpfen könne, was mitten im Ersten Weltkrieg, in den die USA 1917 eintraten, nicht verwundert. Hier scheint bereits auf, was heute offensichtlich ist, nämlich, dass das Militär ein großes Interesse an der Robotik hat. 1918 tauchten in amerikanischen Zeitschriften Berichte von Robotersoldaten auf.7 Deren Autor Hugo Gernsback (1884–1967) absolvierte ein technisches Studium am Rheinischen Technikum in Bingen Abb. 2 The Automatic Soldier. 1918. Cover der Zeitschrift Electrical Experimenter, Vol. VI, No. 66, October 1918, No. 6 »Our front cover as well as the accompanying illustration shows the device clearly. The automatic ›soldier‹ briefly consists of a special double steel cylinder made of shell-proof Tungsten steel or the like. There is one outer, stationary cylinder and a second inner cylinder, the latter telescoping into the stationary one. The entire device is set into trenches as shown in our illustration, the contrivance taking the place of a human soldier.« (Gernsback 1918, S. 372)

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1