Leseprobe

126 Text und Sprache Dawn’s Clouds 1977 Papierrelief 997×703×12 mm 27 Nevelson hatte bereits in den 1950er Jahren begonnen, weg- geworfene hölzerne Alltagsgegenstände zu abstrakten Kom- positionen zusammenzufügen. 3 Treppenbaluster, Zierleisten, Lattenkisten, Nudelhölzer, Regenschirmgriffe und viele andere objets trouvés wurden dafür in einzelnen Holzkisten gruppiert und einheitlich in Schwarz (später Weiß oder Gold) gefasst. Die monochromatische Farbfassung löst das Fundstück aus seiner Geschichte, auch aus seiner ehema­ ligen Funktion und verwandelt es in ‚reine‘ Form. Noch stär- ker gilt dies für die Papierreliefs, in denen beim Abdruck auch die heterogenen Oberflächen und das einstige Material transzendiert und unter einer Papierhaut zusammengefasst zu etwas Neuem, Eigenem werden. Wie bei George Segals Gipsen / Kat.11, S. 77 löst sich das Individuelle im Allgemeinen auf. Da Dawn’s Clouds aus mehreren viereckigen Modulen zusammengesetzt ist, die vom Spiel aus Licht und Schatten reizvoll belebt werden, sind die Einzelformen wie in regel­ mäßigen Zeilen angeordnet. Formal erinnert das Gefüge daher überraschend an Schrift oder Text, die Einzelformen an Ideogramme, deren Lesbarkeit sich wie bei Relikten einer uns fremd gewordenen Kultur entzieht. 1 Vgl. Baro 1974, S. 9–14; Johnson 1980, S. 130–133; Weyl 2019, S. 1–3. 2 Vgl. Carrier 1998, S. 45. 3 Vgl. Glimcher 1972, S. 77–79; Deeb Speaks 2007, S. 96–99. Louise Nevelson Perejaslaw, Russland, heute Ukraine, 1899 – 1988 New York Bis heute ist Louise Nevelson vor allem für ihre Skulpturen bekannt, dabei schuf sie seit den frühen 1950er Jahren mit großer Experimentierfreude ein ebenso beachtliches druckgrafisches Œuvre. Schon im New Yorker Atelier 17 von Stanley William Hayter kombinierte sie Anfang der 1950er Jahre unterschiedliche Techniken, ritzte Linien mit dem Dosenöffner in die Metallplatte oder presste reich strukturierte Spitzenstoffe in den Weichgrund. 1 Ein Inter- esse an Textur, an Oberflächen blieb über alle Jahre beste- hen und prägt insbesondere die vervielfältigten Objekte der 1970er Jahre. Dawn’s Clouds ist ein solches Werk; es ent- stand 1977 gemeinsam mit Garner Tullis in San Francisco. Nevelson setzte dafür zunächst einzelne Holzelemente zu einem flachen Relief zusammen, schickte dieses zu Tullis, der es als Negativ in Silikon abformte. 2 Dieses Modell wurde sodann mit flüssigem Papierbrei ausgegossen, der sich als Relief verfestigte. Skulptur und (multiples) Papierobjekt stehen daher in enger Beziehung zueinander.

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