Leseprobe

Zur Einordnung in die Kunst Augsburgs 69 nur bedingt gerechtfertigt – entsprach doch das kleinteilige Thema in der monumentalen Rahmung sicherlich dem Willen des Auftraggebers. Wirkliche Gestaltungsfreiheit bestand für den Auftragnehmer wohl nur im oberen Reta- belaufsatz und dessen Zierrat. Die bemängelte Unaus­ gewogenheit zwischen der Retabelarchitektur und den Bildwerken im Mittelteil offenbart vielleicht ein generelles Gestaltungsproblem der Augsburger Steinaltäre dieser Zeit. Auch bei dem Wolfstein-Altar in Eichstätt oder dem ehe- maligen Tabernakel in der Augsburger Magdalenenkirche erscheinen die meist unterlebensgroßen Skulpturen gegen- über der mächtigen Steinarchitektur marginalisiert. 127 Wahrscheinlich waren den Skulpturengrößen durch die verfügbaren Blockgrößen des bevorzugten sehr hellen Bild- hauersteins und deren noch handhabbare Gewichte mate- rialbedingte Grenzen gesetzt. In Annaberg wird der eigen- tümliche Eindruck scheinbar zu klein konzipierter Figuren durch die ungenügend aufeinander abgestimmten Größen der Retabelfiguren noch verstärkt. Zugleich verstand es aber die Daucher-Werkstatt, die wuchtige Wirkung der großen Architekturglieder durch Ornamente, Inkrustationen und die verschiedenfarbigen, teils lebhaft strukturierten Natur- steine zu brechen. Die Herstellung eines großen Steinaltars dauerte länger und war materialbedingt erheblich teurer als ein geschnitz- tes Retabel – insbesondere, wenn seltene Steine Verwen- dung fanden. Doch die Auftragslage in der reichen Banki- ers- und Reichstagungsstadt Augsburg ermöglichte für kurze Zeit, dass neben der Daucher-Werkstatt noch zwei bis drei weitere Steinbildhauerwerkstätten existieren konn- ten und regelmäßig Lehrknaben beschäftigten. Man kann also vermuten, dass in den Augsburger Werkstätten zwi- schen 1518 und 1523 neben Kleinreliefs, Grabmalen und Skulpturen vielleicht sechs bis sieben größere Steinaltäre oder anderweitige große Steinbildwerke entstanden, die primär in Augsburg – aber auch weit entfernt – Aufstellung fanden. Meistenteils ist davon nichts erhalten oder bekannt geworden, weil sie dem Bildersturm der Reformationszeit oder dem Erneuerungsdrang späterer Zeiten zum Opfer fielen. Der einzige komplett erhaltene Hochaltar aus der besten Zeit der Augsburger Frührenaissance ist der Anna- berger Hauptaltar. Allein diese Tatsache und das Wissen, dass er damals von der leistungsstärksten Bildhauerwerk- statt Augsburgs geliefert wurde, verdeutlichen den beson- deren Stellenwert des Altars. Sein Erkenntnispotenzial für die Augsburger Kunst der Frührenaissance ist längst nicht erschöpft. 126 Zitiert nach Schmidt 1908, S. 128. 127 Auch die Figurengruppe des Augsburger Fugger-Altars oder die Londoner Johannesfigur aus einer verlorenen Kreuzigungsgruppe von Hans Daucher sind deutlich unterlebensgroß. Ohne Einbin- dung in die verlorene Bildwerkarchitektur und dem Betrachter nah vor Augen geführt, kann die einstige Wirkung der Skulpturen nur schwer beurteilt werden. Abb. 89 Hauptaltar, Ornamentdetail an der Predella im Streiflicht

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