Leseprobe

286 rius. Richard Riemerschmid empfahl – dem Sinn nach freilich Friedrich Naumann folgend – die Erstellung eines »Baedekers der Qualitätsprodukte«, seit 1911 führte er dazu einen brieflichen Austausch mit Avenarius.6 Im Februar 1914 fasste er – an Karl Schmidt gerichtet – zusammen: »Das Warenbuch darf […] nichts anderes enthalten als das Beste und Vorzüglichste, was an Massenartikeln in Deutschland entsteht […].«7 Der Herausgeber des Deutschen Warenbuches, die Dürerbund-WerkbundGenossenschaft, beabsichtigte mit der schließlich 1915 erschienenen Publikation, dem Konsumenten, dem potenziellen Käufer, einen Leitfaden an die Hand zu geben, ihn in seiner Kaufentscheidung zu beeinflussen.8 »Herz und Hirn an der Leistung der Hand« zu beteiligen, verlangte Joseph August Lux, 1907 erster Leiter der Gewerblichen Fachschule und Lehrwerkstätten der Deutschen Werkstätten, zugleich beteuernd, die Unterweisungen erfolgten »weder in schematischer, schulmeisterlicher noch kathedermäßiger Form, sondern im freundlichen Umgang mit den Lernenden im Wege der Diskussion, der Fragestellung, der positiven Arbeit und der umsichtig geleiteten Übung der wachsenden Kräfte«.9 Wolf Dohrn und Karl Schmidt lehrten selbst. Künstler wie Karl Groß und Otto Gussmann, beide Möbel-Entwerfer, unterrichteten zeitweilig sogar Werkstättenarbeiter; Lux konstatierte 1908, der Firmeninhaber sei stets »bemüht, seine Arbeiterschaft an den ihn beschäftigenden Kulturproblemen geistig zu interessieren«.10 Die ab 1918 erfolgte radikale Reduzierung der theoretischen – nach Schmidt »zu verschulten« – Lehrlingsausbildung auf ein Mindestmaß nahe null, die Zuwendung zum praktischen Tun passt zur nach dem Ersten Weltkrieg massiv um sich greifenden Orientierung auf das Handwerkliche, zur Suche nach Genesung. Schmidt meinte – in formulierter Abkehr von früheren Gedanken – klären zu müssen: »Der Mensch wird durch nichts so gut erzogen und gebildet wie durch gründliche und gewissenhafte Arbeit.«11 Heinrich Tessenows Konzept zur Einrichtung und Organisation der Handwerker-Gemeinde Hellerau, 1919 publiziert, ähnelt unverkennbar dem frühen Programm für das Bauhaus Weimar. Hier wie dort taucht der Begriff der »Meister« auf, die Ausbildung der Lehrlinge sollte zentrale Gemeinschaftsaufgabe sein.12 Überdies konnte Tessenow den Bauhaus-Protagonisten Walter Gropius persönlich kennenlernen: Er war ihm im Sommer 1918 begegnet. Zum Fördererkreis der Handwerker-Gemeinde gehörten als Mäzenin Hertha König, aber auch der bekannte, wenngleich schon seinerzeit umstrittene Reformpädagoge Gustav Wyneken.13 Tessenow, in seinen Entwürfen nie ganz frei von Divergenzen in sich, erblickte in dem Projekt einen Ansatz, seinem Ideal, »Handwerker und Ackerbürger« in der Art eines kleinstädtischen Siedlungsprojekts zusammenführen zu wollen, nahezukommen. Das Bestreben nach einer gewissen Zurückgezogenheit des Einzelnen in die eigene Werkstatt, auf die »eigene Scholle«, das eigene kleine Gartenland traf sich mit Grundgedanken des in der Gartenstadterweiterung neusiedelnden Architekten Gustav Lüdecke,14 aber auch des in Hellerau lebenden Sozialreformers Percival Booth, der den Bau von Kriegsheimkehrerhäusern initiierte.15 Der Obstbauexperte und Sächsische Landwirtschaftsrat Johannes Schomerus begründete 1920 die anthroposophisch beeinflusste, biologisch-dynamisch orientierte Lehr- und Mustersiedlung Hellerau, eine Siedlerbildungsstätte. Hauptziel war mit Blick auf den »Selbstversorgergarten« die Veranstaltung von Lehrkursen in Obst- und Gemüsebau, Hauswirtschaft, Früchteverwertung und Kleintierhaltung. Schomerus zufolge sei die »menschliche Wohnung« keinesfalls die Großstadt: Es ist der Garten.16 Diese Erkenntnis liegt offensichtlich bereits der Begriffsbildung »Gartenstadt« zugrunde. Das Hellerauvorhaben hieß bei Karl Schmidt anfangs – und schon sehr bald nach 1900 – »Kolonieprojekt«. Fritz Schumacher hat die Ausformung der Idee bei Schmidt in seinen Lebenserinnerungen beschrieben: »Seinem ganzen Wesen nach war er weit mehr zum Agitator als zum Handwerker geboren. Neuen Kulturideen nachzuspüren […] war ihm Bedürfnis […] Vom Fabrikgebäude zur Arbeiterkolonie führte ein natürliches Bedürfnis: von der Arbeiterkolonie zum allgemeinen Problem 1 u Neusiedlung in unbebautem Land: Gustav Lüdecke mit Ehefrau, um 1920. u Newcomers to Hellerau Gustav Lüdecke and wife settling in on undeveloped land, circa 1920.

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