Leseprobe

284 »[. . .] sie wird niemals den künstlerischen Geist der beseelten Handarbeit ersetzen.« H Hellerau soll, will erziehen. Pädagogische, reformpädagogische Bestrebungen, Ideen und praktische Versuche, ebenso Absichten, gezielte Beeinflussungen durchziehen das Hellerauprojekt in all seinen Facetten: Hellerau im Ganzen muss – bereits a priori – als erzieherische Aufgabe verstanden werden. Das Maschinenzeitalter, das Zeitalter der Massen und der Masse, scheint um und insbesondere nach 1900 generell und notwendig in ein Zeitalter neuen Lehrens, ja auch Belehrens mittels erhobenen Zeigefingers, zu münden. Bilder herbeigesehnten menschlicheren Lebens changieren – nicht zuletzt bald angetrieben durch Krieg und dessen Folgen – mit Bildern drohenden Untergangs, ja gewisser Selbstaufgabe. Adoranten des Lichtes, der Sonne, der Natur, schließlich der Körperkultur bleiben – so oder so – bis in die 1930er Jahre präsent. Es bedarf offenbar Propheten dieser und jener Richtung, da ist die Sehnsucht nach Führerpersönlichkeiten wie zugleich deren Ablehnung, es bedarf eigener intensivierter Willensbildung, eigenem Tätigwerden. Ziele innerhalb jetzt geforderter individueller wie gemeinschaftlicher Selbstreform werden geradezu inflationär publiziert, auf verschiedene Fachbereiche bezogen veröffentlicht, häufig mit Überschwang, mit Pathos, ebenso mit gewisser Heilserwartung vorgetragen. Der früh in Beziehung zu Hellerau stehende Reformpädagoge Paul Geheeb überzieht: »Das Heil kommt von den Kindern!« Skizze I: Gedanken, Ideen, Spurvorgaben – von Naumann bis Migge Friedrich Naumann, einflussreicher sozialliberaler Impulsgeber im Hintergrund, gehört zu jenen, die die breitere Öffentlichkeit früh auf die Zusammenhänge von Schule und Maschinenzeitalter aufmerksam machten. So postuliert er in einem vermutlich 1904 im aktiven Leipziger Lehrerverein gehaltenen Vortrag »Volksschule und industrielle Entwicklung« zur Unumgänglichkeit schulischer »Massenbildung« als Kulturform: Fortschritt an und mit der Maschine sei »nur möglich, wenn gleichzeitig der entsprechende Fortschritt im Menschen einhergeht, der an der Maschine steht […] Je komplizierter die Maschine wird, desto durchmassierter muß das Gehirn sein […].« Und er resümiert: »Die Schule wird von oben her gefordert, weil man geschulte Arbeitskräfte braucht, und von unten her gefordert, weil man als Arbeitskraft Subjekt werden möchte.«1 Kinder sollen also – nach Naumann – mit der »Kraft der Bildung« zu aktiven Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden. Fast zeitgleich reflektiert Naumann in einem weiteren Beitrag zur »Erziehung zur Persönlichkeit im Zeitalter des Großbetriebes«: Ziel ist »die Volksschule als Pflegerin des Ichs in der Masse«.2 Folgen von Maschinenarbeit und Industrialisierung scheinen außerdem nach »Beseelung« jeglicher menschlicher Existenz zu verlangen, also auch nach der gefühls-, sinneorientierten Seite der Bildung. Joseph August Lux, erster Leiter der werkstätteneigenen Fachschule, beurteilt die industrielle Entwicklung grundsätzlich positiv, aber: »[…] sie wird niemals den künstlerischen Geist der beseelten Handarbeit ersetzen.«3 Die sozial-ethischen Ziele des Kreises um Naumann, die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Ausgleich vom Unternehmertum bis in die Arbeiterschaft hinein bestimmten auch Denken und Handeln der führenden Persönlichkeiten des Hellerauvorhabens – wenngleich freilich differenziert in den einzelnen erzieherischen Absichten. Das nationale Moment – der Stolz auf ein erstarktes Deutschland, die spätvollendete Nation – gehörte für Naumann wie für die Mehrzahl seiner Zeitgenossen zwingend zu jedweder Überlegung. Der entscheidend unter Maßgaben Naumanns wie Karl Schmidts gegründete Deutsche Werkbund verstand sich als »Erzieher« zum Zwecke der »Veredelung« und »Durchgeistigung« der gewerblichen Arbeit, nach dem Hellerau-Mäzen Wolf Dohrn als ein Gremium zwischen »Kunst, Ethik und Geschäft«.4 Eine zentrale Aufgabe war damit die weitgreifende ästhetisch-qualitätsorientierte Erziehung. Diese erfolgte wesentlich durch Ausstellungen, Publikationen, auch mittels Warenkatalogen und Firmenschriften der Deutschen Werkstätten – Naumann sinnierte über den »Geist imHausgestühl«5 – oder der Gemeinnützigen Vertriebsstelle deutscher Qualitätsarbeit, einer in Hellerau ansässigen Gründung des »Kunstwart«-Herausgebers und Dürerbund-Gründers Ferdinand Avena-

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