Leseprobe

242 schuhen, er ist – soweit wir mit ihm zunehmend eine besondere Wohnungsart begreifen – etwas völlig Neues, bezieht sich auf wichtigste Angelegenheiten grösster Menschenmassen und hat damit auch eine mächtigste Stosskraft und – sehr wahrscheinlich – eine ›grösste Zukunft‹ in sich«.2 Hermann Muthesius bewirbt das Buch in der Bücherschau der Neudeutschen Bauzeitung mit folgenden Worten: »Er hat Wichtiges vorzubringen, […] Es geht aus seinen Ausführungen, die sich auf die kleinsten Details der inneren Einrichtung des kleinen Hauses erstrecken, hervor, wie sich Nützlichkeit mit Schönheit paaren kann, wie ein aus innerer Überzeugung gestaltender Architekt alles, was er tut, mit Schönheit beleben kann, selbst die allerzweckmässigsten Dinge. Die Art der zweck-mässig-schönen Durchbildung der einfachsten billigsten Arbeiterhäuser Tessenows ist musterhaft. Er scheint der geborene Gestalter des kleinen Hauses zu sein, […].«3 Er hatte sich bereits mit unterschiedlichsten Themen des Bauens beschäftigt, die anhand von veröffentlichten Texten und Zeichnungen nachvollziehbar sind: mit typologischen Fragen und Grundrissorganisation, Villen und Kleinwohnungsbau, Komposition und Ausdruck, Material und Konstruktion, Möbeln und Inneneinrichtung, mit dem Maßstab des Wohnhauses und des Monumentes, dem Verhältnis vom Bau zur Geländeform, dem Verhältnis von Bau und Pflanzen, dem Gedenkort und Fragen des Objektes im Raum, jedoch noch kaum mit städtebaulichen Fragen. Kurz, Tessenow ist beruflich gut vorbereitet, als er neben den älteren und etablierten Architekten Richard Riemerschmid und Hermann Muthesius seine Arbeit in Hellerau aufnehmen kann. – Im September 1913 geht Tessenow nach Wien, wo er als Professor an der Kunstgewerbeschule unterrichten wird. Exkurs 1: sachlich, wesentlich Wesentlich ist ein Wort, das der Architekt in seinen Schriften mehrfach benützt. Die scheinbare Kargheit seiner Bauten – innen wie außen – ist Ausdruck des Wesentlichen, nach dem er beharrlich strebt. Dies ist nicht das Resultat von Weglassen, sondern vielmehr das Resultat der sorgfältigsten Abstimmung von wenigen Gestaltungselementen, den allernotwendigsten. Abstraktion, Reduktion, Minimalismus sind in der jüngeren Architekturdiskussion beliebte Wörter, deren Anwendung auf Tessenows Architektur eher in die Irre führen, als dass sie erhellend ihrem Verständnis dienen. Der Publizist Werner Mahrholz spricht, wie auch andere Zeitgenossen, von »sachlich und Sachlichkeit« und nennt sie den »Versuch, mit den konstruktiven Gegebenheiten, die aus der Nützlichkeits- und Zweckmässigkeitssphäre stammen, ein harmonisches, schönes Ganzes herauszubilden«. Und er präzisiert: »In dieser Sparsamkeit der Mittel bei Erzielung höchstmöglichen Schönheitswertes, liegt die eigentümliche Sachlichkeit und Schönheit der Tessenowschen Bauweise, die gleich weit entfernt ist von öder Nützlichkeit wie von sentimentaler Stimmungspoesie.«4 Hierzu war die Beherrschung der Proportionsregeln gleichermaßen Selbstverständlichkeit wie Bedingung, so wie die Freiheit, aus einem Profil, das funktionell eine nach außen öffnende Türe oben vor Regen schützt, ein feines Gesims zu machen: schmuck und Schmuck. Im Vergleich mit analogen architektonischen Problemstellungen im In- und Ausland beeindruckt dieselbe Freiheit Tessenows, so radikal einfache, aber hochtaugliche Vorschläge zu entwickeln und mit radikal einfacher räumlicher Organisation zu arbeiten. Präzise Antworten auf eine Vielzahl von gestellten Fragen, gepaart mit klugem Kombinieren, mit In-BeziehungSetzen von Wenigem und dem Einweben eines poetischen Momentes – sie machen seine Bauten komplex, architektonisch reich und für ihre Bewohner angenehm. Und selbst das mit bescheidensten Mitteln erstellte Haus erhält seine kleine Würde. Tessenows Bauten und Projekte für Hellerau Hellerau als Labor Nietzsche wies uns an, Ideen nicht zu erhöhen, sondern zu »verkörpern«. Hellerau wird wegen einer Idee besucht und weil sie hier verkörpert ist. Obwohl der Körper gegenüber der Idee immer nur ein Versuch von deren Umsetzung sein kann, ist mit diesem Körper sorgsam umzugehen. Voraussetzung ist, dass man ihn gut kennt. Tessenows vierjähriges Nutzen des Labors Hellerau wurde entscheidend für seinen Werdegang. Sein Hellerauer Beitrag – Kleinwohnungsbau und Festspielhaus – brachten ihm hohe Anerkennung und festigten seinen Ruf nachhaltig. Die Vielzahl der Bauaufgaben in Hellerau erlaubte ihm, in einer laborähnlichen Situation mit eigentlichen Versuchsreihen seine Anliegen und Überlegungen an konkreten Bauten zu testen, weiterzuentwickeln und zur Reife zu bringen. Hier entstanden für die Planung von Kriegerheimstätten in der unmittelbaren Nachkriegszeit und für den Siedlungsbau der 1920er Jahre relevante Prototypen. Die während seiner Hellerauer Jahre im kleinen Maßstab festgelegten Gestaltungs- und Kompositionsprinzipien übertrug Tessenow in seiner Berliner Zeit ab Mitte der 1920er Jahre auf den großen Maßstab. Im folgenden Text sollen einige seiner Bauten und ihre Bedeutung im Werk Tessenows näher betrachtet werden. Dazu müssen wir unsere Sinne notwendig auf Feinheiten einstellen,5 geduldig beschreiben, was wir sehen, und uns beim Lesen gedulden. Die Häuser im Villenviertel In den knapp vier Jahren von 1909 bis 1913 baut Tessenow 47 Wohneinheiten (nicht mitgezählt die Wohnungen in der Bildungsanstalt), von denen die neun Einfamilienhäuser im Villenviertel (bzw. zehn, wenn wir das nahe der Bildungsanstalt gelegene Haus Salzmann mit einbeziehen) nur kurz gestreift werden sollen. Jedes dieser Häuser stellt einen Einzelfall dar. In ihrem Äußeren reflektieren sie das einfache einzelne oder doppelte traufständige

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