Leseprobe

134 mation fand in der Architektur ihre augenscheinliche Realisation.6 Am Ateliergebäude und am Großen Glückert-Haus ließ je ein tief in die Mauer eingeschnittener Torbogen den Eintretenden gewahr werden, dass sich ihm eine neue Welt der Kunst, ein Ort des neuen Lebens zeigen würde.7 So »modern« sich die Darmstädter Planungen gaben, so gründeten sie doch wie selbstverständlich in der Tradition. Schon in seiner Wiener Zeit hatte Olbrich 1898 davon geschwärmt, auf einem freien Feld eine ganze Stadt nach einem einheitlichen Konzept zu errichten, das jedes Haus aber auch »jeden Stuhl und Topf beherrsche«.8 Seine Vision, nicht nur Einzelbauwerke, sondern einen städtischen Organismus zu projektieren, ist in der abendländischen Baukunst vielfach vorgebildet. Man denke nur an die Idealstädte der Renaissance – etwa an Sabbioneta (1554–1571) oder Palmanova (ab 1593), ferner an barocke Entwürfe wie Karlsruhe und Mannheim oder auch an die Saline Chaux von Ledoux (1775–1778). Und letztlich ist auch Olbrichs Gedanke, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das die gesamte Innenausstattung miteinbezog, in der barocken Kunsttheorie begründet. Selbst Peter Behrens, einer der Ahnherren der Moderne, hat vielfach und selbstverständlich die Historie bemüht: Sein Krematorium in Hagen (1906/07) griff die mittelalterlichen Fassadeninkrustationen von San Miniato al Monte in Florenz auf; der Binnenhof seines Linoleumpavillons, den er 1906 auf der Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden zeigte, ließ Parallelen zu einem antiken Peristyl deutlich werden, und seinen Proportionsstudien lag die Auseinandersetzung mit Albertis Architekturtheorie zugrunde.9 Doch nicht nur in Europa, wo die akademische Architektenausbildung die Kenntnis der Baugeschichte einschloss, verwoben sich Traditionen mit Neuerungen. Auch die amerikanischen Pioniere, die sich häufig als Ingenieure verstanden, suchten und fanden historische Verbindungslinien für ihre Vorhaben. Frank Lloyd Wright, der um 1900 den Villenbau revolutionierte, wird vor allem hinsichtlich seiner zukunftsweisenden Baukörper und seiner Erfindung des fließenden Grundrisses gefeiert, den das Bauhaus in seinen prominentesten Schöpfungen – wie etwa dem Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe – fortgeschrieben hat. Wrights Anliegen war es, einen explizit amerikanischen Stil zu entwickeln. Doch wollte er dabei keineswegs mit allen Traditionen brechen, vielmehr gründete er diesen auf die anonyme Bauweise der frühen Siedler. Deren Häuser zeichneten sich durch einen mittig gelegenen Kamin aus, von welchem die Räume abgingen und so einen Grundriss bildeten, der der Form von Windmühlenflügeln glich. 4 u G. E. Woodward: Landhaus. Grundriss, 1873. u G. E. Woodward: Villa. Floor plan, 1873. 5 u Frank Lloyd Wright: Willits House in Illinois. Grundriss, geplant ab 1901. u Frank Lloyd Wright: Willits House in Illinois. Floor plan, planned from 1901 on.

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