Leseprobe

82 Lebensreformbewegung und Gartenstadtidee Heute werden die vielfältigen Reformbestrebungen im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff »Lebensreform« zusammengefasst. In unterschiedlichen Reformströmungen reagierten die Anhänger der sogenannten Lebensreformbewegung auf die Probleme der Industrialisierung für Mensch und Umwelt und strebten einen gesellschaftlichen Wandel an. Dabei war das zentrale Reformziel eine für Körper und Geist gesunde Lebensweise in der Gemeinschaft.4 Viele der einzelnen Ideen griffen dabei ineinander. Zahlreiche Impulse kamen aus dem seinerzeit führenden Industriestaat England, wo die Suche nach Antworten auf die durch die Industrialisierung verursachten Probleme früher begonnen hatte. An erster Stelle ist die Gartenstadtbewegung zu nennen. Ebenezer Howard stellte mit dem Gartenstadtmodell (Abb. 1) ein umfassendes Konzept vor, das für die Entwicklung des Städtebaus im 20. Jahrhunderts globale Bedeutung gewann. Dem ungebremsten Wachstum der Metropolen wollte er mit Gartenstadtgründungen Einhalt gebieten. Auf Grundlage einer neuen Bodenordnung sollten eigenständige Städte mit einer begrenzten Einwohnerzahl von 32 000, mit eigener Industrie und eigenem Handel, einem Grüngürtel zur Erholung und zum Ackerbau entstehen, die bei enger räumlicher Verbindung zwischen Haus und Arbeitsplatz sowie Kultur- und Versorgungseinrichtungen eine Zonierung der Funktionen vorsah. Durch eine geringere Bebauungsdichte und ausreichend Grünflächen sollte das Leben gesünder als in den Großstädten werden und durch das gemeindliche Obereigentum auch sozialer. Die Anhänger der Lebensreform sahen in Howards Gartenstadtkonzept eine vielversprechende Möglichkeit, ihre zahlreichen Reformideen zusammenzuführen und mit der Gründung von Gartenstädten umzusetzen. So zählten zahlreiche Lebensreformer, wie beispielsweise die Mitglieder der Neuen Gemeinschaft,5 zu den Gründern der Deutschen Gartenstadtgesellschaft in Berlin 1902.6 Die deutsche Gartenstadtbewegung folgte dem englischen Vorbild, ging aus der Lebensreformbewegung hervor und wurde durch diese adaptiert und angereichert. Das bedeutendste Zeugnis hierfür ist Hellerau. In keiner anderen deutschen Gartenstadtgründung wurden die Anforderungen an eine Gartenstadt nach dem englischen Konzept so weitreichend erfüllt wie hier. Die wesentlichen Funktionen einer formal eigenständigen Gartenstadt waren und sind bis heute mit unterschiedlichen Wohngebieten, Produktionsstätten, Versorgungs- und Kultureinrichtungen sowie dem umgebenden Grüngürtel vorhanden. Die gemeinnützige Organisationsform war anfangs gegeben. Doch darüber hinaus ist Hellerau programmatisch sogar breiter aufgestellt als englische Gartenstädte und ihr Prototyp Letchworth.7 Keine Siedlung bezeugt die Lebensreformideen des frühen 20. Jahrhunderts so facettenreich wie Hellerau.8 Zeugnis des Ideentransfer in Architektur und Städtebau zwischen England und Deutschland Howard beschrieb in seinem 1898 publizierten Buch »To-morrow: a Peaceful Path to Real Reform«9 einen gesellschaftsreformerischen Ansatz, den er mit diagrammatischen Darstellungen illustrierte. Diese zeigten jedoch keinen Bauplan auf, sondern ließen offen, nach welchem Städtebauideal und in welcher Architektur Gartenstädte entstehen sollten. Dabei war es ganz in Howards Sinne, das Gartenstadtkonzept an die lokalen Verhältnisse zu adaptieren. Gerade die Gartenstadtgründungen vor dem Ersten Weltkrieg, wie Letchworth (1903) und Hampstead Garden Suburb (1906) in England, aber auch Hellerau waren für die Konstituierung der Gartenstadtidee entscheidend. Sie verdeutlichen, wie stark diese Phase von einem wechselseitigen Ideenaustausch zwischen England und Deutschland geprägt war.10 Dieser Austausch reichte von gegenseitigen Besuchen der Gartenstädte über Darstellungen in Publikationen und auf Ausstellungen (Abb. 2) bis hin zu personellen Verflechtungen. Hellerau ist in diesem Kontext hervorzuheben, weil nicht nur Muthesius, der auch in Großbritannien hochgeschätzte Kenner des englischen Hausbaus, in Hellerau baute, sondern auch der in den englischen Gartenstädten erfolgreiche Architekt Mackay Hugh Baillie Scott das erste Holzhaus in der sächsischen Gartenstadt errichtete. Hellerau ist Zeugnis dieses Austausches zu Fragen eines reformierten Siedlungs- und Wohnungsbaus. Materiell bezeugt ist dies in der von Arts and Craft beeinflussten Architektur und in der Siedlungsstruktur. Bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Angestellten der Deutschen Werkstätten Karl Schmidt war nicht nur einer der bedeutendsten Kunstgewerbereformer seiner Zeit, sondern auch ein außerordentlich sozial engagierter Unternehmer. Schmidt bezahlte höhere Löhne als die Konkurrenz, bot seinen Arbeitern und Angestellten einen vertraglich verbrieften Urlaubsanspruch, etablierte ein Fortbildungsprogramm in den eigenen Lehrwerkstätten und schuf nicht zuletzt die Möglichkeit, in der Nähe des Arbeitsplatzes wohnen zu können. Mit der Verlagerung der Produktion an einen neuen Standort wollte er ein humanes und mus-

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