Leseprobe

Offene Figuration Wohl sind die aus Blech geschnittenen Kreis-, Dreieck- und Ovalformen jetzt ein- deutig im Sinne der Begrenzung, aber in ihrer Zusammensetzung noch immer mehrdeutige Zeichen. Sie verweisen zurück auf die Körperformen, wie sie schon in Malerei und Zeichnung zu entdecken waren, aber lassen sich ebenso wie in jenen anderen Gattungen auch hier nicht darauf festlegen. Die Assoziationen an organische Formen sind eingeschlossen in ein über sie hinausweisendes, sie nicht nur abstrahierendes, sondern veränderndes Vokabularium. Die häufige Zweitei- lung, ja oft symmetrische Darstellung schafft andere Bedingungen als solche des Organischen, bedeutet rationale Ordnungseingriffe mit einem in der Wirkung den- noch hohen emotionalen Wert. Andere Gebilde, Scheibe auf Scheibe gefertigt, lassen sich sogar von der betrachtenden Person durch Verschieben verändern, was nicht auf die Kinetik und ihre Intentionen zielt, sondern im Objekt jenen Schwebe- zustand, jene Spannung zu erhalten trachtet, die in der zeichnerischen bzw. ma- lerischen Formulierung durch Linienbündel oder als Bildräume geschaffen wurden. Lothar Romain Prof. Dr. Lothar Romain. Aus: Doris Titze. Arbeiten 1983–1985 . Ausst.-Kat. Kunst im DEC-Park, München: Digital Equipment GmbH (Hg.) 1985, S. 2 (leicht editiert) Die künstlerische Arbeit von Doris Titze begann mit der Zeichnung und Malerei, später folgte der Schritt zum Relief. Zeichnen bedeutet für Doris Titze immer einen dialektischen Prozess: entdecken und Zeichen setzen und die gewonnenen Er- fahrungen als Formulierungen wieder zur Disposition stellen. Zeichnend entdeckt sie organische Figurationen, an Körperformen erinnernd, aber nie sich zum Abbild eines Gegenstands vereindeutigend. Sie bleiben als Figuration offen, weil sie immer wieder der individuellen Befragung durch den Zeichenstift ausgesetzt wer- den. Daraus entwickeln sich spannungsvolle Zustände, denn einerseits drängt die Formulierung zur gleichsam objektiven Setzung: Fast Dreieck-, fast Kreis- oder fast Ovalformen entstehen, als sollten sie einen Rahmen geben oder ein Gerüst stellen. Andererseits widersetzt sich das Bündel von Linien jeder Neutralisierung, jeder endgültigen Festlegung. Das Ergebnis dieser permanenten Auseinandersetzung ist kein vorläufiges, wohl ein Schwebezustand, eine Gratwanderung, das Bewusst- machen des Problems beim Formulieren. Man muss auf diese Arbeiten verweisen, um den Schritt über die Malerei, welche die Erfahrungen des Zeichnens nun der Befragung im Bildraum aussetzte, bis zum Relief hin zu verstehen. Diese Reliefs sind kein wie auch immer gearteter Rekurs auf konstruktivistische Traditionen, sondern einer von vielen möglichen Versuchen der Vergewisserung. Was als Figurationen und Zeichen vorher aus dem Geflecht der Linien bzw. aus den Malräumen hervortrat, aber nicht zu lösen war, soll hier verdinglicht freigesetzt werden. Wie, so die Frage, zeigen sich die Figura- tionen, wenn man sie isoliert, aus dem Kontext auch der – im besten Sinne – sub- jektiven Verstrickungen herausnimmt und ihnen ein Eigenleben zudiktiert? Lassen sie sich dann wieder miteinander in Verbindung bringen? Bleibt die Offenheit der Deutung erhalten? Oder werden sie zur glatten Formulierung, die das Problem eher verdrängt anstatt es aufzudecken? 7 √ je o. T. | Bleistift, Papier | 29,7 × 21 cm | 1981 – 1995

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1