Leseprobe

59 Die implizite Zeit Ich begegne dem körpergroßen Papier in Resonanz zu Musik und schwinge mich in langen Zeichenprozessen in sie ein. Man spürt, wenn eine Bewegung zu gewollt oder mechanisch wird und nach Spannung verlangt: Manche Zeichnungen wollen irritiert werden, um lebendig zu bleiben. Manche werden zu schwarz oder bleiben zu leicht. Zeichnungen haben ihren eigenen Charakter und ihre eigenen Forderungen. Man muss auf sie hören. Ich führe den Stift nah am Blatt und betrachte es wieder mit Abstand. Kentridge benennt auch die Distanz, die man immer wieder zu den eigenen Werken schafft: »[...] und zwar dann, wenn man als Künstler und Macher der Zeichnung zurücktritt und zum Betrachter dessen wird, was man gemacht hat.« 2 Man muss das Gesamtbild betrachten, um es mit sich in Einklang zu bringen: Ein Bild entwickelt Bereiche, die man nicht zerstören will; andere möchte man tilgen. Manche Bilder bleiben unbefriedigend, weil man mutlos wird. Manche än- dert man zu schnell und verliert sie. Manche gelingen sofort, andere erst nach zähen Korrekturen. Künstlerische Prozesse spiegeln unsere Lebenshaltung: Wir erfahren, wie strukturiert, ängstlich, verbissen, geduldig oder zuversichtlich wir Entwicklungen wagen. In den Zeichnungen bleiben Arbeitsprozesse spürbar: Ver- schiebungen, Klärungen und Akzente scheinen weiterhin durch. Ein Wechsel des Mediums hilft mir oft, bestimmte Ideen zu vertiefen. 1984/85 sägte ich Objekte aus Metall, um den medialen Blick der Zeichnungen, ihre Innen- bewegung, zu konzentrieren. In den Linienbündeln sucht sich das Auge selbst aktiv seinen Weg; die Objekte überblickt blickt man eher von außen. Ihre Form ist kom- pakt sowie mechanisch beweglich. Zwei Spiralen schließen sich symmetrisch beim Öffnen zum Kreis oder verbinden sich mit einer Geraden. Die Entschiedenheit der Metallobjekte spaltete ihre Rezeption; manche Betrachter*innen fanden sie zu aggressiv, andere waren begeistert: Bilder werden im Sehen erschaffen und ge- winnen ein Eigenleben, sobald sie sich zeigen. Zwischen 1997 und 2007 untersuchte ich in Aquarellen das Spannungsfeld zwischen Linie, Fläche und Farbe. Die Farbräume der Bilder dehnen sich diffus; konkrete Linien setzen Bezüge in komplementären Positionen. Farben sind ungreif- Meine künstlerischen Arbeiten befassen sich seit 1978 mit Grundformen wie Kreis, Dreieck, Kreuz und Spirale, die ich während des Arbeitsprozesses individualisiere, sowie mit Porträts im weitesten Sinne. Ich arbeite mit dem Zeitmoment, mit Rhyth- mus und Bewegung, mit Symmetrie und Asymmetrie. Formen und Rhythmen ver- dichten und lösen sich wieder. Manchmal greife ich zu anderen Medien, um bestimmte Fragestellungen zu vertiefen, doch Zeichnungen begleiten mich kontinuierlich. Die Linien nähern sich von innen und außen einer Form, ohne sie endgültig zu definieren. Sie abstrahie- ren Körperbewegungen in die Fläche und konzentrieren sie. Jede einzelne Linie bestimmt das Bild mit und bleibt in den Liniengeflechten spürbar. Ich kommuni- ziere mit meinen Zeichnungen, während sie entstehen, und konkretisiere eine vage Idee, ohne vorab zu wissen, wie sie sich gestalten wird. William Kentridge beschreibt den Prozess des Zeichnens als einen Weg des Erkennens dessen, was bereits angelegt ist und gesehen werden möchte: »Hat man eine Zeichnung erst einmal begonnen, gibt es ein Gespräch zwischen dem, was darin erscheint, und dem, wovon man sich vorstellt, dass es erscheinen wird. Die Zeichnung wird zu einer Membran zwischen der Welt und einem selbst.« 1 In- nerhalb ihrer Unschärfe und Mehrdeutigkeit verhandeln wir unseren Blick auf uns und die Welt. Zeichnungen im Handradius (29,7 x 21 cm) sind unmittelbare gedankliche oder gestische Niederschriften. Ihr Formenspektrum von konkret bis figürlich ist in den einzelnen Blättern deutlich ablesbar; in größeren Einheiten scheinen sie mitein- ander zu kommunizieren. Mittelformate (70 x 50 cm) verlangen eine bewusstere Kontrolle der Gestik mit genügend Raum für spontane Zeichenbewegungen. Große Formate (230 x 150 cm, 126 x 90 cm) entsprechen dem Körperradius: Unterschied- liche Arbeitsphasen überlagern sich und schließen sich zu einer Figur. Ich kann sowohl dem Stift folgen, beidhändig arbeiten, in meinen eigenen Rhythmus finden und die Augen schließen als auch Konzepte entwickeln und klären, verdichten, akzentuieren.

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