Leseprobe

270 Großstadt Plauen – Kaiserreich, Weimarer Republik, »Drittes Reich« Die Herrschaft der Nationalsozialisten Prolog – der Aufstieg der NSDAP in Plauen »Eine Hochburg des Nationalsozialismus, die an der Spitze aller Großstädte marschiert.« Im Mai 1937 zogen die Plauener Nationalsozialisten medial Bilanz. Anlass dafür war die 15. Wiederkehr der Gründung ihrer Orts- gruppe inmitten der Wirren der frühen Weimarer Repu- blik. Was da in der Zeitung stand, war eine Aneinander- reihung von Superlativen, Alleinstellungsmerkmalen, die Beschreibung eines kometenhaften Aufstiegs der NSDAP in der Spitzenstadt. Dieser Selbstdarstellung war selbstverständlich die Tendenz zur Überhöhung und Übertreibung immanent. Auch Nostalgie schwang mit, wenn man sich der »Kampf- zeit« erinnerte. Aber selbst dann, wenn die Darstellung auf ihren rationalen Kern, auf Fakten und Tatsachen reduziert wird, bleibt der Befund, dass sich Plauen nach 1922 zu einer Hochburg der Nationalsozialisten mit weit über Sachsen hinaus reichender Strahlkraft entwickelte. Plauen war eine der ersten Städte außerhalb Bay- erns, und in Sachsen nach Zwickau die zweite, in der eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet wurde – so ge- schehen am 31. Mai 1922. Die Gründer waren Hitleran- hänger, die zum Teil bereits Mitglieder der Partei waren und ihre Beiträge bisher nach München entrichtet hat- ten. Sie entstammten vorwiegend kleinbürgerlichem beziehungsweise Handwerkermilieu. Ende November 1922 – die Ortsgruppe zählte be- reits 40 eingeschriebene Mitglieder – formierte sich die örtliche SA und Anfang Januar 1923 die Frauen- gruppe der NSDAP. Plauen war 1923 die »Geburtsstätte der Hitlerjugend« und der Plauener Schneidersohn Kurt Gruber seit 1926 ihr erster, wenn auch nur kom- missarischer Reichsführer. Gerd Naumann Nicht in Dresden, Leipzig, Chemnitz oder Zwickau, sondern in Plauen hatte zwischen 1925 und 1933 die Landes- beziehungsweise Gauleitung der sächsischen NSDAP ihren Sitz. Von Plauen aus wurde die Partei im Gau Sachsen reorganisiert, Westsachsen sowie Ost­ thüringen wurden »missioniert«. Die Plauener National- sozialisten pflegten enge Beziehungen nach Oberfran- ken, die »tätige Unterstützung« bei Auseinanderset- zungen mit politischen Gegnern einschloss. 1925 wurde dem Plauener Spitzenfabrikanten Martin Mutschmann die Leitung des Gaues Sachsen der NSDAP übertragen. Nicht nur in dieser Funktion erwies er sich als einer der treuesten Gefolgsleute Adolf Hitlers. Am 1. März 1933 setzte der NSDAP-dominierte Plau- ener Stadtrat durch, dass Plauen als erste deutsche Großstadt neben General von Hindenburg auch Hitler die Ehrenbürgerwürde verlieh und die Breite Straße in Adolf-Hitler-Straße umbenannte. Die Stadt besaß 1933 die meisten Träger des »Gol- denen Ehrenzeichens der NSDAP« aller sächsischen Kreise für acht- beziehungsweise zehnjährige Partei- mitgliedschaft. Seit Mai 1933 bekleideten Plauener Na- tionalsozialisten in der sächsischen Regierung die Res- sorts des Wirtschaftsministers (Georg Lenk) und des Innenministers (Karl Fritzsch). Die Entwicklung Plauens zur »Hochburg des Na- tionalsozialismus« lässt sich nur unter einem multi- kausalen Ansatz erklären – das heißt, diese Entwick- lung hatte viele Gründe. Für die rasch wachsende Massenbasis der NSDAP sind folgende Ursachen hauptsächlich geltend zu machen : — 1. die am Vorabend des Ersten Weltkriegs ausgebro- chene Strukturkrise der Plauener Wirtschaft, die bis Anfang 1933 nicht ansatzweise bewältigt werden konnte, — 2. der schichtenübergreifende soziale Abstieg zahl- reicher Individuen bis hin zu sozialer Verelendung, — 3. die permanent hohe und weit über dem Reichs- durchschnitt liegende Dauermassenerwerbslosigkeit selbst in den »Goldenen Zwanzigern«, — 4. die massive wirtschaftliche Benachteiligung der einheimischen Wirtschaft, insbesondere der Textil- industrie, auf internationaler Ebene infolge des ver- lorenen Ersten Weltkriegs, — 5. die mangelnde staatliche Fürsorge für die krisen- geschüttelte Region, die frühzeitig viele Plauener auf Distanz zur parlamentarischen Demokratie und zur Weimarer Republik gehen ließ. Im Ergebnis der Wahl zum Plauener Stadtparlament zo- gen Anfang 1930 elf Stadtverordnete und drei unbesol- dete Ratsmitglieder aus den Reihen der NSDAP ins Rat- haus ein. Nur drei Jahre später konnte die Plauener NSDAP ihre Sitze in Stadtparlament und Rat mehr als verdoppeln : Im Januar 1933 – vor der Machtübertragung an Hitler wohlgemerkt – stellte die Partei 28 von ins- gesamt 61 Abgeordneten und sieben von 15 Ratsmit- gliedern. 1923

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