Leseprobe

255 Plauen ist Großstadt »Doch weder in den großen Fabriken noch in den Villen noch in den öffentlichen Gebäuden und Anlagen ver- körperte sich das ureigentliche Lebenselement Plauens als Spitzenstadt. Der Herzschlag dieser Industrie pul- sierte, meist unsichtbar, in den vielen, ganz und gar nicht repräsentativen, sondern recht nüchternen, ja hässlichen Anbauten und Hintergebäuden der Häuser in allen Teilen der Stadt. Hier klapperten die Stickma- schinen. Die Stickereiindustrie war geradezu eine In- dustrie des Hinterhauses. Der größte Teil der Lohn­ maschinenbesitzer existierte in dieser Weise mit ein paar Maschinen, in der Auftragserteilung von den Fab- rikanten abhängig, im Übrigen aber selbständig. Sie bildeten das Rückgrat der Industrie.« 21 Den Puls der kleingliedrigen Industrie bestimmte zunächst die Handstickmaschine, die sich aber nach und nach aus dem Plauener Gebiet zurückzog und in andere Regionen des Vogtlands und Westerzgebirges abwanderte. Ein anderes Bild bot sich bei den teuren, aber hocheffektiven Schiffchenstickmaschinen. Deren Hauptplatz war und blieb das kapitalstarke Plauen, in dem zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg allein etwa ein Drittel aller derartigen Maschi- nen arbeiteten, die im Handelskammerbezirk Plauen aufgestellt waren. »Die Gegend ist düster und malerisch, und ihre derbe und abgehärtete Bevölkerung ist seit Jahrhun- derten mit der Industrie verbunden.« Mit diesen un- prosaischen Worten charakterisierten englische Ge- werkschafter kurz und bündig Plauen und das Vogtland, das sie im Zuge einer Studienreise zu den industriellen Zentren Deutschlands besucht und intensiv unter die Lupe genommen hatten. In einem Buch mit dem Titel »Life and Labour in Germany« wurden die Eindrücke der Reise niedergeschrieben – auch jene, die in Plauen gesammelt worden waren. So entstand eine eigenwil- lige, ausschnitthafte und auch nicht unumstrittene Anatomie der Vogtlandstadt, die gerade Großstadtsta- tus erlangt hatte. Die Arbeiter-Kommission betrachtete die Plauener Verhältnisse aus britischer Perspektive und verglich sie gleichzeitig mit Wahrnehmungen, die sie in anderen Re- gionen Deutschlands gemacht hatte. Die Schrift ist eine einzigartige Quelle, weil sie neben der Vermittlung ge- läufiger Tatsachen seltene und detaillierte Einblicke in die inneren Verhältnisse Plauens gewährt. Die Betrach- ter von außen hielten – zum Teil banal erscheinende, ihnen aber wichtige – Sachverhalte fest, die für die Plauener tagtägliche Erfahrung und deshalb nicht un- bedingt berichtswürdig gewesen waren. Einige Refle- xionen der Arbeiter-Kommission, allgemeinen wie auch ganz speziellen Charakters, sollen im Folgenden wie- dergegeben werden : »Die Beziehungen zu England sind [...] von großer Wichtigkeit. Plauen kauft Tülle von Not- tingham zu Spitzen und Gardinen; Kambrik von Man- chester zu Stickereien; Spitzen von Nottingham zu Kon- fektion und Garne von Bolton und Bradford. Plauen entspricht dem englischen Nottingham. England und seine Kolonien sind Plauens beste Kunden. Der Handel dieser Stadt mit England stellt einen Wert von mindes- tens 1.225.500 Pfund Sterling bis 1.470.590 Pfund Ster- ling dar. Der Handelswert mit den Vereinigten Staaten ist etwas geringer. [Das änderte sich wenige Jahre spä- ter, als die USA Großbritannien als Hauptimporteur ab- lösten, G. N.] Plauen kauft seine Tülle in England, bestickt sie und verkauft sie dann wieder an England. [...] Plauen ist der bedeutendste Abnehmer Englands in rohem Tüll mit einem gegenwärtigen Anteil von neun Zehnteln des deutschen Imports. [...] Plauen, Sachsens Nottingham, zahlt für deutsche Verhältnisse hohe Löhne. Streiks sind hier selten. Es gibt hier eine große Zahl weiblicher Arbeiter, und die weibliche Bevölkerung ist zahlreicher als die männliche. Fast alle Arbeit ist Akkordarbeit. [...] Die Arbeitszeit ist im Sommer von früh 7 bis abends 7 Uhr mit zwei Stunden Pause, nämlich 1,5 Stunde Mittag und je eine Viertelstunde für Frühstück und Nachmit- tags-Kaffee. Im Winter wird die Arbeitszeit oft mit be- sonders eingeholter polizeilicher Erlaubnis verlängert. Es ist bemerkenswert, dass die Mädchen, von denen viele aus den benachbarten Dörfern kommen, wo sie bei »Nur gute Spitzen, keine billige Ware« Auf der stark beachteten Studienreise der Gainsborough-Kommission 1905/06 durch Deutschland – der Delegationsleiter wurde vom deutschen Vizekanzler und sogar vom Kaiser empfangen – besuchte die Abordnung in Plauen einige Firmen und nahm unter anderem folgende Erkenntnisse und Eindrücke mit : »Von der Textilschule gingen wir zu Herrn Hartensteins Gar- dinenfabrik [Dobenaustraße, G. N.] und kamen auf dem Wege dahin über eine schöne steinerne Brücke, die im letzten September eingeweiht wor- den war [König-Friedrich-August-Brücke, heute Friedensbrücke, G. N.]. [...] Die Webstühle waren englisches Fabrikat. [...] Für die in der Fabrik Beschäftigten sind zum unentgeltlichen Gebrauch gute Bäder vorhanden, auch für Handtuch und Seife wird nichts gezahlt. Eine Treppe höher wird Kaffee verabreicht, ebenfalls umsonst, zu jeder Zeit, wenn die Arbeiter oder Arbeiterinnen ihn wünschen. Arbeitszeit in der Fabrik sind 10 Stun- den; von morgens 7 Uhr bis nachmittags 7 : 30 Uhr, mit Pausen von 8: 30 bis 9 Uhr vormittags, von 12 bis 1 : 30 Uhr und von 4 bis 4 : 30 Uhr nachmittags. In der Nähe dieser Fabrik befindet sich ein Häuserviertel mit Arbeiterwoh- nungen [Hainstraße, GN], das von einer Baugesellschaft errichtet worden ist. Das Viertel besteht aus 30 Häusern, die im Ganzen 720 Wohnungen enthalten, bestehend aus drei Räumen (einschließlich Küche), Keller und Bodenkammer. [...] Dann sind wir in Herrn Paul Körners Spitzen-Fabrik [Kaiserstraße, GN] gegangen, wo meist Mädchen beschäftigt sind. Verheiratete Frauen dürfen hier ebenfalls arbeiten. [...] Diese Firma macht ihre Geschäfte mit London, Nottingham, Manchester, Birmingham, Glasgow und Leeds. Ihre Fabrikate sind nur reelle gute Spitzen – keine billige Ware. In der ganzen Fabrik [...] konnten wir feststellen, dass Luft und Ventilation gut waren. Die Mädchen sahen gesund aus und waren gut gekleidet. ‚Sie müssten sie sonntags sehen, wenn sie ihren Staat anhaben‘, sagte ein Plauener. Tatsächlich haben wir sie in ihrem besten Staate gesehen, als wir am Sonntag durch die Straßen gingen. Wir sahen, dass die Plauener Fabrikmädchen nicht nur ver- stehen, sich zu kleiden, sondern auch die Mittel haben, sich gut zu kleiden.« Quelle : Life and Labour in Germany. Reports of the Gainsborough Commission, London 1906, S. 139–141.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1