Leseprobe

11 Im Angesicht des Todes Stephan Koja Als wir uns Anfang des vergangenen Jahres während der Vorbereitung der Ausstellung »Caravag- gio. Das Menschliche und das Göttliche« in unseren Beständen auf die Suche nach Skulpturen begaben, die sich inhaltlich mit dieser Schau verbinden ließen, gleichzeitig aber auch erlauben würden, die dramatische Lichtführung caravaggesker Gemälde an einem dreidimensionalen Objekt vorzuführen, stießen wir im reichen Fundus der Skulpturensammlung auf zwei ganz außergewöhnliche Werke. Zum einen fanden wir die spektakuläre Barockskulptur eines predi- genden Johannes des Täufers von Francesco Mochi, die August der Starke 1728 zusammen mit prominenten Antiken aus der römischen Sammlung des Kardinals Flavio Chigi erworben hatte und die sich mit ihrer Gestik auf Caravaggios Gemälde des Evangelisten Matthäus bezieht. Zum anderen entdeckten wir einen verblüffend realistisch gestalteten Totenkopf aus Marmor, der mit dem gleichen Ankauf nach Dresden gelangt war. Der aus Carrara-Marmor gearbeitete Schädel ist so überzeugend gestaltet, dass man ihn anfassen muss, um sich zu vergewissern, es hier nicht doch mit einem menschlichen Relikt zu tun zu haben. Hebt man ihn hoch, so wird die Illusion beinahe unheimlich, denn der Schädel zeigt sich hohl und auch auf der Unterseite perfekt ausgearbeitet. Wer könnte der Schöpfer eines solch virtuosen Kunstwerks gewesen sein und wozu diente es? In Anbetracht der Herkunft des Stücks aus der Sammlung Chigi fiel im Laufe angeregter Diskussionen scherzhaft fragend auch der Name Bernini. Bei der Prüfung der Dokumente zum Ankauf der berühmten Sammlung aus Rom stellte sich heraus, dass die Nennung dieses Namens den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Nach intensiver Forschung und Analyse stand zu Beginn dieses Jahres schließlich ohne Zweifel fest: Der Totenkopf der Dresdner Skulpturensammlung ist nicht nur ein bedeutendes Werk von Gian Lorenzo Bernini, sondern erzählt zudem eine überaus faszinierende Geschichte. Schnell war klar, dass diese außergewöhnliche Skulptur zum Gegenstand einer Ausstellung werden sollte. Die Präsentation eines Totenschädels in der Mitte des Semperbaus in Zeiten einer die Erde heimsuchenden Pandemie erscheint durchaus angemessen, denn Berninis Totenkopf entstand in einer Epoche, in der der Tod ein allgegenwärtiger Bestandteil des täglichen Lebens und nicht so leicht wie heute aus dem Bewusstsein zu verdrängen war, konnte er doch jederzeit und mit großer Wucht zuschlagen. So brach 1656, ein Jahr nach Werkentstehung, erneut die Pest in Rom aus. Es war eine Epidemie, die in Europa Hunderttausende Opfer forderte – eine Situ- ation, deren Tragweite wir durch die gegenwärtige Krise auf einmal mit ganz anderer Intensität begreifen können. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass die Maßnahmen, die man im 17. Jahrhundert ergriff, um die Krankheit zu bekämpfen, uns wohlbekannt vorkommen: Man kontrollierte die Zugänge der Stadt, verhängte Quarantäne, isolierte die Kranken in eigenen Lazaretten, trug Masken, reduzierte Kontakte und versuchte, Gebrauchsgegenstände mit Essig zu desinfizieren. Während viele Aristokraten und jene, die es sich leisten konnten, Rom verließen, blieb der Papst in der Stadt und machte die Bekämpfung der Seuche zu einem persönlichen Anliegen, indem er die Congregazione di Sanità gründete und die Einhaltung der Verhaltensregeln

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