Leseprobe

2 Lichtsinn An bestimmten Orten sind sich Erde und Himmel besonders nahe. Das ist bekanntermaßen beispielsweise an Meeresufern oder aber im Hochgebirge der Fall, wo ganz unterschiedliche Sphä- ren, Stofflichkeiten und deren diverse Aggregatzustände – Luft, Wolken, Was- ser, Gestein – in einer schier unermess- lichen Weite und Konzentration unmit- telbar aufeinandertreffen und sich vermischen. In ihrem seit 2015 ange- wachsenen, umfassenden Werkkomplex Nordland hat sich Conny Luley mit diesem Phänomen der gegenseitigen Durchdringung des Atmosphärischen befasst, ohne dass hier im eigentlichen Sinne je konkret bezeichenbare Orte, Topografien und Landschaften ent­ standen wären. In der Tat stellte eine Schiffsreise zum Polarkreis einen ersten Ausgangspunkt dieser mehrjährigen, konsequenten Arbeitsphase dar. Die gewonnenen Eindrücke und Erinnerungen verselb­ ständigten sich im Atelier und mit fortschreitender Entwicklung der Bild- auffassung jedoch bald grundlegend. Standen so am Beginn der Nordland-Reihe zunächst noch in sich geschlosse- ne Farbflächen, die als homogen auf­ trocknende Emulsionen den gesamten Malgrund verdichtet hatten, lösten sich die Kompositionen in der Folge zuneh- mend zu transparenten Lasuren in reduzierter Farbigkeit auf. Mehr und mehr wandelte sich die Farbmalerei zur Lichtmalerei. Die entstandenen Trans- parenzen erzeugen dabei nicht nur eine gegenseitige Durchlässigkeit von Farb- schichten und Malmittel, sondern auch Durchlässigkeiten als eine Art von Membranen verschiedener Wahrneh- mungssinne. Seh- und Farbsinn, Bewe- gungs- und Hörsinn verbinden sich gleichermaßen zu einem synästheti- schen Ganzen. Aber welche Farbe hat die Stille denn nun wirklich, klingt sie wirklich blau? 1 Unwillkürlich drängen sich da im kultur- historischen Kontext – die seinerzeit vielbeschworene Blaue Blume hin oder her – Analogien zur Geisteshaltung der deutschen Frühromantik auf, als etwa der Dichter und Philosoph Novalis zu meinen glaubte, dass die Poesie getrost alle Wunden heile, die der Verstand geschlagen habe. Seine radikale Forde- rung nach einer allumfassenden Ro- mantisierung der Welt muss allerdings nach wie vor sehr zeitgemäß anmuten, wenn die »Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Roman- tisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar.« 2 So führte auch die über eine lange Zeit- dauer hinweg konsequente Arbeits­ weise Conny Luleys dazu, dass eine Rei- he von Leinwänden entstanden ist, die sowohl für sich als singuläre Tableaus wahrgenommen werden können, als auch im Übersprung von einer Darstel- lung zur nächsten oder umgekehrt zur vorhergehenden. Einem geradezu filmi- schen Ablauf gleich – slow forward or rewind – vermögen sich in diesen Fällen die Einzelbilder zu einem einzigen Bild­ raum zusammenzuschließen, die ver- meintlich definierten Anfangs- und End- punkte des Gemalten sogar in einem vorgestellten optisch-visuellen Loop un- endlich andauernder Naturempfindung aufgehen. In unterschiedlichen Sehge-

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