Leseprobe

143 Atomgemenges, findet er ganz sich selber wieder. […] Keine Begegnung der Seelen hat statt, keine sinnvolle, dauernde Verknüpfung umklammert und bindet, nichts Tragisches zwischen ihnen geschieht.« 6 Fern der Tragik herrscht nur die blinde Bewegung seelenloser Körper, die im Film auf die Ebene von anorganischen Dingen sinken. Das mechanische Auge der Kamera macht keinen Unter- schied zwischen Mensch und Objekt, beide sind im zweidimensionalen Filmbild zu »existenzlosen Larven« reduziert. DIE STRASSE galt Kracauer als »eines der weni- gen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind.« 7 Wie Lukács schreibt Kracauer dem Film medienspezifische Eigenschaften zu, die in der Handlung selbst Form annehmen – »eine stumme Welt, in der kein Wort vom Menschen zum Menschen geht, sondern die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Alleinsprache ist.« 8 Als Kracauer 1924 zum Leiter des Filmressorts der Frankfurter Zeitung befördert wurde, begann die goldene Zeit der Weimarer Filmkritik, die bis zu Beginn des NS-Regimes 1933 dauern sollte. Kracauer verfasste in diesen Jahren mehr als 700 Einzelrezensionen und Essays zum Film und wurde zum einflussreichsten Filmkritiker in Deutschland. Im Unterschied zu zeitgenössischen Kollegen –Willy Haas, Kurt Pinthus, Hans Feld, Lotte Eisner, um nur einige zu nennen – entwickelte Kracauer eine kritische Praxis, die sich aus der philosophischen Tradition herleitete und ihre Nähe zur Frankfurter Schule nicht verleugnete. Viele seiner Einzelkritiken dienten ihm als Anlass für Refle- xionen nicht nur über die ästhetischen Ausdrucksformen des Films, sondern auch über die psychologischen und soziologischen Bedingungen filmischer Erfahrung im Kino. In der Redaktion des Film-Kurier : Ernst Jäger, G. O. Strindt, Richard Otto, die drei Sekretä- rinnen Hans Felds und Ernst Jägers (linke Tischseite); Hans Feld, Lotte H. Eisner, Lucien Mandelik, Georg Herz- berg (rechte Tischseite) | Kat. 458

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1