Leseprobe

215 Ohne Zweifel zählt dieses Blatt zu den heimlichen Stars des Berliner Kupferstichkabinetts. Das ungewöhnliche Motiv – ein Stachelschwein – und seine ebenso effekt- wie gefühlvolle Darstellung machen seine besondere Popularität aus. Scheinbar hielt der Zeichner das Tier hier wie in einem photographischen Schnappschuss genau im Augenblick des Erschreckens fest. Alles an ihm spreizt sich in höchster Alarmbereitschaft. Mit ausgefahrenen Krallen stemmt es die Füße in den nicht näher definierten Untergrund, die Augen sind aufgerissen, die langen Stirnhaare stehen im großen Schwung nach oben, und die Stacheln sind als Warnsignal an einen potenziellen Angrei- fer aufgestellt. Besonders das Stachelkleid beeindruckt in seiner dreidimensionalen Darstellung der in alle Richtungen abstehenden Stacheln, die mit kurzen und längeren Strichen des schwarzen und weißen Kreidestifts angegeben sind. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass der Zeichner das Tier offenbar nicht nach der Natur, also etwa einem Stachelschwein in der Ménagerie Royale gezeichnet hat, sondern nach einer Ölstudie von Pieter Boel (1622–1674), die heute im Musée des Beaux-Arts in Rennes aufge- wahrt wird. 1 Der flämische Künstler allerdings skizzierte sehr wohl Tiere direkt vor Ort im neu eingerichteten Zoo von Ludwig XIV. in Versailles. Zwei Studienblätter, eines im Louvre und eines, das sich ehemals in der Sammlung Van Regteren Altena in Amsterdam befand, bezeugen, dass er dort auch Stachelschweine und ihre besonderen Verhaltensweisen zeichnerisch studiert und festgehalten hat. 2 Indem Boel nach lebenden und nicht nach ausgestopften, toten Tieren zeichnete, revolutionierte er die Tiermalerei seiner Zeit, da er so nicht nur die Erscheinung des Tieres an sich, sondern auch seine Bewegungen und Ausdrücke, wie hier das Erschrecken und Warnen, überzeugend und lebensnah wiedergeben konnte. Der etwa zwei Generationen jüngere Oudry, der selbst auch nach lebenden Tieren skizzierte, erkannte den besonderen künstlerischen Wert dieser Studien und der auf ihrer Basis für die Manufaktur der Gobelins in Beauvais entstandenen Ölskizzen Boels, auf die er wiederum seit 1726 als Maler und seit 1734 als Direktor der Manufaktur direkten Zugriff hatte. Seine Zeichnun- gen nach den Vorlagen Boels steigern deren Naturnähe über ihren dokumentarischen Charakter hinaus ins künstlerisch Effektvolle. Oudrys Stachelschwein sprüht geradezu vor Leben und Ener- gie und scheint dabei fast nur aus Stacheln zu bestehen. Das Berliner Kupferstichkabinett bewahrt weitere Studien einzelner Tiere, wie Hund, Affe (Abb.), Luchs, Kormoran und Schopfente von der Hand Oudrys, die wohl teilweise nach Vorlagen anderer Künstler, teilweise direkt nach den Tieren gezeichnet sind. | DK 1  Stachelschwein, Leinwand, 75,2×91,3 cm, Inv.-Nr. 4041. | 2 Pieter Boel, Studien eines Stachelschweins, Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 10713; RF 10742; RF 36732; ders., Studien eines Stachelschweins, Versteigerung Christie’s, London 10. Juli 2014, Los-Nr. 14. schwarze Kreiden und weiße Kreide, auf blauem Naturpapier 22,1×26,9 cm KdZ 1812 Provenienz: alter Bestand, erworben vor 1878 Literatur in Auswahl: Arnolds 1947, S. 38; Opperman 1977, D. 739; Kat. Berlin 1994, S. 319–320, Kat.-Nr. VI.17 (Margret Kampmeyer-Käding; mit älterer Literatur) Jean-Baptiste Oudry, Affe (Meerkatze), um 1740, schwarze und weiße Kreide, auf blauem Natur­ papier, 22,1×26,9 cm, Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin (KdZ 1709)

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