Leseprobe

191 Simon Vouet kann ohne Zweifel als eine der einflussreichsten Personen in der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts gelten. Als junger Maler ließ er sich 1613 in Rom nieder, wo er sogar zum principe (Vorsitzenden) der dortigen Akademie, der Accademia di San Luca, gewählt wurde. Während seines Aufenthalts in der ewigen Stadt, der insgesamt 14 Jahre dauern sollte, nahm er zahlreiche Anregungen aus der Kunst der Carracci sowie Caravaggios auf. 1627 kehrte er auf Drängen von König Ludwig XIII. nach Paris zurück, wurde dort zum Hofmaler, premier peintre du roi (der erste Maler des Königs) ernannt und bekam als solcher zugleich auch ein Wohnrecht im Louvre zugesprochen. Wie auch bei seinen italienischen Kollegen, etwa in der Werkstatt der Caracci üblich, bereitete Vouet seine Gemälde mit vielen einzelnen Studien vor. Auf diese Weise konnte er bestimmte Figu- ren aus einer Komposition herausgreifen und ihre jeweilige Körperhaltung, zuweilen auch ihre Mimik und Gestik, sowie den Faltenwurf ihres Gewandes und das Licht- und Schattenspiel präzi- sieren. Dies war auch der Zweck dieses Studienblattes einer nach links gewandten knienden Frau, die vor sich ein stehendes Kind hält. Es entstand im Hinblick auf das große Altargemälde »Das Martyrium des Hl. Eustachius« in der Kirche Saint-Eustache in Paris. 1 Das genreartig anmutende Motiv der zuweilen knienden, zuweilen kauernden Frau mit Kind hat Vouet öfter in seinen Gemäl- den verwendet; hier kommt die Figurengruppe als Repoussoir im Vordergrund rechts im Bild zum Einsatz und lädt den Betrachter ein, in ähnlicher Weise dem dargestellten Geschehen beizuwohnen. Auf dem Studienblatt hat der Künstler insbesondere imGewand mit seiner raffinierten Schul- terpartie sowie in der mit einem Kopftuch umschlungenen Frisur die Licht- und Schattenzonen genauer festgelegt. Dabei bot ihm das blaue Papier einen Mittelton, von dem aus er mit der Kohle die Konturlinien und flächig schraffierten Schatten, mit dem weißen Stift sparsam verwischt die Lichter setzen konnte. Die Figur des Kindes bleibt eher vage und mit zahlreichen erkennbaren Pentimenti in einem vorläufigen Stadium stehen. Das Motiv ist quadriert, um es in anderemMaß- stab zu übertragen, vielleicht direkt auf die Leinwand zur weiteren Ausführung in der Malerei. Simon Vouet nahm zahlreiche Aufträge an und betrieb eine große Werkstatt, in der viele der wichtigsten französischen Künstler des 17. Jahrhunderts, darunter Charles Le Brun, Eustache Le Sueur und Pierre Mignard ihre Ausbildung absolvierten. Das Altarbild »Das Martyrium des Hl. Eustachius«, für welches die Studie einer knienden Frau mit Kind entstand, wurde 1638 von Vouets Schüler und SchwiegersohnMichel Dorigny als Druckgraphik reproduziert (Abb.). Auf demKup- ferstich erscheint unsere Figurengruppe aufgrund der Umkehrung im Druckprozess seitenver- kehrt zur Darstellung im Gemälde in der linken unteren Ecke. | DK 1 Öl auf Leinwand, 300×260 cm, Paris, Kirche Saint-Eustache. Kohle, mit weißer Kreide gehöht, zur Übertra- gung mit schwarzem Stift quadriert, auf blauem Naturpapier beschriftet (signiert?) unten links mit schwarzer Kreide: S. Voüet 29,2×21,5 cm KdZ 1817 Provenienz: alter Bestand, erworben vor 1878 Literatur in Auswahl: Klessmann 1963, S. 37–39; Prat 2013, S. 246 Michel Dorigny nach Simon Vouet, Das Marty- rium des Hl. Eustachius, Kupferstich, 52,7×40 cm, Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin (Inv.-Nr. 654-67)

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1