Katalog

227 Berlin war neben Düsseldorf, Hamburg und Köln ein wei- teres Zentrum des Neuen Deutschen Designs. Wie keine andere Stadt in der Bundesrepublik bot Westberlin Frei- raum für eine Subkultur, die nach den politischen Verwer- fungen des Deutschen Herbstes versuchte, sich gegen die normativen gesellschaftlichen Strukturen aufzulehnen. Dabei wurde auch die Kulturlandschaft radikal aufgebro- chen. Junge Kreative organisierten sich, um aus alten Fabriken neue Theaterräume zu machen. Programmkinos und Galerien entstanden, von denen mittlerweile einige etablierte Institutionen darstellen. Die Bewegung machte auch vor dem Design nicht halt. Zum einen galt es, sich vom Diktat des Funktionalismus zu lösen, zum anderen von der Industrie mit ihrem Profitdenken. Das Neue Deut- sche Design suchte seine Freiheit in der Annäherung an die bildende Kunst mit Installationen, Improvisationen und Techniken wie der Collage. Die Werke verarbeiteten sym- bolische Ausdrucksmittel, lieferten Assoziationen und transportierten letztlich politische Aussagen. Die Ausstellung »Kaufhaus des Ostens« im Jahr 1984 beruhte auf einem Studentenprojekt der Hochschule der Künste, das die bisher vereinzelt in Erscheinung getrete- nen Umnutzungsansätze im Sinne des Objet trouvé zur tragenden Entwurfstechnik erhoben hatte. Es sollten keine neuen Gegenstände entworfen werden, sondern unter Verwendung von herkömmlichen Produkten, Fertigteilen, Werkstoffen und Halbzeugen neue Möbel und Haushalts- gegenstände entstehen. Mit der Neuentdeckung von Alltagsgegenständen, die in einen anderen Zusammen- hang gebracht wurden, ergaben sich automatisch asso- ziative Mehrdeutigkeiten. Lothar Vogt beispielsweise ge- staltete aus einem Ziegelstein als Fußteil, vier Tomaten­ spiralstäben und einer Glasplatte einen Tisch, oder Axel Stumpf ließ ein Metallsieb, aufgestellt mit langen Befesti- gungsschrauben, zur Obstschale mutieren. Brachte die Präsentation in der Hochschule selbst dem »Kaufhaus des Ostens« wenig Anerkennung, so war der Erfolg bei den folgenden Ausstellungen im Berliner Merve-Verlag, in den Designgalerien Strand in München, Möbel perdu in Hamburg und schließlich 1985 wieder in Berlin in den Räumen des Werkbundarchivs, dem heutigen Bröhan-Museum, nicht aufzuhalten. Die populärste Arbeit führte Stiletto mit »Consumer’s Rest Lounge Chair« von 1983 vor. Den Supermarkt-Einkaufs- wagen, das Objekt der Konsumgesellschaft, transformier- te der Künstler mit wenigen Eingriffen und Veränderungen zu einem Sessel. Durch Material und Formgebung reflek- tiert »Consumers Rest« Freischwinger der Bauhausära und Drahtsessel wie Harry Bertoias »Wirechairs« und macht so aus dem Konsumkultgegenstand eine Design­ ikone. Bei einer Aktion gab Frank Schreiner den »Consu- mer’s Rest Lounge Chair Nr. 9« heraus, lackiert in Gold. Dem Einkaufswagen folgten 1985 Sofakissen aus Ma- schendraht und dem feineren Fliegendraht oder ein Be- steck aus Armierungseisen für die »neue deutsche Ge- mütlichkeit«.   ST Literatur Kat. Schrill Bizarr Brachial. Das Neue Deutsche Design der 80er Jahre, hrsg. von Tobias Hoffmann/Markus Zehentbauer, Bröhan-Museum Berlin, 2014/15), Köln 2014. | Kunstforum International, Möbel, Mode, Kunst und Kunstgewerbe. Das deutsche Avantgarde-Design, hrsg. von Dieter Bechtloff, Bd. 82, 1985/86. Stiletto Einkaufswagenchip | 2013 Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin

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