Katalog

224 | 225 | KunstWelten | Carl Hasenpflug   | Kloster Walkenried Der Weg des wagemutigen Wanderers durch die Klosteranlage wäre beschwerlich, denn er führt über Stolpersteine und mögliche Fallgruben, die sich unter einer dünnen Schneedecke verbergen. Keine Menschenseele ist zu sehen, nur die aufgerichtete Grabplatte eines Ritters, für dessen Seelenheil in der Klosterkirche einmal gebetet wurde. Deren Ruinen zeigt Hasenpflug aus naher Distanz und ganz monumental. Der Blick führt auf die Innenseite der Westfassade, hinweg über das ehemalige Seitenschiff, an dessen Ausmaße noch die Pfeilersockel erinnern. Das im Südharz gelegene Walkenried ist das drittälteste deutsche Zisterzienserkloster und um 1300 vollendet worden. Im 18. Jahrhundert diente die Anlage als Steinbruch, ihre Erhaltung war auch zur Entstehungszeit des Gemäldes akut gefährdet. Hasenpflug dürfte das gewusst haben, sein Bild kann als ein Zeugnis für das wissenschaftliche Rekonstruktions- und Dokumentationsbedürfnis der Romantiker gelesen werden. Es erzählt aber auch etwas über das spirituelle Verhältnis des Künstlers zu Nähe und Ferne und zum Kreislauf von Vergehen und Werden. Das sakrale Ensemble wird zum Symbol einer untergegangenen Epoche, das Denkmal menschlicher Leistungsfähigkeit wird durch die Natur rückerobert, deren Rhythmus auch dem Menschen ein Maß bestimmt. Durch die winterliche Schneedecke drängen unzählige Pflanzensprösslinge, in jeder Nische, auf jedem Vorsprung, aus jeder Spalte des Mauerwerks erwächst neues Leben. Die Burgruine im Dunstschleier auf dem Berggipfel im Hintergrund ist eine rein phantastische Zutat. Sie zeigt die Sehnsucht nach der Ferne, die Aufbruchsstimmung und den Entdecker­ drang des »Wanderkünstlers« an. Hasenpflug veranschaulicht dabei ein romantisches, aber auch allgemein menschliches Dilemma, denn mit dem Erreichen jedes Ziels wird die Ferne zur Nähe, die Neugier zur Kenntnis. Die nächste Wanderung, die nächste Etappe einer aben- teuerlichen Lebensreise wird folgen: »Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.« Carl Hasenpflug (1802–1858) Kloster Walkenried 1850 Öl auf Holz 89 × 75 cm Auf zu neuen Ufern

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